Geniekult und Gewalt: Radikale Entwertung und übertriebene Bewunderung

Nr. 33 –

Die Macht der männlichen wenigen: Wie die Idee des Künstlers als aussergewöhnliches Genie zu Missbrauch und fehlender Solidarität unter den Betroffenen führt. Ein erweiterter Erfahrungsbericht.

«Er sieht sie nicht. Denn für ihn gibt es nichts zu sehen.» Diesen Satz äussert die US-Schriftstellerin Toni Morrison im Kontext des Rassismus. Ich kann ihn jedoch auch unmittelbar mit dem Sexismus und der Gewalt gegen Frauen verknüpfen. Nicht hinsehen. Nicht zuhören: uralte Waffen im Krieg gegen marginalisierte Menschen. Interessanterweise ist die ursprünglich von afroamerikanischen Aktivistinnen lancierte #MeToo-Debatte letztes Jahr von Frauen aus dem Filmbereich neu entfacht worden, einer Branche, in der die Sicht- und Hörbarkeit die Grundvoraussetzung des Überlebens sind.


Es ist nun über dreissig Jahre her. Ich war eine junge Schauspielerin und trat meinen ersten – und letzten – Job beim WDR in Köln an. Eine tragende Rolle, ein gut bezahltes Engagement. Bekannte KollegInnen, ein mittelmässiges Drehbuch, jedoch mit dem Versprechen, dass während der Arbeit am Set alles diskutiert und geändert werden könne – der Regisseur nannte es «work in progress». Es sollte doch allen gut gehen. Diese zwei Monate auf Dreh veränderten aber mein Leben. Und sieben Jahre später würde ich meine Laufbahn als Schauspielerin mit der Beschimpfung eines Berliner Produzenten beenden: «Steck dir meine Titten in deinen blöden Arsch.»

Während des Drehs beim WDR gab es sprachliche, emotionale und physische Gewalt und die Isolation in einem Team, in dem sich fast alle von mir distanzierten. Mein Körper gehörte nicht mehr mir, er wurde zu einem Objekt, und die versprochene diskursive Offenheit verkehrte sich in ihr Gegenteil. Unser Redaktor stand früh am Morgen am Set und gab Sprüche zum Besten: «Eine Schauspielerin hat ohne Widerrede zu tun, was ich sage. Eine Nutte macht auch, ohne zu mucken, die Beine breit.» Oder: «Die kann schon versuchen, mich abzuwerfen. Steh ich einfach wieder auf und nehm sie von hinten.»


Vieles wurde im Lauf der #MeToo-Debatte diskutiert: Wo liegt die Grenze zwischen neuer Prüderie und Kritik an der Gewalt? Welche gesellschaftlichen Bedingungen machen sexuelle Gewalt und Ausbeutung am Arbeitsplatz möglich? An welchem Punkt kippt Hilflosigkeit in Kooperation? Warum haben sich die Frauen damals nicht gewehrt?

Ich setzte mich zur Wehr. Ich diskutierte. Je mehr ich jedoch argumentierte, desto heftigeren Widerstand rief ich hervor. Bis es schliesslich mit dem Einverständnis des Regisseurs zur konkreten Vergewaltigungsandrohung durch einen Kollegen kam. Ich möchte nicht behaupten, dass ich immer recht hatte. Vermutlich hatte ich oft unrecht. Meine männlichen Kollegen diskutierten ebenfalls. Aber auf sie wurde gehört. Ihre Bedürfnisse wurden weitgehend respektiert.

Was mich damals korrumpiert, bisweilen auch zur Kooperation gedrängt hatte, war jedoch nicht die Aussicht auf einen Job, nein, es war der vorherrschende Kunst- oder eher Künstlerbegriff (die weibliche Form können wir uns an dieser Stelle schenken). Es war der Begriff des Genies, der damals unser Verständnis darüber, was ein guter Künstler zu sein hatte, beherrschte, genial war die Bezeichnung, die jeden Zweifel ausräumte. Die Wahrheit über die Kunst manifestierte sich im abgründigen Genie, das uns zugemutet wurde und das aufgrund seiner intensiven Schaffenskraft nicht anders konnte, als rumzuschreien, emotionale, aber auch physische Gewalt anzuwenden, in narzisstischer Manier andere durch den rasanten, unberechenbaren Wechsel von radikaler Entwertung und übertriebener Bewunderung willenlos zu machen. Oder dir einfach durchzugeben: Machst du nicht, was ich will oder wie ich es will, bist du als Künstlerin und als Frau ein Nichts. Denn nur der durch Demütigung und Misshandlung hervorgerufene Schmerz kann das unter bürgerlicher Bravheit verschüttete Talent blosslegen.

Anfang der neunziger Jahre probten wir in Basel ein Stück von Rainer Werner Fassbinder. Mit von der Partie war ein Schauspieler, der einst zur sogenannten Fassbinder-Familie gehört hatte. Das war damals auch mein Traum. Zur Familie eines Genies zu gehören. Nie wieder um die Legitimation als Künstlerin kämpfen zu müssen. Geborgen in der Aura eines genialen Originals würde ich zum unverzichtbaren Personal des Kunstolymps gehören und endlich in Ruhe arbeiten dürfen. Und dieser Schauspieler erzählte uns vom Preis, den man für dieses Privileg bezahlen musste. Obwohl Fassbinder in eindrücklichster Weise den alltäglichen Faschismus zeigte, der sich wie Grünspan in den Seelen der normalen Menschen abgelagert hatte, liess er selber bezüglich Macht und Gewalt nichts aus. Was er so vehement kritisierte, wendete er persönlich an: psychische und physische Misshandlung, sexuelle und emotionale Abhängigkeit, sadistische Manipulation – alles war drin.

Wir sassen also um den Tisch, tranken Tee, lauschten den Erzählungen unseres Kollegen, schauten uns im Fernseher US-Soldaten an, die flüchtende irakische Truppen aus der Luft bombardierten, und unterhielten uns darüber, warum es uns nicht gelingen wollte, diese typisch fassbindersche Melange aus sadistischer Sexualität und faschistischer Politik auf die Bühne zu bringen – als plötzlich der Satz fiel, dass es wohl einer so extremen, kompromisslosen Persönlichkeit bedürfe, wie sie Fassbinder nun mal gewesen sei, um wahre Kunst zu produzieren. Niemand widersprach. Dazu passt die Aussage von Fassbinders Lieblingsschauspielerin Hanna Schygulla: «Es war wie in einem Labor, in dem herausgefunden werden soll, wie Menschen sich unter grossem Druck verhalten.» Und Fassbinder entgegnete auf den Vorwurf der Verklärung von Gewalt: «Jemand muss sich in die tiefsten Tiefen dieser Gesellschaft begeben, um sich für eine neue zu befreien oder sich befreien zu können. Dass jemand, der das tut, faszinierend ist, ist ja klar.»


«Genie» ist ein romantischer Begriff, der im Zuge der Aufklärung an Bedeutung gewonnen hat. Der Mensch war, befreit aus der göttlichen Unmündigkeit, zu einem schöpferischen Individuum geworden. Ein Genie ist jemand, der Regeln bricht, der Normen missachtet, der aus dem Nichts, quasi aus dem Unbewussten heraus noch nie Dagewesenes, Originäres schafft. Ein Genie ist aber laut der deutschen Literaturwissenschaftlerin Barbara Besslich auch abhängig. Denn wenn keine AnhängerInnen vor dem Genie niederknien, kann seine Grösse nicht erkannt werden. Also ist Genie auch eine Frage der Zuschreibung.

Und genau an dieser Stelle versagte damals die Solidarität, vor allem die unter den Frauen. Denn es gab sie ja auf den Filmsets: Script, Maske, Ausstattung, Schauspielerinnen, Aufnahmeleiterinnen, Produktionsassistentinnen. Aber ausser in wenigen Ausnahmen gab es kaum gegenseitige Unterstützung: Wir wagten es oft nicht, die Entwertung einer Frau durch einen Mann infrage zu stellen. So antwortete auch Hanna Schygulla auf die Frage, ob die SchauspielerInnen sich denn untereinander nicht unterstützt hätten: «Ein bisschen. Aber niemals vor ihm, nie, wenn Fassbinder dabei war. Es tat weh. Ich habe oft einfach weggeschaut.» Und die US-Künstlerin Judy Chicago schreibt über ihre Studienzeit an der Kunstakademie in San Francisco: «Ich kann mich gut erinnern, dass die Männer Studentinnen abfällig als ‹Gänse› oder als ‹Fotzen› bezeichneten. Hin und wieder stimmte ich ihnen zu. Ich fühlte mich schuldig, aber ich wollte in sein. Langsam und unbewusst begann ich die Verachtung der Gesellschaft für Frauen zu verinnerlichen.» Auch ich erinnere mich sehr gut an dieses Gefühl des Verrats und der Entfremdung, das Chicago so präzise beschreibt, dieser Wunsch, in zu sein, und die Bereitschaft, eine andere Frau – oder auch mich selbst – über die Klinge springen zu lassen. Ich nehme das Gefühl in einer Deutlichkeit wahr, als wäre es gestern gewesen.

Chicago spricht aber auch vom Bedürfnis, als Künstlerin ernst genommen zu werden. In einem Betrieb, der nicht nur durch männliche Dominanz, sondern auch durch das Dogma des genialen Künstlers geprägt war, dem Genie, das sich alles erlauben durfte, ja geradezu musste, und das zur Höchstleistung verpflichtet war. Diesem Druck waren alle ausgesetzt. Ich behaupte, auch die mächtigen Männer. Nicht zufällig erfreute sich damals die Biografie von Alfred Hitchcock grosser Beliebtheit. Denn der Altmeister provozierte durch seine Aussage, SchauspielerInnen müsse man wie Vieh behandeln und wie Vieh benutzen.

Auch ich verspürte den Wunsch, eine ernsthafte Künstlerin zu sein. Ich wollte – obwohl Anfängerin mit nicht perfektem Busen, Bauch und Po und mit Kinderwunsch – Anerkennung bekommen. Eine sein, der man hin und wieder ins Gesicht und nicht nur in den Ausschnitt starrt, der man einen intellektuellen Gedanken und nicht nur Tratsch aus dem Privatleben zutraut. Und genau an diesem Punkt setzte diese verstörende innere Stimme ein: Bist du sicher, dass sie nicht recht haben? Bist du begabt, radikal und hingabefähig genug? Ist es nicht dieser durch Misshandlung und Demütigung hervorgerufene Schmerz, der dir den Zugang zu deinem Talent, zu deiner schöpferischen Kraft eröffnet?


«Verkauf deine Eleganz an alle die Plagegeister. Sie bezahlen dich teuer – es ist ein Triumph!» Toni Morrison beschreibt treffend, was von uns erwartet wurde. Traf ich in den achtziger Jahren einen Regisseur, hörte ich bisweilen den Satz: «Ich hab eine emanzipierte Rolle für dich.» Mit der Zeit lernte ich diesen Satz zu übersetzen: Lass deinen Intellekt, deine Empfindlichkeit, deine Imagination, deine Kritikfähigkeit, lass sie zu Hause, und vor allem lass deine Kleider zu Hause. Denn Emanzipation der Frau hiess damals für viele – das kann man sich heute kaum mehr vorstellen – vögeln. Präziser gesagt hiess es, nicht mehr Nein zu sagen.

Emanzipation bedeutete aber auch, sexuelles Begehren wahrzunehmen. Ängste abzulegen. Sich von moralischen Fesseln zu befreien und furchtlos und neugierig das Feld der eigenen Lüste und Begierden zu erforschen. Warum nicht? Im Kern handelte es sich um die Forderung, dass die Sexualität von der moralischen Prämisse befreit werden sollte, eine Forderung, die Angela Davis und andere universalistische Feministinnen bereits in den siebziger Jahren formuliert hatten.

Warum waren jedoch die Forderungen, die damals in Köln an mich gestellt wurden, und diejenigen, die Davis und andere Feministinnen geäussert hatten, trotz gewisser Übereinstimmungen in der Formulierung, nicht dieselben? Das Problem waren die abwesenden Drehbuchautorinnen, Regisseurinnen und Kamerafrauen, die mangelnde Vielfalt an Erzählweisen und Perspektiven. Während der Dreharbeiten argumentierte ich, dass es nicht auf den Inhalt ankomme, dass es nicht um die Frage «Vögeln oder nicht vögeln, ausziehen oder nicht ausziehen, Scham oder Brust zeigen?» gehen könne, sondern darum, aus welcher Perspektive erzählt werde. Erzählen Männer über Frauen? Frauen über Männer? Männer über Männer? Frauen über Frauen? Oder, um mit der Schriftstellerin Irmtraud Morgner zu sprechen: Wann beginnen Frauen, selber über ihr Begehren zu sprechen?

Im Grunde hab ich nur um die Einsicht gekämpft, dass es sich im besagten Drehbuch um eine männliche Fantasie handle und die weibliche Protagonistin lediglich ein Objekt sei. Dass in diesem Drehbuch keine Wahrheit dargestellt werde, sondern bloss eine Erzählperspektive, eine subjektive Fantasie. Denn Erzählperspektiven und Fantasien sind verhandelbar, die Wahrheit ist es nicht. Und ich wollte nicht akzeptieren, dass mein Körper im Namen einer irrtümlichen Wahrheit widerspruchslos zum Objekt der Missachtung, Demütigung und Gewalt wurde. Ein Körper, den man andererseits wegen seiner angeblichen Schönheit bewunderte und kommerzialisierte. Im Namen einer Wahrheit, die, durch den genialen Künstler autorisiert, nicht infrage gestellt werden durfte.

Einwände ernteten im Allgemeinen konsterniertes Kopfschütteln: Bist du eine dieser Schwanz-ab-Emanzen? Bist du als Kind missbraucht worden? Bist du noch Jungfrau? Nein. Nichts von alledem! Aber, wie Toni Morrison schreibt: Schönheit ist eine dünne Firnis. Und ich wollte eine solide Person mit Bauch sein.

Erst ein Dokumentarfilm, den ich 2010 auf Arte sah, öffnete mir die Augen für das, was geschehen war – ohne hier das Ausmass der Gewalt vergleichen zu wollen. Serge July und Bruno Nuytten unterhalten sich in ihrem Film «Es war einmal …» mit Bernardo Bertolucci, Marlon Brando und Maria Schneider über die Entstehungsgeschichte von «Der letzte Tango in Paris». Im Besonderen jedoch über die Umstände, unter denen die berüchtigte «Butterszene» entstanden ist. Berühmtheit erlangte diese Szene, weil Marlon Brando und Maria Schneider mit Butter als Gleitmittel Analsex hatten. Was für unsere Generation in den achtziger Jahren ein Befreiungsschlag gegen die Zwänge romantischer Liebe und eine Hinwendung zu radikaler, ja nihilistischer Freizügigkeit war – auch aus künstlerischer Sicht –, war in Wahrheit ein infamer Akt perfider Gewalt.

Bertolucci wünschte sich die Szene möglichst authentisch, das heisst mit real vollzogenem Akt. Weil er aber den Widerstand von Maria Schneider fürchtete, plante er zusammen mit Brando während eines Essens hinter ihrem Rücken ihre Vergewaltigung. Auf dem Tisch lagen eine Baguette und Butter. So kam es zur Idee. Während des Drehs nahm Brando von der Butter, die angeblich von einem Ausstatter liegen gelassen worden war, drückte sie der damals neunzehnjährigen Maria Schneider in den Anus. Laut ihren Aussagen in der Dokumentation von Nuytten und July vergewaltigte er sie.

Darauf angesprochen, sagt Bertolucci, er habe das niemals geplant. Und er habe niemals beabsichtigt, das Leben von Maria Schneider zu zerstören. Er könne ihr Leid durchaus nachvollziehen. Doch er würde es jederzeit wieder tun. «Warum?», fragen July und Nuytten offensichtlich irritiert. «Weil es der Kunst dient», erwidert der Regisseur, ohne zu zögern.


Sexismus existiert heute noch immer. Doch im Unterschied zu den achtziger und neunziger Jahren ist er nicht mehr so leicht zu fassen – und wird nicht mehr gesellschaftlich anerkannt und gestützt. Doch die strukturellen Unterschiede und Ungerechtigkeiten existieren nach wie vor: An Kunsthochschulen ist der Anteil der Studentinnen sehr viel höher, im künstlerischen Berufsleben überwiegen jedoch die Männer und die Stimmen von Männern und Frauen werden immer noch ungleich gehört und gewichtet. Lohnungleichheit und die berüchtigte gläserne Decke setzen der weiblichen Durchsetzungsfähigkeit und dem weiblichen Machtstreben auch in der Kunst unmissverständliche Grenzen.

Und dennoch ist es besser geworden. Als junge Schauspielerin unterwegs in der Szene musste ich feststellen, dass Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen weitgehend inexistent waren. Es gab Ausnahmen, ja. Aber sie waren an einer Hand abzuzählen. Von Kamerafrauen ganz zu schweigen. Es formierten sich zwar professionelle Frauengruppen, die begannen, um ihre Rechte zu kämpfen, und ein Berufsverband für SchauspielerInnen in Film und Fernsehen wurde gegründet. In den neunziger Jahren entstanden dann zahlreiche neue Fachhochschulen, an denen sich nun vermehrt Frauen in der Regie, im Drehbuchschreiben und an der Kamera ausbilden liessen, Frauen drängten auf den Markt. Wie sehr sich dadurch das Klima auf den Filmsets gerade auch in Bezug auf Sexismus verändert haben muss, kann sich nur vorstellen, wer die «guten alten Zeiten» gekannt hat. Frauen waren nun auch in Machtpositionen präsent, brachten eigene Themen, Erzählweisen und Ästhetiken ein: Sie konnten nicht einfach weiterhin übersehen und marginalisiert werden.

Und just Joseph Beuys, der trotz seines Anarchismus das Urbild eines genialen Künstlerfürsten und patriarchalen Kunstdozenten gewesen war, stellte mit seiner Aussage «Jeder Mensch ist ein Künstler» die Voraussetzung infrage, die ihm letztlich seinen eigenen Status ermöglicht hatte: die Macht der männlichen wenigen! Nun ist heutzutage der Geniebegriff zwar noch nicht aus der Welt, aber dermassen inflationär im Gebrauch und zur Alltagsvokabel geworden, dass er sich gemäss Barbara Besslich glücklicherweise für ästhetische Debatten verbraucht hat. Und die Künstlerin Marie Rotkopf ergänzt: So wenig wie Religion etwas mit Gott zu tun habe, habe das romantische Genie mit Kunst zu tun.

Gehört jedoch diese Argumentation – oder die Kraft des Begriffs – wirklich zum alten Eisen? Oder gebe ich mich lediglich gegen aussen rebellisch? Und nähre in mir drinnen weiterhin den Glauben, dass es dieses gewisse Quantum Destruktivität braucht? Den Nihilismus, die Kreatürlichkeit, den Wahnsinn, den Schrecken (frei nach Marie Rotkopf)? Bin ich mir ganz sicher, dass es dieses auserwählte, abgründige, zutiefst verinnerlichte Arschloch nicht mehr gibt, das aus mir eine gute Künstlerin macht?

Und wie verhält es sich mit dem eigenmächtigen Regelbruch? Ist er tatsächlich zu verurteilen? Oder ist er nicht zweifelsfrei das Signum richtig guter Kunst? Ja. Aber nicht zum Preis von Despotismus und Gewalt.


Laut Bernardo Bertolucci und Marlon Brando wurde Maria Schneider allein ihr junges Alter zum Verhängnis. Ihre Unbeholfenheit, ein Drehbuch richtig einzuschätzen. Ihre Unfähigkeit, mit dem Erfolg umzugehen. Als sie Jahre später Bernardo Bertolucci in Japan wiederbegegnete, war ihr Kommentar: «Diesen Mann kenne ich nicht.» Der selbstbewusste Satz ist jedoch eine Täuschung. Maria Schneider kam nie über die Gewalttat hinweg, die ihr von Bertolucci und Brando mit der Unterstützung des ganzen Filmteams angetan worden war. Ja, die Kunst hatte ihre Ordnung. Und die kam von oben.

Johanna Lier (55) lebt in Zürich. Sie begann ihre Laufbahn als Schauspielerin in Film und Theater. Heute arbeitet sie als Dichterin, Journalistin und Dozentin. Im Frühjahr 2019 erscheint ihr zweiter Roman. www.pillowbook.ch