Digitale Sterbeindustrie: Nachrichten aus dem Jenseits

Nr. 21 –

Twittern noch nach dem Tod: Verschiedene Plattformen versprechen das ewige Leben im Netz, wenn wir unsere Daten hinterlassen.

Gedankenverloren scrollte ich durch meine Benachrichtigungen auf Facebook, da sah ich es: «R. I. P.» hatte jemand am Tag zuvor auf die Pinnwand des Onkels, nennen wir ihn Konrad, gepostet. Die Nachricht von seinem Tod traf mich unerwartet. Keine Woche war es her, dass ich von seiner Krebserkrankung erfahren hatte. Es könne sich nur um ein Missverständnis handeln, dachte ich. Zu abstrakt und unpersönlich schien mir das digitale Medium, um als Überbringer dieser traurigen Nachricht ernst genommen zu werden. Aber während ich am Wahrheitsgehalt der drei Buchstaben zweifelte, hatten sie bereits ihre eigenen Kreise gezogen: Auf der Pinnwand erschien ein Abschiedspost nach dem anderen.

Trauern in der Onlinecommunity

So schnell wie Konrads Tod gekommen war, hatte auch Facebook auf diese Neuordnung reagiert: Sein Profil war in einen «memorialized account», ein «Konto im Gedenkzustand», umgewandelt worden. «Remembering Konrad Moser» war auf der Seite zu lesen. Darüber in Englisch: «Wir hoffen, die Menschen, die Konrad lieben, finden Trost in den Dingen, die hier geteilt werden, um an ihn zu erinnern und sein Leben zu feiern.» Facebook hat diese Funktion vor etwa zehn Jahren eingeführt. Problemlos funktionierte sie nicht immer: Im Jahr 2016 wurden zwei Millionen der 1,8 Milliarden Accounts versehentlich «memorialized», unter anderem der von Mark Zuckerberg selbst. Ein Fehler, der viele UserInnen mit der Frage konfrontierte, was mit ihren Accounts und digitalen Daten im Todesfall passieren sollte.

Mittlerweile kann man auf Facebook Vorkehrungen für den eigenen Tod treffen. So lässt sich einstellen, dass das Profil gelöscht oder einem sogenannten «legacy contact» übergeben werden soll. Diese Person erhält bestimmte Rechte und verwaltet die Seite. Sie kann beispielsweise das Profil- und Coverfoto der verstorbenen Person verändern und die neue «Tributes»-Sektion moderieren, wo der Verstorbenen gedacht werden soll. Somit bietet die Plattform einen Ort des gemeinsamen Trauerns für Personen, die sich vielleicht nicht kennen und – wie im Fall meines Onkels – aufgrund der geografischen Distanz auch nie kennenlernen werden. Trauern wird zu einem öffentlichen Akt, der nicht auf dem Friedhof, sondern online stattfindet. Die am Grab gemurmelten Worte werden zu Posts, deren AdressatInnen nicht nur die Verstorbenen, sondern auch ihre «friends» umfassen. Facebook stellt wortwörtlich ein «Medium» dar, das die Lebenden mit den Toten verbindet und unser Trauern massgeblich formt und verändert.

Pflegeanweisungen für Haustiere

Die meisten Social-Media-Plattformen bieten ähnliche Möglichkeiten wie Facebook. Zusätzlich sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Start-ups entstanden, die aus der aufkeimenden digitalen Sterbeindustrie Profit schlagen wollen. Mit ihrer Unterstützung lässt sich bereits im Diesseits das digitale Jenseits planen. So hilft Wishes Keeper bei der Organisation der letzten Wünsche, seien es Beerdigungspräferenzen oder Pflegeanweisungen für die Haustiere. Auch kann man als «verantwortungsvolle Tote» vor dem eigenen Tod veranlassen, dass Abschiedsnachrichten posthum an die Liebsten geschickt werden oder eine selbst zusammengestellte Memorialwebsite online geht – eine Option für alle dokumentationswütigen SelbstdarstellerInnen, die darüber bestimmen wollen, wie sie in Erinnerung bleiben. Digital Remains wiederum, eine Art Online-Testamentdienstleistung, ist auf die sichere Aufbewahrung digitaler Daten spezialisiert.

Dienstleistungen wie letztere werfen die Frage auf, wem die digitalen Daten der Toten gehören. In dieser Hinsicht sorgte der Tod eines Mädchens in Berlin für Diskussionen. Die Fünfzehnjährige war von einer U-Bahn überfahren worden. Unklar blieb, ob es sich dabei um Suizid gehandelt hatte – eine Frage, auf die sich die Eltern in den Facebook-Nachrichten ihrer Tochter Antworten erhofften. Das Mädchen hatte ihre Log-in-Daten mit der Mutter geteilt, diese konnte sich nach dem Unglück aber nicht mehr einloggen: Der Account war durch einen Facebook-Freund in den Gedenkzustand versetzt und somit gesperrt worden. Da Facebook den Eltern aus Datenschutzgründen den Zugriff auf das Konto verwehrte, klagten sie. Im Juli 2018 gab der Bundesgerichtshof den Eltern in letzter Instanz recht. Laut dem Urteil sollten digitale Daten gleich wie analoge Schriftstücke, beispielsweise Tagebücher oder Briefe, an die ErbInnen weitergegeben werden. Der Fall könnte zum Präzedenzfall werden, denn der Umgang mit dem digitalen Nachlass ist gesetzlich nicht klar geregelt, weder in Deutschland noch in der Schweiz.

Die Auferstehung der Toten

Einen Schritt weiter als die oben genannten Dienstleistungen gehen Services wie Lives On. «When your heart stops beating, you’ll keep tweeting», wirbt die Twitter-App, die das Onlineverhalten ihrer BenutzerInnen analysiert, um nach dem Tod dieser Personen in ihrem Namen fröhlich weiterzutweeten. Eterni.me verspricht sogar Interaktionen mit den Toten. Dafür müssten diese zu Lebzeiten Eterni.me Zugriff auf sämtliche digitale Daten gewähren. Darauf aufbauend, wird ein «intelligenter» Avatar kreiert, mit dem Hinterbliebene sowie zukünftige Generationen via Chatbots kommunizieren können. Die Plattform soll eine Art interaktive Bibliothek der Menschheit werden. Ob und wann dieses Unterfangen technologisch umsetzbar sein wird, ist ungewiss. Dennoch zählt Eterni.me bereits über 40 000 hoffnungsvolle Mitglieder. Denkt man die Idee weiter, könnten persönliche Daten auch Interaktionen zwischen Lebenden und Toten in der virtuellen Realität ermöglichen oder, mithilfe intelligenter Roboter, gar in der «realen» Realität – wie in der britischen Fernsehserie «Black Mirror», in der die trauernde Protagonistin eine KI-Version ihres verunglückten Freundes im Internet bestellt.

Diese Entwicklungen werfen die Frage auf, wie sich das Verhältnis zwischen den Lebenden und den Toten in Zukunft verändern wird und wie es sich wohl anfühlen wird in einer Welt, in der die Toten wieder zum Leben erwachen. Schätzungen zufolge gibt es heute über dreissig Millionen verstorbene Facebook-UserInnen. Eine im April publizierte Studie des Oxford Internet Institute wagte – aufbauend auf den UserInnenstatistiken von 2018 – eine Zukunftsprognose mit zwei hypothetischen Szenarien: Bei gleichbleibendem Wachstum von Facebook würde die Zahl der Verstorbenen am Ende des Jahrhunderts bei 4,9 Milliarden liegen. Sollte es keine Neuzugänge geben, könnte es bereits 2070 mehr verstorbene als lebende UserInnen geben.

Die Autoren Carl Öhman und David Watson verstehen ihre Studie nicht nur als Zukunftsprognose, sondern auch als Anlass, über die Risiken eines digitalen Erbes nachzudenken. Plattformen wie Facebook seien ein wichtiges historisches Archiv für zukünftige Forschung. Dieses Potenzial sei aber bedroht, wenn sich Daten in den Händen weniger konzentrierten. Ähnlich argumentierte vor kurzem Facebook-Mitbegründer Chris Hughes, als er dazu aufrief, Facebook endlich «aufzubrechen». In der «New York Times» übte er scharfe Kritik an der gefährlichen Machtposition seines ehemaligen Kollegen Zuckerberg, dem neben Facebook auch noch Dienste wie Instagram und Whatsapp gehören.

Diese Machtposition wird durch die digitale Trauerarbeit gestärkt – denn jedes Konto, das den Status «Gedenkzustand» erhält, schafft neue, verwertbare Daten. Wer die Erinnerungen kontrolliere, kontrolliere die Vergangenheit, merken Öhman und Watson mit Verweis auf George Orwells «1984» an. Und – auch das schreibt Orwell – wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.