«Gretlers Panoptikum»: Rettung der Wunderkammer

Nr. 26 –

Fünfzig Jahre lang sammelten Roland und Anne Gretler Dokumente zur Schweizer Sozialgeschichte. Was bleibt, nachdem ihr «Panoptikum» jetzt aufgelöst wird? Wohin mit den vielen gesellschaftlichen und persönlichen Erinnerungsstücken?

  • Fundgrube für Raumfahrtfans: Die Zeitschrift «Sowjetunion» aus den Jahren, als die Kosmonauten den Westen schockierten.
  • Hier kommt kein Zug durch: Streikposten beim Bahnhof Grenchen-Süd während des Landesstreiks am 13. November 1918.
  • Unter den Pflastersteinen liegt vielleicht der Strand: Störmittel der sozialen Bewegungen.
  • Ungleichzeitigkeit: Als die Zukunft noch rot war und die Psyche trotzdem litt.
  • Mit Stolz und Berufswerkzeug: Vorstand des Wasch- und Putzfrauenvereins im Fotoatelier, Zürich 1890.
  • Genau bezeichnen, bitte: Das Einmaleins des Archivierens.
  • Umgeben von besonderen Schätzen: Anne Gretler (Mitte) mit Sohn Roland und Tochter Sarah Gretler im Panoptikum.
  • Die Tradition des Frauenstreiks: Der Arbeiterinnenverein am 1. Mai 1911 in der Bahnhofstrasse Zürich.
  • Praxis und Theorie: Der Sammler Roland Gretler begann als Fotograf.
  • Schön beschriftet, nach eigener Ordnung: 7500 thematische Dossiers in 150 Schubladen.

I. Aus den Tiefen des Kellers

Und dann kommen diese drei Kisten im Keller zum Vorschein. Da drin finden sich, sauber geordnet in chronologischen Lagen, 1.-Mai-Ausgaben aller Schweizer Gewerkschaftszeitungen und regionalen SP-Blätter. Von den zwanziger bis in die sechziger Jahre. Ein Mitarbeiter des Schweizerischen Sozialarchivs winkt ab: Man besitze die entsprechenden Zeitungen zumeist in vollständigen Jahrgängen.

Aber in diesen Kisten findet sich ein spezifisches Thema einzigartig konzentriert. Das darf doch nicht im Altpapier verschwinden!

II. Fotos und Pflastersteine

Auf solche Schätze trifft man in «Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte» im Zürcher Kanzleischulhaus auf Schritt und Tritt, und solche Entscheidungen gilt es laufend zu fällen, jetzt, da das Panoptikum über ein Jahr nach dem Tod von Roland Gretler aufgelöst wird.

Roland Gretler hat das Archiv Mitte der siebziger Jahre angelegt, bald ständig unterstützt von Ehefrau Anne Gretler. Damit reagierten sie auch auf die Enttäuschung, dass die 68er-Bewegung, an der sie beide mitgewirkt hatten, allmählich versandete, und später kam der Antrieb hinzu, dass etwa die Gewerkschaften ihre eigene Geschichte allzu gering achteten. Die «Bildarchiv und Dokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung» genannte Sammlung wurde zur Anlaufstelle für Zeitungsredaktionen, Organisationen und AusstellungsmacherInnen, die dokumentarisches Material suchten.

In den neunziger Jahren wurde das Spektrum von der Arbeiterbewegung auf weitere soziale Bewegungen ausgedehnt. Jetzt entstand «Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte». 1993 konnte das Ehepaar Gretler das, was zuvor im eigenen Atelier versammelt worden war, in den obersten Stock des Kanzleischulhauses beim Helvetiaplatz in Zürich übersiedeln. Zusammen mit Fotografien, Büchern, Zeitschriften fügte das Panoptikum Artefakte wie Abzeichen, Henkelmänner für das Mittagessen von Arbeitern und Fahnen, Pflastersteine und die Buchbinderpresse des SP-Mitgründers Herman Greulich zu einer Gesamtschau.

III. Der Sammler und der Archivar

«Als wir uns ans Aufarbeiten gemacht haben, sind zwei Welten aufeinandergestossen», sagt Stefan Länzlinger, «und eben auch zwei Typen: der Sammler und der Archivar.» Länzlinger leitet die Abteilung Archive im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich, und als solcher koordiniert er auch die Überführung wichtiger Teile des Panoptikums ins Sozialarchiv. ArchivarInnen dokumentieren den genau umgrenzten Bestand einer Institution, eines Personennachlasses. Ihnen geht es um die systematische Ordnung, die Vollständigkeit und die Herkunft des Materials. SammlerInnen suchen eigene thematische Interessen zu befriedigen. Auch sie streben nach Vollständigkeit, doch bleibt ihre Suche grundsätzlich unabschliessbar.

Dennoch hat sich Roland Gretler natürlich ebenfalls als Dokumentalist verstanden, und seine Sammlung ist ebenfalls geordnet. Nur nach einer eigenen Ordnung, die in keinem Katalog, bloss in seinem Kopf festgehalten war. Seine Dossiers können sich auf Personen, Organisationen oder Themen beziehen. Weil ein Thema nie erschöpfend erfasst werden kann, kehrte er mit dem Panoptikum zur barocken Wunderkammer zurück. Darin versammelten einst Adlige, dann die FrühaufklärerInnen die Schätze der zunehmend globalen Welteroberung. Aus der Wunderkammer entstanden Ende des 18. Jahrhunderts strukturierte Archive und Museen.

So wie das öffentliche, wissenschaftliche Archiv historisch aus der privaten, hobbymässigen Sammlung entstanden ist, braucht es auch heute noch die SammlerInnen. «Unglaublich wertvoll und materialreich» seien die Bestände des Panoptikums, bestätigt Länzlinger, und sie werden künftig mehrere andere Bestände ergänzen. Denn nicht nur das Sozialarchiv delektiert sich an den Fundstücken, sondern auch die Zürcher Hochschule der Künste und das Historische Lexikon der Schweiz, dazu kleinere Institutionen und Privatpersonen. Für zurückgebliebenes Material werden weitere AbnehmerInnen gesucht: Ein Antiquar begutachtet die Bücherreihen, das Brockenhaus einer Stiftung holt Brauchbares ab, schliesslich bleibt der Flohmarkt. Und zuallerletzt, sich während der Räumung immer wieder schroff aufdrängend, der Papiercontainer auf dem Kanzleischulhausareal.

IV. Erinnerungskultur

Erinnerung ist eine Notwendigkeit, individuell wie sozial. Sie steht in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Letztes Jahr wurde über den Streikführer und Staatsmann Robert Grimm debattiert, wobei ein nicht ganz unbekannter SVP-Exponent seine tatsachenfreie Meinung durchzusetzen versuchte. Die öffentliche Erinnerung läuft vorwiegend personalisiert ab: Zwingli kommt vor dem zwinglianischen Fussvolk. Roland Gretler hat sich in seinem erinnernden Sammeln früh um die Menschen drunten bemüht. Ihm ging es neben den ArbeiterführerInnen auch um die Mitglieder der Bewegung und um deren Alltag.

1999 initiierte der Historiker und WOZ-Redaktor Stefan Keller zusammen mit Gleichgesinnten das Projekt eines sozialgeschichtlichen Museums in St. Gallen mit Gretlers Archiv als Grundstock. Ein Museum zur Alltags- und Sozialgeschichte, so hiess es im Konzept, könne überregional in einer «Zeit der Vergesslichkeit» ein Anziehungs- und Treffpunkt werden. Weil Gretlers Archiv stark vom Bild ausgehe, könne es der aktuellen Verlagerung von der Schrift- zur Bildkommunikation entgegenkommen. Trotz breiter Unterstützung aus der HistorikerInnen- und Museumszunft scheiterte das Projekt; Gretler tat sich immer schwerer damit, seine Sammlung loszulassen. In den letzten Jahren griff er entsprechende Anregungen und Anstrengungen, den Fortbestand des Panoptikums zu organisieren, kaum mehr auf. Die Auflösung seines Erbes ist jetzt der Familie übertragen, Anne und den Kindern Sarah und Roland. Bewundernswert, wie sie das anpacken, unermüdlich, mit ein wenig Wehmut – und viel Realismus.

Sohn Roland bedauert es, dass sich der Vater allen Hilfsangeboten, die Sammlung zu digitalisieren, entzogen hat. Sarah weist darauf hin, dass ihr Vater im eigenen Rhythmus gesammelt habe. Dazu gehörte auch die sich ändernde Bewertung von Artefakten: Auf einem Poster mit einem verblichenen Mao-Zitat hat er sich auf der Rückseite eine Auseinandersetzung um die Opfer des Maoismus notiert.

Zwangsläufig wird jetzt ein Gesamtkunstwerk aufgelöst. Die Dekomposition der Dossiers sei ein Verlust, meint Roland. Auf der andern Seite wird die Digitalisierung in verschiedenen Archiven und Institutionen eine neue Zusammenfügung der verstreuten Teile ermöglichen.

V. Ein visueller Pionier

Am einfachsten vollzieht sich die Übernahme bei den Fotografien. «Roland Gretler hat seit den sechziger Jahren das gemacht, was das Sozialarchiv damals unterschätzte, nämlich die visuelle Erinnerung zu sammeln», sagt Stefan Länzlinger. Darin liegt der grösste Mehrwert des Panoptikums fürs Sozialarchiv und die Schweizer Sozialgeschichtsforschung. Ein wichtiges Fundstück war das Archiv des Arbeiterfotografenbunds, das Gretler in den achtziger Jahren übernehmen konnte. Dazu kamen private Nachlässe, etwa derjenige des Fotografen Adolf Felix Vogel. Aus verschiedensten Quellen versammelte er Bilder von bekannten und unbekannten FotografInnen, bis hin zu gerahmten Aufnahmen aus Brockenhäusern; zudem stellte er hochwertige Abzüge aus Zeitschriften her, etwa aus der berühmten «Arbeiter-Illustrierten-Zeitung» der Weimarer Republik.

Gretler war selbst Fotograf, und er hat immer wieder über die Kraft und die Grenzen der Fotografie reflektiert. Das hat Peter Pfrunder anlässlich einer Ausstellung in St. Gallen eindrücklich beschrieben (siehe WOZ Nr. 13/2013 ).

Rund 100 000 Fotografien liegen im Panoptikum vor. Diese übernimmt das Sozialarchiv alle. Es gibt Doubletten darunter, da Gretler Fotografien kopiert und mehrfach in verschiedene Zusammenstellungen eingefügt hat. Aber das kann das archivalische Gewissen vorerst verkraften. Auch ein paar Erinnerungsstücke zur eigenen politischen Aktivität des Sammlers, etwa jene Kartons, auf denen Zürcher Fotografen als Sandwichmänner ihren Kampf gegen die Schweizer Unterstützung der Apartheid verkündeten, wandern ins Sozialarchiv. Die Zürcher Hochschule für Künste gliedert 170 Plakate und Poster in die vorhandene Sammlung ein.

VI. Triagieren

Beim anderen Material sieht die Übernahme weniger klar aus. Die rund 7500 thematischen Dossiers umfassen fünfzig Laufmeter. Für das Sozialarchiv ist das ein mittelgrosser Nachlass. Wie andere Museen und Archive ist es mit der Auswertung aller Angebote überfordert. Deshalb arbeiten seit einiger Zeit neue Archivdienstleister den eigentlichen Archiven zu. Die Firma Fokus AG für Wissen und Information ist so ein Dienstleister. 1999 vom Historiker Urs Lengwiler gegründet, hat ihr Team in den vergangenen zwanzig Jahren zahlreiche Gemeinde- und Firmenarchive aufgearbeitet. Für das Sozialarchiv werden die Dossiers im Auftragsverhältnis gesichtet.

Anne Gretler weist darauf hin, wie sorgfältig Roland Gretler seine Dossiers angelegt hat und wie präzise sie angeschrieben sind. Überhaupt steckt eine ästhetische Lust in der Sammlung. Doch jetzt werden beim Sichten fürs Sozialarchiv dort schon vorhandene Broschüren, persönliche Materialien, neuere Zeitungsausschnitte erbarmungslos ausgeschieden. Danach beginnt im Sozialarchiv erst eigentlich die Arbeit, mit dem Erschliessen und dem Digitalisieren. Das wird einige Jahre dauern. Einzelne Archivbestände sollen aber schon ab 2020 einsehbar sein, in einer eigenständigen Abteilung mit eigener Auftaktseite auf der Website.

Nach der Sichtung durch Fokus sind einige Aktenschränke vollkommen ausgeräumt, in andern ist etliches Material zurückgeblieben. Anne Gretler schaut das alles nochmals an. Das eine oder andere bleibt bei den einzelnen Familienmitgliedern, gemäss den eigenen Vorlieben. Denn in der Sammlung steckt auch Persönliches: die Schallplatten, die die Kinder während der Kindheit noch hörten; die Fotobücher, die der Vater jeweils vorgezeigt und erläutert, geradezu erzählt hat.

Vorhanden sind auch Dossiers, die mit der persönlichen Biografie verknüpft sind: Das Rauchen als Kulturtätigkeit. Swissness. Militaria, insbesondere kriegerisches Spielzeug. Für so etwas müsste man spezielle LiebhaberInnen finden.

Mittlerweile hat sich das Sozialarchiv übrigens der drei Kisten im Keller angenommen. Ja, sagt Stefan Länzlinger, die lieferten schon einen Zusatznutzen. Wenn jemand über den 1. Mai arbeiten wolle, dann habe er oder sie gleich alles beisammen und müsse sich nicht durch Dutzende digitalisierte Ausgaben durcharbeiten.

VII. Eine Illustrierte aus Leipzig

Das Historische Lexikon der Schweiz (HLS) übernimmt etliche illustrierte Zeitschriften. Sein Interesse hat eine technologische Pointe. Das Lexikon existiert seit 2014 nur noch in digitaler Form. Die Zeitschriften aus dem Panoptikum sollen ausgewertet und brauchbare Bilder digitalisiert werden, um Onlineartikel zu illustrieren. Gretler hatte die Zeitschriften bereits durchgearbeitet und interessante Bilder darin mit beschrifteten Post-it-Zetteln markiert. Werner Bosshard, Leiter Multimedia beim HLS, hat drei Zentner Material vom vierten Stock des Kanzleizentrums hinuntergeschleppt und nach Bern verfrachtet, rund 25 Laufmeter von Zeitschriften aus London, Paris und Leipzig, zwischen 1840 und 1930 erschienen. Die «Illustrierte Zeitung» aus Leipzig erweist sich als besonders ergiebig, weil sie viele Schweizer Geschehnisse aus Politik, Technikgeschichte und Kultur verzeichnet. Dazu kommen Karikaturen aus sozialdemokratischen Satireblättern. Insbesondere fürs 19. Jahrhundert ergibt das einen neuen Bilderschatz. Fünfzehn Jahre wird die Auswertung dauern, schätzt Bosshard. Da das HLS kein Archiv ist, gehen die Bände danach an die Familie Gretler zurück.

Etliche Exemplare des «Frauenstimmrechts» von 1912 bis 1914 haben im Sozialarchiv vorhandene Bestände vervollständigen können. Aber was macht man mit der «Schweizer Illustrierten» von 1914 bis 1943? Oder mit «Paris Match»? Oder mit der propagandistischen Publikation «Sowjetunion» aus den sechziger Jahren?

VIII. Kurzes Gespräch mit dem Sammler

Wer sich mit dem Sammeln beschäftigt, kann Walter Benjamin nicht ignorieren. Der war selbst ein besessener Sammler von Büchern, Kunstwerken und Alltagsgegenständen, die ihm wiederum zum Reflexionsgegenstand wurden – Paul Klees Gemälde «Angelus Novus» aus der eigenen Sammlung veranlasste Benjamin zu den ebenso gleissenden wie dunklen Thesen über den Begriff der Geschichte.

1931 hielt Benjamin eine Rede mit dem Titel «Ich packe meine Bibliothek aus», und darin schilderte er anhand eigener Erfahrungen das Sammeln als Kulturtätigkeit. Dem Sammler geht es nicht um die Brauchbarkeit und Nützlichkeit der Dinge, sondern er liebt sie «als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals», als «magische Enzyklopädie» ihrer Herkunft und Geschichte.

Dem entspricht ein «rätselhaftes Verhältnis» zum Besitz. Einerseits ist es archaisch, handgreiflich sich an den Objekten festhaltend, als ob sie ihm die Vergangenheit oder die ewige Jugend garantieren könnten. Umgekehrt lässt es sich gesellschaftspolitisch als Vorahnung einer nichtkapitalistischen Existenz lesen. Im postum erschienenen «Passagen-Werk» führt Benjamin dafür ein Marx-Zitat aus den Frühschriften über die «Befreiung der Dinge von der Fron, nützlich zu sein» an.

Fünfzig Jahre später hat der Philosoph Odo Marquard einen Essay zum Sammeln mit «Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur» betitelt. Auch er sieht im Sammeln etwas Nostalgisches, Bewahrendes, ein Bedürfnis nach Sicherheit, womit versucht werde, der immer schnelleren Umwälzung aller Dinge entgegenzutreten.

Zum Sammeln gehört, an der Grenze, das Tauschen. Im Austausch lassen sich die jeweiligen Sammlungen gegenseitig vervollständigen. Das knüpft an den Mythos des gerechten Markts an, der allen zugutekommt: «win-win». Mittlerweile arbeiten Tauschbörsen überwiegend elektronisch. Damit wird das Tauschen seinerseits inflationär. Die Einmaligkeit, die Aura des Objekts wie dessen Erwerb lösen sich in der Schrankenlosigkeit des Angebots zusehends auf. Das Sammeln kommt immer weniger ans Ende.

IX. An den Rändern

Zurück im Panoptikum: Dort sind ein paar Bände zum Anarchismus für eine Bekannte beiseitegelegt worden. Auch Bücher zum Holocaust und zum Judentum in der Schweiz finden einen privaten Abnehmer. Der Ex-Achtundsechziger und jetzige Zürcher Gastrounternehmer Koni Frei sichert sich einen Lautsprecher, durch den einst der Umsturz des kapitalistischen Systems gefordert wurde.

An dieser Stelle muss ich ein Eigeninteresse deklarieren. Ich bin selbst Sammler, privat gemässigt, seit kurzem etwas unmässiger für eine neue Bibliothek samt Kulturtreffpunkt, den Bücherraum f beim Bahnhof Zürich Oerlikon.

Der beherbergte bislang, aus einem früheren Nachlass, eine hübsche Sammlung der «Neutralität», dieser erstaunlichen Zeitschrift des Schweizer Nonkonformismus, die von 1963 bis 1974 erschien und in der die wichtigsten kritischen SchriftstellerInnen und Intellektuellen schrieben. Die ist jetzt aus Gretlers Panoptikum vervollständigt worden, in den schönen Schubern, die einst Sarah und Roland Gretler als Kinder angefertigt hatten.

Im Bücherraum f steht jetzt auch das «Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik», drei Jahrgänge, 1879 bis 1881, nach den deutschen Sozialistengesetzen von einem deutschen Mäzen in der Schweiz finanziert, mit gediegenen Beiträgen zur internationalen Arbeiterbewegung. Natürlich, die Bände sind im Sozialarchiv und in der Zentralbibliothek Zürich vorhanden, jeweils zur Benutzung im Lesesaal. Aber so etwas kann man doch nicht fortwerfen. Also lassen sich die Jahrbücher seit neustem auch in Zürich Oerlikon studieren, samt der mit Stempeln dokumentierten Provenienz aus verschiedenen Bibliotheken der Arbeiterbewegung. Vielleicht müssen auch noch ein paar Jahrgänge vom «Kampf», der linkssozialdemokratischen Monatsschrift in Wien, gerettet werden, in der AustromarxistInnen wie Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Max Adler und Tatiana Grigorovici geschrieben haben.

X. Von der Zukunft des Gedruckten

Ertrinken wir in der Flut der Überlieferungen? Es gebe, meint Länzlinger, seit zehn Jahren einen Boom an Übernahmeangeboten. Allein das Sozialarchiv bekomme pro Jahr mindestens hundert Anfragen. Aus Platzgründen wird nächstens ein zweites Aussenmagazin bezogen. Länzlinger beobachtet zugleich ein steigendes Interesse an historischen Dokumenten. Insbesondere audiovisuelle Materialien seien gefragt, und Museen suchten Visualisierungen für Ausstellungen – da liegen Gretlers Fotografien im Trend.

Umso mehr, weil sie ein weites Spektrum an Themen aus dem Alltag abdecken: Essen, Freizeit, Wohnen, Kinderarbeit, 1. Mai, Leben und Werken von «Fremdarbeitern».

Was umgekehrt die Frage nach der Zukunft von gedrucktem Material stellt. Der Kampf findet gegenwärtig vor allem bei aktuellen Publikationen statt. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt nur noch Projekte, die auf digitale Publikationen setzen. Der Sachbuchverleger Hans-Rudolf Wiedmer hat in der Geschichtszeitschrift «Traverse» scharf auf die Gefahren dieser Politik hingewiesen. Der offene Onlinezugriff auf Bücher unterhöhlt das seriöse Verlagsgeschäft, und das Monopol grosser Verlage bei E-Zeitschriften schafft eine Zweiklassengesellschaft. In Zürich bedeutet die geplante «Konzentration» der Universitätsbibliotheken einen bedauerlichen Abbau. Ja, Pius Knüsel, der ehemalige Direktor der Pro Helvetia, der einst mit einem «Kulturschock» eine radikale Verdichtung und Kürzung der Kultursubventionen vorschlug, hat kürzlich in einem Vortrag den herkömmlichen analogen Bibliotheken jegliche Zukunft abgesprochen. Das ist eine alte, beinahe veraltete Provokation. Wir BücherfreundInnen lassen uns davon nicht beeindrucken. Denn was wäre die Lektüre am Bildschirm gegen das spröde Rascheln beim Blättern in alten Büchern?

Die drei Schwarzweissfotos zu diesem Artikel hat Anne Gretler aus «Gretlers Panoptikum» ausgesucht – Lieblingsbilder ihres Ehemannes.