Foucault und der Neoliberalismus: Die Linke gegen den Sozialismus neu erfinden

Nr. 46 –

Michel Foucault sah den Neoliberalismus als Chance, um über die zivilgesellschaftliche Belebung der Linken nachzudenken. Die Autoren Daniel Zamora und Mitchell Dean erklären, warum er dabei dessen autoritäre Dimension aus dem Blick verlor.

«Michel Foucault konzentrierte sich auf die Auswirkungen der Ungleichheit, aber nicht mehr auf ihre Ursachen»: Der französische Philosoph in einer Aufnahme von 1979. Foto: Getty

WOZ: Daniel Zamora, Mitchell Dean, Michel Foucaults Interesse am Neoliberalismus entstand im Umfeld der «deuxième gauche». Diese Strömung innerhalb der französischen Linken zeichnete sich durch eine Abkehr vom Marxismus, ein verstärktes Misstrauen gegenüber dem Staat und eine Hinwendung zu zivilgesellschaftlichen Bewegungen aus. Können Sie das schwierige Verhältnis dieser Linken zum Staat erklären?
Daniel Zamora: Sie rehabilitierte den Begriff des Unternehmertums und der Selbstverwaltung und setzte sich für eine Entstaatlichung der französischen Gesellschaft ein. Für eine ganze Generation von Intellektuellen, die mit der «deuxième gauche» sympathisierten, wurde der Staat zu einem Feind. Der Philosoph André Gorz ging sogar so weit, den Rückzug des Staates im Zuge der neoliberalen Reformen der Regierung von Valéry Giscard d’Estaing zu feiern. Der vom Staat befreite Raum, so die Hoffnung, könne dann von der Zivilgesellschaft besetzt und fruchtbar gemacht werden.

Was interessierte Michel Foucault am Neoliberalismus?
Zamora: Er sah diesen als ein Werkzeug, um sich eine Alternative zur sozialistischen Linken auszudenken; er war für ihn eine Möglichkeit, die Linke gegen den Sozialismus neu zu erfinden. Für Foucault stand der Neoliberalismus für Autonomie, Zivilgesellschaft und Pluralismus, er erschien ihm als ein freizügigerer Rahmen für das Experimentieren mit anderen Formen der Existenz.

Lässt sich sagen, dass Intellektuelle wie Foucault einen Einfluss auf die Politik des Neoliberalismus hatten?
Mitchell Dean: Viele neoliberale Massnahmen wären auch ohne die Hilfe einflussreicher Intellektueller umgesetzt worden. Und andere waren viel einflussreicher als Foucault, zum Beispiel Anthony Giddens in Grossbritannien, der Tony Blairs New Labour geprägt hat, oder Ulrich Beck, der einen ähnlichen Einfluss auf die rot-grüne Regierung in Deutschland hatte. Doch was sich sicher sagen lässt: Der von Foucault inspirierte Fokus auf Gouvernementalität und die Sorge um das Selbst trugen dazu bei, die strukturelle Ungleichheit und die autoritäre Dimension neoliberaler Politik zu verkennen. Die Linke wurde dadurch weniger kritisch gegenüber der neuen Beschränkung sozialer Rechte.

Foucault definiert Gouvernementalität – ein zentraler Begriff seiner Vorlesungen am Collège de France Ende der siebziger Jahre – als «Kunst, nicht dermassen regiert zu werden». Das klingt doch durchaus kritisch.
Dean: Tatsächlich kann man mit Foucault untersuchen, wie Wohlfahrtssysteme «Techniken des Selbst» auf Arbeitslose und Sozialhilfebeziehende anwenden, um sie aktiver und unternehmerischer zu machen. In den neunziger Jahren habe ich versucht, mit diesem Ansatz Aktivierungsmassnahmen für Arbeitslose zu verstehen, die damals in allen OECD-Ländern eingeführt wurden. Doch eine solche Analyse hat enge Grenzen. So hat das Problem der hohen und anhaltenden Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung im gegenwärtigen Kapitalismus absolut nichts mit der ethischen Selbstregierung des Einzelnen zu tun. Ausserdem fehlt bei Foucault und bei vielen seiner Anhängerinnen und Anhänger die Analyse der autoritären Dimension des neoliberalen Regierens.

Wo sehen Sie das Problem in Michel Foucaults Theorie?
Dean: Bei Foucault können wir beobachten, dass die Sprache der Politik in Bezug auf Recht, Souveränität und Staat verdrängt wird. Faktisch reproduzierte dieses Denken eine liberale Kritik am Staat: Statt über die Transformation des Staates nachzudenken, werden bloss noch dessen Exzesse hervorgehoben. Wenn das Feld linker Politik um zivilgesellschaftliche Kämpfe erweitert wird, besteht die Gefahr, dass der auf den Staat bezogene Kampf dadurch verdrängt wird. Das ist die Falle des Neoliberalismus, der sich die staatliche Macht ja gerade dadurch aneignet, dass er ihre Bedeutung leugnet.

Muss man Foucaults Haltung auch vor dem Hintergrund der orthodoxen Kommunistischen Partei Frankreichs sehen, in der er in den fünfziger Jahren kurz Mitglied war?
Zamora: Klar, Foucault hat das ziemlich homophobe Umfeld in der Partei und die Arbeiteraufstände gegen die staatssozialistischen Diktaturen in Ländern wie Polen miterlebt. Das Problem liegt aber darin, wie er mit dieser Situation umgeht und dass er Fragen der Marginalität von Ausbeutung und politischer Ökonomie entkoppelte. Foucault war schlicht der Ansicht, dass Ausbeutung und Ungleichheit veraltete Fragen seien. Er konzentrierte sich auf die Auswirkungen der Ungleichheit, aber nicht mehr auf ihre Ursachen. So strukturieren beispielsweise Formen der Normalisierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt eindeutig die Organisation der Klasse, erzeugen aber weder Arbeitslosigkeit noch instabile Beschäftigung. Das Problem ist nicht, dass mit Foucault eine Reihe von bisher ignorierten Herrschaftsformen anerkannt wird, sondern die Tatsache, dass diese zunehmend unabhängig von jeglicher Vorstellung von Ausbeutung thematisiert werden.

Inwiefern war Michel Foucaults Suche nach einer linken Gouvernementalität von den politischen Ereignissen in Deutschland geprägt?
Dean: Es gibt sein bekanntes Engagement in der Affäre um den RAF-Anwalt Klaus Croissant Ende 1977, das zu einem Bruch mit engen Kollegen wie Gilles Deleuze führte. Foucault gründet seine Unterstützung für ein Asylrecht für Croissant auf die «Rechte der Regierten». Zur gleichen Zeit machte er auch persönliche Erfahrungen mit Polizei- und Sicherheitsmassnahmen in Ost- und Westberlin. Im Zusammenhang mit der aussergewöhnlichen Reaktion des deutschen Staates auf den Terrorismus im Deutschen Herbst sprach Foucault 1977 von einem «Sicherheitspakt» zwischen Staat und Bevölkerung.

Wann änderte sich Foucaults Haltung gegenüber der staatlichen Autorität?
Dean: Mit seinen Vorträgen im Jahr 1979 entfällt diese Anerkennung der autoritären Seite der staatlichen Massnahmen. Michel Foucault versuchte, den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat unter Helmut Schmidt zumindest teilweise auf den Ordoliberalismus nach dem Krieg zurückzuführen. Tatsächlich sagt er in diesen Vorträgen, dass das deutsche Modell nicht mehr das autoritäre des Bismarck-Staates sei, das zu Hitler führte, er sprach im Gegensatz dazu von der «Möglichkeit einer neoliberalen Gouvernementalität».

Wie kam er dazu?
Dean: Foucault war kein Antietatist. Er war vielmehr gegen die Techniken der Subjektivierung des Staates, die er in verschiedenen Büchern analysiert hatte. 1978 nahm er in Berlin am Tunix-Kongress teil, der sich mit Experimenten in der Lokal- und Alltagspolitik – Gegenkultur, Antipsychiatrie, Ökologie, Feminismus – als Alternativen zur Politik der maoistischen K-Gruppen und der orthodoxen Linken beschäftigte. Dies steht im Einklang mit seiner Beteiligung an ähnlichen Treffen der «deuxième gauche», wo Foucault argumentierte, dass Innovation nicht mehr von der Partei und der institutionalisierten Politik ausgehe, sondern ein «individuelles, moralisches Anliegen» sei.

Interessant ist Foucaults Verhältnis zur Kritischen Theorie. Von dieser wurde er im Gefolge seines Kritikers Jürgen Habermas in den achtziger Jahren zunächst heftig bekämpft. Heute hingegen will man Foucault gegen seine Frankfurter Liebhaberinnen und Liebhaber, die ihm jeden subversiven Stachel gezogen haben, eher verteidigen …
Dean: Foucault wurde in Deutschland zunächst ein wenig voreilig als junger Konservativer mit normativen Verwirrungen abgetan. Dabei hätte es durchaus mögliche Überschneidungen zur Kritischen Theorie gegeben: gemeinsame Problematiken, etwa die Beziehung von Vernunft und Herrschaft, oder gemeinsame Quellen wie Kant und Max Weber. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine neue Generation deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in den Frankfurter Traditionen geschult sind, entdeckt hat, dass Foucault neue Werkzeuge zur Verfeinerung ihrer traditionellen Ansätze anbietet. Dass sich die heutige Kritische Theorie und Foucault finden, hat aber nicht zuletzt auch damit zu tun, dass beide Klassen und Klassenkonflikte ignorieren.

Die Foucault-Kritiker

Der junge belgische Soziologe Daniel Zamora arbeitet als Postdoktorand an der Université libre de Bruxelles. 2014 gab er dem Magazin «Jacobin» ein kontroverses Interview zu Foucaults Flirt mit dem Neoliberalismus. 2016 veröffentlichte er zusammen mit Michael C. Behrent den Sammelband «Foucault and Neoliberalism».

Nun hat Zamora mit dem an der Copenhagen Business School lehrenden Sozialwissenschaftler Mitchell Dean erneut ein Buch zu Foucault veröffentlicht: «Le dernier homme et la fin de la révolution» (Der letzte Mensch und das Ende der Revolution). Es dreht sich um Foucaults Suche nach einer linken Gouvernementalität und soll 2020 bei Verso auf Englisch erscheinen.

Daniel Zamora und Mitchell Dean: «Le dernier homme et la fin de la révolution. Foucault après Mai 68». Lux Éditeur. Montréal 2019. 232 Seiten. 15 Franken.