Kommentar zum Sozialhilfe-Urteil des Bundesgericht: Über die rote Linie

Nr. 3 –

Mit einem denkwürdigen Urteil legalisiert das Bundesgericht die Entrechtung von Armutsbetroffenen.

Es ist ein historisches Gerichtsurteil. Allerdings ein negatives: Die fünf RichterInnen der sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts haben vergangenen Dienstag mit drei bürgerlichen (zwei SVP- und eine CVP-) zu zwei SP-Stimmen eine Beschwerde gegen eine vom Zürcher Kantonsrat beschlossene Änderung im kantonalen Sozialhilfegesetz abgelehnt – und damit eine rote Linie hinein in einen Raum übertreten, in dem Grundrechte offiziell nicht mehr gelten.

Geht es nach dem obersten Gericht dieses Landes, so sollen Zürcher Sozialämter Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, ab sofort Auflagen erteilen oder Sozialhilfegelder streichen dürfen, ohne dass diese sich direkt dagegen wehren können. Anders formuliert: Wer Sozialhilfe bezieht, kann künftig erst gegen eine Sanktion rekurrieren, wenn diese bereits in Kraft ist. Um sich gegen eine Anordnung wie etwa den Umzug in eine günstigere Wohnung, den Verkauf von Familienschmuck oder die Teilnahme an einem bestimmten Arbeitsintegrationsprogramm zur Wehr setzen zu können, muss sich die betroffene Person zunächst renitent zeigen und damit eine Verfügung provozieren, um die Sanktion überhaupt erst anfechten zu können.

Das oberste Gericht folgt damit dem Wunsch bürgerlicher Zürcher KantonsrätInnen, die vor einem Jahr – noch vor den kantonalen Parlamentswahlen – eine parlamentarische Initiative von drei VertreterInnen der SVP, der FDP und der GLP durchpeitschten. Ursprünglich hätte die Änderung im kantonalen Sozialhilfegesetz bereits im vergangenen April in Kraft treten sollen, doch eine Beschwerde der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht im Namen von drei direkt Betroffenen sowie von fünf weiteren Beratungsstellen und Hilfswerken bewirkte einen Aufschub. Nun aber heisst das oberste Gericht die neue Regelung gut. Zwar merkt es noch an, dass Zwischenverfügungen weiterhin angefochten werden könnten, sofern «ein nicht wiedergutzumachender Nachteil» drohe, betont aber zugleich, dass kein Fall ersichtlich sei, «in dem das Bundesgericht einen solchen Nachteil in einem sozialhilferechtlichen Kontext bisher bejaht hätte».

Die BeschwerdeführerInnen dagegen sehen in der neuen Regelung eine klare Verletzung der verfassungsmässigen Rechtsweggarantie, nach der jeder Person jederzeit das Recht zusteht, gegen behördliche Weisungen oder Anordnungen Rekurs einzulegen, wenn diese die Grundrechte schwerwiegend tangieren. Indem nun aber SozialhilfebezügerInnen dieses Recht auf ein faires Verfahren abgesprochen wird, werden sie gegenüber jenen, die keine Sozialhilfe benötigen, erheblich diskriminiert. Das Urteil ist somit nachgerade eine Carte blanche zur Entrechtung von Armutsbetroffenen im ganzen Land. Entsprechende Vorstösse der SVP in weiteren Kantonen sind absehbar. Kommt hinzu, dass einige Kantone wie etwa der Aargau diverse Diskriminierungen im Sozialhilfebereich bereits umgesetzt haben – und im Kanton Zürich auch noch eine Totalrevision des Sozialhilfegesetzes ansteht, die unter anderem den Datenschutz bei SozialhilfebezügerInnen aufweichen möchte. Infolge solcher bereits bestehenden und weiter zu befürchtenden Schikanen verzichtet schon heute gut ein Viertel der Armutsbetroffenen in der Schweiz auf Sozialhilfe – mit oft fatalen Folgen für ihre körperliche und psychische Gesundheit.

Rechtsanwalt Tobias Hobi, der schon viele SozialhilfebezügerInnen im Kanton Zürich juristisch begleitet hat, sagt es klipp und klar: «Was hier installiert wird, ist ein negatives Sonderrecht, wie man es zuletzt bei Verdingkindern praktiziert hat. Und nun, nachdem sich der Bundesrat bei diesen endlich offiziell entschuldigt hat, öffnet das Bundesgericht Tür und Tor für eine neue solche Entrechtung einer Minderheit. Armutsbetroffene werden so von Rechtssubjekten zu Rechtsobjekten degradiert.»

Es bleibt nur noch der langjährige Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.