Service public: Der grosse SRF-Qualitätstest

Nr. 9 –

Mit fast 72 Prozent Nein wurde vor zwei Jahren die No-Billag-Initiative abgeschmettert. Trotzdem steht das Schweizer Radio und Fernsehen seither unter Spardruck. Zeit für eine kritische Bilanz: Stimmt die Qualität des Service public?

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Kompetenz ist besser als Kontroverse

«Nei, säget Sie zerscht.» Doch, man hatte richtig gehört, da liess tatsächlich ein Talkshowgast seinem Gegenüber den Vortritt. Der Satz fiel im Februar im «Club» zum Thema «Corona – Das politische Virus», von Barbara Lüthi gewohnt souverän moderiert – und der höflich-sachliche Umgang war durchaus symptomatisch für die ganze Sendung. Die Bandbreite der Gäste reichte vom Virenexperten über die chinesische Businessfrau bis zum NZZ-Journalisten. Man diskutierte mit griffigen Anekdoten, Analysen und Einblicken in den chinesischen Alltag. Die Runde tauschte Informationen statt Meinungen aus, Polemik gabs so gut wie keine. Nicht einmal der Interview-Einspieler aus der Kabine eines unter Quarantäne stehenden Kreuzfahrtschiffs war peinlich. Und vor allem: Am Ende war man als Zuschauerin schlauer als zu Beginn.

Womöglich lässt sich der Unterschied zu der von Sandro Brotz routiniert geleiteten «Arena» an einem Satz festmachen, der in jener Sendung meist schon nach kurzer Zeit fällt: «Jetzt lönd Sie mich doch emal uusrede!» In der «Arena» ist die Sprechzeit der Einzelnen anscheinend derart wichtig, dass sie bei Abstimmungssendungen sogar offiziell gemessen wird. Ergiebiger wäre es, man würde stattdessen die Klischeedichte und die Faktengenauigkeit der Voten erheben. Auch die Erwartbarkeit der vertretenen Haltungen ist ein Problem. Etwa in der Sendung «5G – Genial oder gefährlich?»: Die Grüne mahnt, der 5G-Mobilfunkstandard sei gefährlich wegen der Strahlenbelastung, die Vertreterin von Economiesuisse findet 5G im Gegenteil genial und überfällig, aus Wettbewerbsgründen.

Oder Cryptoleaks: Der SPler ruft «Staatsaffäre!», die FDPlerin findet Nein – und der SVPler grinst, als man über ihn sagt, er betrachte die Crypto-Affäre als linke Propaganda: Message platziert, Mission erfüllt. Man sieht in der «Arena» oft wenig mehr als Argumentationsschablonen in allen Parteifarben, Sprechautomaten im Nahkampf, die eingemachte Meinungen vertreten, statt die Meinungsbildung voranzubringen.

Vergleicht man mehrere Sendungen der beiden politischen Talkshows von SRF, fällt auf, wie viel erkenntnisreicher die Diskussionskultur des «Clubs» im besten Fall sein kann. Wenn dort allerdings über Trump gezankt wird oder über die Kesb, kommts gleich heraus wie bei den Gladiatorenkämpfen in der «Arena»: Man sitzt ermüdet oder enerviert im Meinungsgefecht – echte Einsichten bleiben auf der Strecke. Unerklärlich war der reine Männer-«Club» zur Crypto-Affäre, obwohl der Fall von drei SRF-Journalistinnen aufgedeckt worden war.

Und auch wenn die «Arena» unter Brotz klar besser geworden ist, mit mehr Frauen und einer Themenwahl, die nicht mehr von der SVP diktiert scheint, krankt die Sendung am Zwang zum Schlagabtausch und an einer Schwäche für extreme Meinungen. Ein Blick über die Grenze zu «Anne Will» zeigt, wo das enden kann, wenn dort etwa AfD-Politikerin Alice Weidel mit Dauergrinsen und blanker Argumentationsverweigerung eine ganze Sendung gleichsam in Geiselhaft nehmen kann. Denn: Wer Themen und Gästepalette von Anfang an auf Polarisierung und somit auf Krawall bürstet, kann inhaltlich nur verlieren. Gerade für einen öffentlich-rechtlichen Sender wäre Kompetenz vor Kontroverse das beste Motto.
Daniela Janser

Mehr Welt ist dringend nötig

Seit einiger Zeit hat SRF endlich ein richtiges Auslandsmagazin! «#SRFglobal» wird zwar nur einmal im Monat ausgestrahlt, widmet sich dafür aber jenen Themen, die in der Berichterstattung sonst nur selten Platz finden. Unter dem Titel «Dein Date mit der Welt» gibt es auf SRF 3 auch gleich noch einen Podcast, der die Gespräche aus dem TV-Format zusammenfasst.

Ob internationaler Menschenhandel oder eine indonesische Stadt, die dem Plastikmüll abgeschworen hat, das neokoloniale Gebaren von Trump und Co. oder die Revolution in Armenien – allein das Programm der letzten Monate freut alle FreundInnen globaler Zusammenhänge. Umso erstaunlicher ist das umständlich formulierte Selbstverständnis der SendungsmacherInnen: «#SRFglobal richtet sich an ein Publikum, das anerkennt, dass internationale Themen Auswirkungen auf die Entwicklungen in der Schweiz haben können, und deshalb interessiert an einer vertiefenden, hintergründigen Auseinandersetzung mit solchen Inhalten ist.» In dieser Beschreibung aus dem Porträt der Reihe zeigt sich die ganze Tragik der Schweizer Auslandsberichterstattung: Sie wirkt, als hätten die MacherInnen gerade erst bemerkt, dass die Schweiz keine Insel ist.

Da hat man endlich ein Format, das dem helvetischen Selbstfokus trotzt – und imaginiert ein Publikum aus lauter ProvinzlerInnen, die immer und überall einen Schweizbezug brauchen, damit sie sich überhaupt zuschalten. Dass ein Viertel der GebührenzahlerInnen aus dem Ausland hierhergezogen ist, wird schon gar nicht in Betracht gezogen.

Dieses Verständnis ist dabei längst keine Eigenheit des Fernsehens. Dass der Auslandsberichterstattung gerade im Print immer weniger Platz eingeräumt wird, zeigt auch eine Studie des Forschungsinstituts Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Universität Zürich aus dem Jahr 2016. In einer Zeit, wo eine der grossen Schweizer Tageszeitungen bloss noch die Reste ihrer deutschen Partnermedien verwertet, während eine andere zunehmend auf Deutschlands Rechte schielt, ist gerade bei SRF mehr Welt dringend nötig.

Wer einen Monat die News-Aushängeschilder des Schweizer Fernsehens in den Blick nimmt, ist durchaus gut informiert. Bei der «Tagesschau» dominierten im Januar die Auslandsthemen. Und auch «10 vor 10» legt seinen Fokus auf Fragen, die international von Bedeutung sind: die Situation im Iran nach dem US-Drohnenangriff auf General Kassem Soleimani, die australischen Buschbrände oder den Green Deal der EU. Einziges Manko: dass «10 vor 10» als Hintergrundmagazin oft bloss Themen aufgreift, die auch sonst schon Schlagzeilen machen.

Eigene Akzente setzt dafür das Radio. Ob Antisemitismus in den USA oder Repression in Russland, EU-Gelder für Kambodscha oder das japanische Justizsystem – die Themen des «Echos der Zeit» katapultieren die Welt in die Schweiz, und das erst noch ohne jeden Eurozentrismus.

Nach einem Monat intensiven SRF-Konsums fällt das Fazit zur Auslandsberichterstattung deshalb positiv aus. Die Themensetzung selbst ist nicht das Problem, nur am Selbstverständnis könnte der Service public noch etwas arbeiten. Letztlich ist das ein Symptom für die Zwickmühle des Landes: das ungeklärte Verhältnis der Schweiz zur Welt. Wie wäre es zur weiteren Klärung, wenn es jede Woche ein «#SRFglobal» gäbe? Die Welt ist schliesslich gross genug.
Anna Jikhareva

Unterhaltung, aber extrem bi de Lüt

Die SRG soll ja nicht nur zur Bildung, sondern auch zur Unterhaltung beitragen, so will es der Verfassungsauftrag. Eine gewaltige Herausforderung, denn für mehr als acht Millionen SchweizerInnen – so viele verfügen laut Statistik über einen Internetzugang – gibt es nur eine einzige Frage, wenn es darum geht, die Qualität von Unterhaltung zu beurteilen: Was unterhält MICH?

Das fragte ich mich auch. Und wollte wissen, wie weit sich das, was SRF für Unterhaltung hält, eigentlich mit meiner Vorstellung deckt. Mit merkwürdigem Ergebnis. Nimmt man die Sendungen, die bei SRF unter «Unterhaltung» laufen, als Abbild der (Deutschschweizer) Gesellschaft, sieht das nämlich so aus:

Die meisten Leute leben auf dem Land oder in der Agglo («SRF bi de Lüt»). Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck und bilden fröhliche Gemeinschaften, in denen gerne und gut gejasst wird («Samschtig-Jass»). Sie freuen sich übers zweite Kind von Bligg, obschon er die glücklich niedergekommene Mutter geheim hält, und leiden, weil Wendy Holdener wieder Single ist («Glanz & Gloria»). Sie tragen Tracht und stimmen wohlklingend mit ein, wenn das einheimische Liedgut gepflegt wird («Potzmusig», «Viva Volksmusik»). Sie führen stolz durch ihre Heimatgemeinde («Mini Schwiiz, dini Schwiiz») und messen sich in währschafter und doch ausgeklügelter Kochkunst, so sie weiblich und im Dorf beheimatet sind («Landfrauenküche»). Wer nicht selbst kocht, durfte bis Ende 2019 sein Lieblingsrestaurant in meist ländlichen Gefilden zeigen («Mini Beiz, dini Beiz»). Und der Rest wird im Sommerloch wieder die Symptome von Menschen mit ungewöhnlichen Krankheiten googeln («Ärzte VS Internet»).

Das alles nährt den Verdacht, dass sich manche Gemeindekommission am TV-Programm orientiert, wenn sie sich die Prüfungsfragen für einbürgerungswillige AusländerInnen ausdenkt. Wie jene in Arth SZ, die einem Italiener das Bürgerrecht verwehren wollte, obschon der Mann zwar das «Schwyzerörgeli» kannte, nicht aber den «Ländler».

Die grossen Samstagabendkisten wie «Happy Day» oder «Ich schänke dir es Lied» zeichnet ein enormer Tränenreichtum aus, sie dienen offenbar der Katharsis: Vor grossem Publikum wird geschluchzt, geschluckt, geheult und gerotzt, dass es nur so eine Freude ist.

Ich selbst gehöre zur Zielgruppe dessen, was SRF als Satire serviert, und bin ein dankbares Publikum, denn mich erheitert vieles. «Deville» schreckt thematisch gottlob vor fast nichts zurück. Dass die Umsetzung zeitweise lahmt, gehört zum Geschäft. Dass aber «Late Update» abgesetzt wurde, nehme ich dem SRF übel. Michael Elseners Kernkompetenz sind treffsicher hingeratterte Erklärvideos, was er vor der Abstimmung über bezahlbare Mieten wieder bewies. Live funktionierte das wohl nicht wie gewünscht, hin und wieder unterlief ihm auch ein unterirdischer Witz. Doch allein die Auftritte der Kabarettistin Uta Köbernick machten «Late Update» sehenswert. Dass eine Beschwerde von FDP-Präsidentin Petra Gössi dazu beigetragen haben soll, dass die Sendung abgesägt wurde – einfach nur peinlich!

Unterhaltsam finde ich auch den «Literaturclub», wo Nicola Steiner locker durch eloquentes Gezänk führt, und den «Kulturplatz», die Sendung mit dem langweiligsten Namen und den wallend-weltläufigsten Moderatorinnenoutfits. Aber das gilt halt als «Kultur». Ach, und ehe ichs vergesse: Die Quizshow «1 gegen 100» aus der Massenproduktion der niederländischen Firma Endemol gucke ich auch. Nur so, natürlich – ist ja sozialpsychologisch interessant.
Karin Hoffsten

Fast alles wie bisher im Sport

Vielleicht war es nicht matchentscheidend. Sicher aber war es überraschend, als die notorisch unpolitischen Sportverbände wie Swiss Olympic, aber auch Vereine wie der SC Bern oder der FC Lugano plötzlich Position bezogen und sich gegen die No-Billag-Initiative engagierten. Ihr Argument war so einfach wie schlüssig: Nur öffentlich-rechtliche Sender seien bereit, über Sport fernab der lukrativen Werbetöpfe der Cashcows Fussball und Eishockey zu berichten. Oder wie es SVP-Nationalrat und Swiss-Olympic-Präsident Jürg Stahl damals formulierte: «Wir wissen, dass dort, wo nur wirtschaftliche Kriterien gelten, die nichtrentablen Gebiete plötzlich nicht mehr vorkommen.»

Seit dem Nein zu «No Billag» sind die privaten Anbieter wie Teleclub oder MySports stärker geworden, und der Kampf um die teuren Übertragungsrechte für Grossanlässe hat sich derart verschärft, dass sich die SRG etwa bei der Champions League mit Restposten zufriedengeben musste. Das dürfte sich weiter zuspitzen – gut möglich, dass Fussballweltmeisterschaften und Olympische Spiele in Zukunft nur noch gegen Bezahlung zu sehen sind.

Was aber nicht bedeutet, dass SRF heute weniger Sport sendet: Auf dem Fernsehsender SRF 2 sind an gewissen Tagen bis zu zehn Stunden Sport am Stück zu sehen. Oder wie die NZZ in einem schnippischen Kommentar vermerkte: «Es plätschert eine fröhliche Live-Schiene unablässig in die Haushalte der Konzessionszahler.» Angesichts der Sparpakete, die der SRG auferlegt wurden, mag das erstaunen, doch wurden eben nicht einzelne Sendungen weggespart, sondern der Produktionsaufwand gesenkt. Konkret: Weniger externe ExpertInnen, zudem sind die eigenen KommentatorInnen nicht mehr so oft vor Ort, sondern kommentieren die Bilder vom Studio in Zürich aus. Das entspricht dem Weg, den auch andere öffentlich-rechtliche Sender gehen: ARD und ZDF verzichteten bei der Fussballweltmeisterschaft in Russland auf KommentatorInnen vor Ort – das frei gewordene Geld investierten sie in Hintergrundberichte.

Bleibt die Frage nach dem Breitensport, der als Argument gegen die Initiative vorgebracht wurde. Die Antwort: Viel hat sich nicht getan. In den redaktionellen Sportsendungen stehen nach wie vor Fussball und Eishockey im Zentrum, wobei vor allem das «Sportpanorama» zum Schluss gern mit kleinen Porträts aus Randsportarten aufwartet.
Etrit Hasler

Nur bedingt ansteckend, dieser Virus

Auf Radio SRF Virus könnte grundsätzlich fast alles laufen. Da kann es vorkommen, dass ein Metalblog eine Stunde lang die besten Metalsongs des Jahres spielen darf – darunter etwa einen der Gruppe The Body, bei dem über einer lärmigen Riffwalze eine Stimme kreischt, die klingt wie ein sterbendes Tier. Kein Problem auf Radio Virus. Wer sich auf dem Sender durchs Tagesprogramm hört, stösst selten auf derart kantige Musik, aber immerhin auf eine ziemlich bunte Mischung: auffallend viel Rap, von Mundart-Trap bis zu dem, was in den USA gerade so angesagt ist; viel Schweizer Musik, ab und zu auch anspruchsvolle, viel alternativer Pop, ein bisschen Elektronik.

Man wird nicht recht schlau aus diesem Programm: Es wirkt zwar nicht algorithmisch berechnet, aber doch ziemlich lieblos zusammengewürfelt. Obwohl man hier eher auf Entdeckungen stösst als im Tagesprogramm des grossen Bruders SRF 3 mit seinem Gebot der «Durchhörbarkeit», macht Virus doch viele unverständliche Konzessionen an den Popkommerz.

Virus startete 1999 mit der gleichen Absicht wie 1983 schon der damalige Sender DRS 3: die Jugend wieder fürs Radio zu begeistern. Doch für DRS 3 war das damals eine ganz andere Situation, das Programm war ungestüm, die HörerInnen wollten aufregenden internationalen Pop hören. Mit dem «amtlich bewilligten Störsender», wie DRS 3 sich damals nannte, reagierte die SRG auf die Privatradios, die den Puls der Zeit schon etwas früher fühlten. Seit der Gründung lief auf DRS 3 auch «Sounds!», eine sorgfältig kuratierte Sendung und bis heute das Flaggschiff der Popberichterstattung auf dem Sender. «Sounds!» läuft täglich von 22 Uhr bis Mitternacht und will immer noch eine Sendung für EntdeckerInnen sein, teilt aber ein grundsätzliches Problem von heutigem Musikjournalismus: HörerInnen bekommen schier unendlich viele Musikvorschläge aus allen möglichen Ecken des Internets. Daneben bleibt nicht viel Platz für professionelle Empfehlungen aus den Redaktionen. Zudem wird Radio heute kaum mehr live gehört, einzelne hochwertige Sendungen sind also umso wichtiger. FM4 zum Beispiel, das Jugendradio des ORF, zeigt vorbildlich, wie das gehen kann. Sendungen wie «House of Pain» oder «Im Sumpf» strahlen mit abseitiger und relevanter Musik aus der ganzen Welt und mit gesellschaftskritischen Wortbeiträgen weit über Österreich hinaus.

Angesichts dieser Situation stellen sich also ein paar Fragen zum Pop am Schweizer Staatsradio: Für wen ist eigentlich das seichte Tagesprogramm von SRF 3, das sich nicht wesentlich von der Musik der Privatradios unterscheidet, wo Hitparade und abgestandene Oldies auf Dauerrotation laufen? Könnte dort nicht auch durch den Tag mehr aufregender Pop aus der Schweiz laufen, der gerade überall spriesst? Braucht SRF 3 als staatliches Radio wirklich einen Marktanteil von über 15 Prozent (Stand 2019), während jener von SRF 2 Kultur bei knapp 3 Prozent liegt und jener von Virus bei nur gerade 0,3 Prozent? Würde Virus nicht besser Geld in einen guten Musikpodcast stecken als in unzählige journalistisch mediokre Facebook-Videos? Und wieso eigentlich läuft «Yummy» von Justin Bieber auf Virus an manchen Tagen gleich dreimal?
David Hunziker

Das Wortlastige nur noch als Podcast?

Freitag, 14. Februar. Eigentlich will ich Nachrichten hören. Da beginnt auf Espace 2 die Sendung «Grands entretiens». Zuerst ist eine Collage aus Stimmen unterschiedlichster Timbres zu hören. Sie erzählen von einer Flucht. Die Musik ist sehr gezielt unterlegt. Auch Geräusche verfremden die gesprochenen Sätze. Ich denke: «Endlich! Ein Text wird inszeniert!» Erst später erfahre ich, dass es sich um einen Filmausschnitt handelt. Es folgt ein knapp einstündiges Gespräch zwischen Laurence Difélix und Patrick Chamoiseau, einem meiner Lieblingsautoren. Seine Stimme habe ich aber noch nie gehört, und ich geniesse es ungemein, ihm zuzuhören. Vor allem, weil Difélix wirklich etwas wissen will: Wie kommt der Schriftsteller aus Martinique dazu, vom Gedanken, das Mittelmeer verwandle sich in einen Friedhof, umgetrieben zu sein und gleichzeitig eine ungemein leidenschaftliche Neugier und Lust auf die Verflechtung aller Regionen und Sprachen zu verbreiten? Chamoiseau schlägt einen existenziellen Ton an, für den ich in einer Holzhütte im Jura empfänglich bin.

Allerdings kann ich mich auch an Momente erinnern, da ich das Radio entnervt ausgeschaltet habe, weil mir eine Diskussion oder eine Reportage viel zu weit weg war von allem, was mich gerade beschäftigte. Da helfen die Apps von RTS und SRF. Ich habe heute die Wahl, das Radio einfach laufen zu lassen und zu hoffen, dass ich in einer Sendung von Inhalten überrascht werde, auf die ich selber nicht gekommen wäre. Aber ich kann auch über die App eine Sendung suchen, die gerade in meine Stimmung passt. Boombox sei Dank, klingt das dann auch wie Radio. Und manchmal verschwimmt der Unterschied. Zum Beispiel, wenn ich erfahre, dass das Gespräch mit Patrick Chamoiseau schon mehrere Jahre alt ist. Es wurde nur neu ausgestrahlt. Auch bei Espace 2 wird gespart.

Seit Monaten ist zu hören, dass die Literatur fast ganz aus dem Sender verschwinden soll. Westschweizer AutorInnen mobilisieren dagegen. Erste Gespräche finden statt, eine Medienorientierung ist auf Mitte März angekündigt. Was bisher durchsickert, tönt nach dem, was beim deutschen Sender Hessen 2 vorgemacht wird: Ein «Kultursender» wird in einen Kanal für klassische Musik umgewandelt. Das Wortlastige soll in Podcasts zugänglich sein.

Der Literaturnewsletter «Qwertz» macht in der Romandie auf solche Sendungen aufmerksam. Schon heute spielt mir die RTS-App lauter Literatursendungen ein, weil sie schnell erkannt hat, dass ich mich dafür interessiere. Bleibt die grosse Frage: Wie stosse ich auf Themen, die ich noch nicht auf dem Radar habe? Und wenn gleichzeitig gespart wird, woher kommt dann das Geld für die vielen Podcasts, die unterschiedlichste Interessen aufnehmen sollen?

Egal in welchem Format bleibt ausserdem die Frage, wie viel Arbeit in einer Sendung stecken darf. In Sachen Literatur hat sich leider bei SRF und RTS eine Grundform etabliert, die schnell langweilig wird. Eine Autorin oder ein Autor wird eingeladen, über ein neues Buch zu sprechen. Zwei Leute entwickeln in lockerem Gespräch eine Art Klappentext. Was literarische Sprache wäre, klingt dabei kaum noch an.
Annette Hug

Das Kind braucht einen Vater

Darüber ist niemand traurig: Mit Ausnahme des «Tatorts» will SRF künftig darauf verzichten, eigene Fernsehfilme zu produzieren. Dafür soll es jedes Jahr drei bis vier eigene Serien geben. Gut so – die erste Staffel von «Wilder» brachte einen neuen Krimistil ins Schweizer Fernsehen: dunkel, atmosphärisch und in einer Alpenwelt angesiedelt, die gar nichts Heimeliges hat, sondern von Traumata, Familienkonflikten und Gier zerrissen wird.

Atmosphärisch konnte die zweite Staffel im herbstlichen Jura mit der ersten mithalten, auch ohne Schnee. Sonst aber nicht so ganz. Zu oft liess sich die Handlung vorausahnen. Und täusche ich mich, oder sind die Dialoge hölzerner geworden? Jedenfalls kam, anders als in Staffel eins, immer wieder mal das Gefühl auf: Wir schauen gerade SchauspielerInnen beim Spielen zu. Nicht bei Profis wie der tollen Doro Müggler, der man die alleinerziehende Laura Kägi mit ihrem Hang zum Alkohol sofort abnimmt. Aber bei zu vielen der anderen neuen Figuren.

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Ja, Polizist Kägi hat eine passende Schwester bekommen. Aber Kägi kommt – von seinem kühnen Sprung auf den Drogenboss einmal abgesehen – nicht so ganz in die Gänge. Und warum hat er eigentlich im Gegensatz zu Rosa Wilder kein Recht auf Liebesabenteuer? Stattdessen muss Rosa am Schluss ausgerechnet den Langweiler Dänu aus der ersten Staffel wieder treffen. Das Kind braucht einen Vater! Ist doch absehbar, dass diese Beziehung keine Zukunft hat. Aber vielleicht geht es ja gerade darum: dass wir den beiden in Staffel drei beim Streiten zuschauen können.
Bettina Dyttrich