Die Krise von unten: Miteinander, am besten ohne Staat

Nr. 17 –

In der Coronawelt entstehen solidarische Hilfsstrukturen für die Schwächsten. Ist das der Weg zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft?

Während der Coronapandemie gibt es auch Positives zu berichten: Auf der ganzen Welt spriessen Hilfs- und Unterstützungsangebote aus dem Boden – darunter auch Graswurzelprojekte für ArbeiterInnen und Marginalisierte. Mit dabei sind mancherorts auch anarchistische, antiautoritäre und antikapitalistische Gruppen und Initiativen – und dies ist wohl kein Zufall: Schon vor der Pandemie beriefen sie sich auf das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, setzten auf Selbstbestimmung und propagierten den Aufbau von «Solidarität von unten».

So etwa in Griechenland, wo nach der Finanzkrise 2008 und durch die EU-Spardiktate das staatliche Gesundheitssystem und der Wohnungsmarkt nahezu zusammenbrachen. In der Folge entstanden zahlreiche autonome Selbstverwaltungsstrukturen, wie anarchistische Gesundheitszentren oder besetzte Unterkünfte für Geflüchtete. Strukturen, die nun auch während der Coronakrise funktionieren: So zeugen Bilder auf Twitter und Onlinemedien von einer Aktion der anarchistischen Gruppe Rouvikonas Ende März, in der sie einem Athener Pflegeheim dringend benötigte lebensnotwendige Güter und Hygieneprodukte wie Latexhandschuhe, Toilettenpapier oder Putzmaterialien lieferten. Das Heim hatte wegen Versorgungsengpässen öffentlich um Hilfe gerufen.

Pasta und Tomaten für 500 Haushalte

In Neapel verbringt Giuliano Granato von der radikal-linken Bewegung Potere al Popolo (die Macht der Bevölkerung) täglich Stunden am «roten Telefon». «Anfang März registrierten wir plötzlich vermehrt Anrufe von Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich bei uns über die Zustände am Arbeitsplatz beschwerten. In den Fabriken wurden keinerlei Schutzmassnahmen umgesetzt, Abstandsregeln nicht eingehalten, Masken waren nicht vorhanden», sagt der 34-Jährige am Telefon. Potere al Popolo wurde Ende 2017 im Hinblick auf die nationalen Wahlen im März 2018 gegründet (siehe WOZ Nr. 8/2018 ) und ist heute – nachdem der Einzug ins Parlament nicht klappte – ein breites Netzwerk von BasisaktivistInnen und sozialen Bewegungen und keine klassische Partei.

«Wir haben dann im März umgehend die Strukturen des ‹roten Telefons› ausgebaut», sagt Granato. Die Gespräche würden sich um Fragen drehen wie: Wie lässt sich ein Streik organisieren? Wie bekommt man ein Arztzeugnis? Was ist mit den unzähligen Personen, die im Schwarzarbeitsmarkt tätig sind und nun auf der Strasse stehen? Vier Personen koordinieren die Anrufe, vier AnwältInnen kümmern sich um die rechtlichen Fragen, während ein etwa zwanzigköpfiges Team im Hintergrund Informationen sammelt, Musterdokumente zusammenstellt, die zuständigen Kontakte heraussucht. «Dann gehen wir auf unsere Leute in den jeweiligen Städten oder Regionen zu, damit sie vor Ort konkret Unterstützung bieten können.»

Wie in einer Papierfabrik des Fedrigoni-Konzerns in der Region Marken, die sich nicht an die Schutzbestimmungen hielt: «Wir haben eine Pressemitteilung für die lokalen Medien aufgesetzt und diversen zuständigen politischen und kommunalen Instanzen einen Brief geschrieben», erzählt der Aktivist. Mit Erfolg, letztlich ergriff die Fabrik Schutzmassnahmen. Dass sich Hunderte von ArbeiterInnen beim «roten Telefon» meldeten, liege auch daran, dass viele Gewerkschaften in Italien – insbesondere die grossen – längst nicht mehr konsequent die Interessen der ArbeiterInnen vertreten würden, wie Granato sagt. Die rasche Hilfe des «roten Telefons» habe sich mittlerweile auch durch die Medienberichte herumgesprochen.

Das richtige Leben im falschen

Doch seit Ende März habe sich die Situation verändert. «Soziale und existenzielle Fragen sind in den Fokus gerückt. Statt der Wut überwiegt nun die Angst», sagt der Aktivist. Nun gibt es vielmehr Fragen wie: Wie soll ich mich und meine Familie ernähren, wenn der Job weggebrochen ist? Im südlichen Italien werden Supermärkte von der Polizei bewacht, um Diebstähle zu verhindern. Den Leuten geht das Geld aus, viele können schlichtweg nicht bezahlen, Hunger breite sich aus (vgl. «Angst vor dem EU-Diktat» ).

Potere al Popolo hat nun in mehreren süditalienischen Städten eine Essensausgabe organisiert und dafür eigene Telefonnummern eingerichtet. Ein Kernteam von acht Leuten koordiniert in Neapel die Ausgabe von Pasta, Tomaten, Zucker, Salz, Biskuits und Eiern an mittlerweile fast 500 Haushalte. Unterstützt werden sie von über vierzig freiwilligen HelferInnen. Finanziert wird das Projekt über Crowdfunding, bisher kamen 35 000 Euro zusammen. «Wir verteilen das Essen an Leute, die wir bereits durch unsere Basisarbeit und Aktivitäten in den Quartieren kennen», so Granato. «Es sind auch viele Leute aus migrantischen Communitys darunter, die nicht in kirchliche Kreise oder Mafiastrukturen eingebunden sind.»

Das Prinzip der «gegenseitigen Hilfe», auf das sich viele solcher Projekte beziehen, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Peter Kropotkin, Philosoph und Vordenker des kommunistischen Anarchismus, definierte das Prinzip in seinem 1902 erschienenen Buch «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt» als Gegenpol zum sozialdarwinistischen Grundsatz «Überleben des Stärkeren».

Als Beispiel führte Kropotkin die britische Rettungsgesellschaft für Schiffbrüchige, die Lifeboat Association, an: Das weit verzweigte Netzwerk von Seeleuten rettete in Seenot geratene Boote – ohne staatlichen Auftrag, ohne ökonomischen Eigennutzen, ohne Lohn. Über deren Arbeitsweise schrieb Kropotkin: «Die Arbeit wird gänzlich von Freiwilligen geleistet, die sich in Komitees und lokalen Gruppen organisieren; durch gegenseitige Hilfe und Einverständnis!»

Gerade solche Initiativen bewiesen, dass sich anarchistische Prinzipien auch innerhalb einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft realisieren lassen, schreibt der Frankfurter Philosoph Daniel Loick in seinem Buch «Anarchismus zur Einführung». Gegenseitige Hilfe sei ein Instrument des Widerstands gegen die neoliberale Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte und gegen das mit ihr verknüpfte Streben nach immer mehr Profit. Die wenigsten der existierenden oder gerade entstehenden Graswurzelinitiativen beziehen sich jedoch explizit auf Kropotkin. Sie stünden aber im Geiste der gleichen Ideen, von denen sich auch schon die Lifeboat Association leiten liess, sagt Loick der WOZ.

In den USA etwa werden seit Jahren viele Hilfsangebote für Arme von Freiwilligen geleistet: Weit verbreitet sind Foodbanks, wo Essen verteilt wird. In manchen Regionen gibt es gar Gesundheitskliniken, die von unbezahlten Pflege- und Medizinfachleuten betrieben werden. Viel ist derzeit auch von freier Gesundheitsversorgung und Gratisbildung für alle die Rede. Sie werden mehrheitlich mit einem umfassenden und sozialeren Staat in Verbindung gebracht – wie zum Beispiel vom linken Flügel der Demokratischen Partei in den USA rund um Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez. Anarchistische Gruppen setzen dagegen den Akzent mehr auf die Schaffung von vom Staat unabhängigen Strukturen und hegen den Wunsch nach einer dezentralisierten und auf lokaler Selbstorganisation beruhenden Gesellschaft.

Sich auf dieses Ziel beziehend, meint Philosoph Loick, sei eine über die Krise hinausgehende Wirkung wichtig: «Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe muss als Grundlage für eine Transformationsstrategie dienen. Es geht darum, über konkrete Projekte mit stabilen Strukturen eine Vorstellung davon zu schaffen, dass eine Gesellschaft ohne staatliche Organisation funktionieren und das Alltagsleben von unten organisiert werden kann.» Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe gehe dabei Hand in Hand mit konfrontativeren Praktiken: «Viele Initiativen sind direkt mit radikaleren Forderungen verbunden, wie zum Beispiel mit Hausbesetzungen oder Mietstreiks.»

Vernetzung im Hier und Jetzt

Ausgerechnet in den eigentumsfreundlichen USA wird derzeit rege über einen Mietstreik diskutiert.* MieterInnengruppen, lokale Bündnisse, aber auch anarchistische Kollektive rufen inzwischen dazu auf (siehe WOZ Nr. 15/2020 ). Unter dem Hashtag #rentstrike wird in Dutzenden von Städten und Regionen quer durch die USA dafür mobilisiert. Wie dringlich und weit verbreitet das Problem ist, fasste kürzlich das «Wall Street Journal» zusammen: Annähernd ein Drittel der Wohnungsmieten konnten im April nicht bezahlt werden.

So befindet sich seit Anfang April etwa das Hausprojekt «Station 40» in San Francisco, das vor rund zwei Jahrzehnten gegründet wurde, im Mietstreik. «Innerhalb weniger Tage wurden alle Veranstaltungen abgesagt, Bars und Restaurants geschlossen und eine weiche Quarantäne eingeleitet. Dadurch haben neunzig Prozent unseres Kollektivs entweder vollständig ihre Arbeit verloren, oder ihre Arbeitszeit wurde erheblich reduziert», schreiben die BewohnerInnen des Hauses auf der Website des anarchistischen Netzwerks Crimethinc. «Gleichzeitig werden die anderen zehn Prozent der BewohnerInnen aufgefordert, doppelt so hart im Sozialdienst zu arbeiten, um diese Krise zu bewältigen.»

«Wir erleben gerade eine Seuche in einem Land mit einem weitgehend privatisierten Gesundheitssystem. Wie in aller Welt sollen wir angesichts der realen Lebensgefahr zurzeit Tausende von Dollars für die Mieten ausgeben?», zitiert das umweltpolitische Magazin «The New Twenties» eine Bewohnerin. Das «Station 40»-Kollektiv ist deshalb überzeugt, dass «die einfachen Taktiken der Verweigerung wie ein Mietstreik, die Umverteilung von Ressourcen und die gegenseitige Hilfe» wesentlich seien, um die Krise zu überwinden. Damit der Mietstreik ein Erfolg werde, sei es unabdingbar, dass sich die MieterInnen einer Liegenschaft – oder die ganze Nachbarschaft – austauschten und organisierten. «Nur als gemeinsames Projekt, als starke und überregionale Bewegung kann der Streik gegen die VermieterInnen nachhaltig gelingen.» Ob es die involvierten Kräfte schaffen, über ihre eigenen Reihen hinaus dafür zu mobilisieren, ist derzeit unklar.

Gesundheit am Arbeitsplatz, Lebensmittelversorgung, medizinische Nothilfe, Wohnungssicherheit – die gegenseitige Hilfe hat viele Facetten. Ob ihre Dynamik über die Coronapandemie hinaus erhalten bleiben wird? Loick wünscht sich, dass sich eines Tages die gesamte Gesellschaft an den Tätigkeiten orientieren würde, die die Menschheit wirklich für ein gutes Leben braucht. Denn: «Ohne gegenseitige Hilfe gibt es keine Gesellschaft. Ohne Wettbewerb und Ausbeutung schon.»

* Seit Anfang dieser Woche ruft auch in der Schweiz ein Netzwerk von Gruppen und Einzelpersonen zum Mietstreik sowie zur gemeinsamen Organisierung der MieterInnen auf. www.mietstreik.ch