Schokolademuseum: Ohne Sklaverei keine Schoggi

Nr. 39 –

Mit grossem Brimborium hat die Schokoladefabrik Lindt ihr protziges «Home of Chocolate» in Kilchberg eingeweiht. Doch im Sklavereitest fällt das Schoggimuseum durch.

Hat man bei Lindt und Sprüngli alles vergessen? Oder, schlimmer noch, hat man es ausgeblendet? Die Figurengruppe «Menschenhandel» aus der Porzellanmanufaktur Kilchberg Schooren, um 1775. Foto: Schweizerisches Nationalmuseum, DIG-3771

Nähert man sich dem Schokoladeareal vom Seebad Kilchberg her, fällt einem der Schriftzug auf, der in riesigen Grossbuchstaben auf dem ersten Fabrikgebäude prangt: «Lindt rüngli AG Maître Chocolatier Suisse». Ich bin nach Kilchberg gefahren, um zu schauen, ob ausser den zwei Buchstaben sonst noch etwas fehlt, das mit «S» beginnt. Ich will mit dem neu eröffneten Schokolademuseum den Sklavereitest machen.

Bei der Baumwolle hat es sich in den letzten Jahren unter Historikern, Museumsleiterinnen und Ausstellungsmachern herumgesprochen, dass sie bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts weitgehend ein Sklavereiprodukt war. Noch in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts bekam man den Eindruck, der Textilrohstoff sei vom Himmel gefallen, wie im Lied von Johann Peter Hebel: «Isch echt do obe Bauwele feil? / Sie schütten eim e redli Theil / In d’Gärten aben un ufs Hus / Es schneit doch au, es isch e Gruus». Oder es schien, die Baumwolle wachse im englischen Lancashire, weil doch von dort das billige Maschinengarn in die Schweiz importiert wurde.

Heute aber unterlässt kein Textilmuseum und keine Indiennes-Ausstellung mehr den Hinweis auf die unbezahlte Zwangsarbeit von versklavten Menschen afrikanischer Herkunft auf den Baumwollfeldern der Amerikas. Auch das Johann-Jacobs-Museum in Zürich, das die Firmengeschichte des Kaffeeimperiums von Jacobs Suchard dokumentiert, klammert die Sklaverei und den SklavInnenhandel nicht aus und hat mit der Ausstellung «Kaffee aus Helvécia» auch schon die Schweizer Beteiligung an diesem Verbrechen gegen die Menschheit thematisiert.

Kardinal Roger in der Kakaokirche

Und auch der Tabak macht Fortschritte. 2019 erschien in einer Beilage des «Tages-Anzeigers» eine Publireportage der Firma Villiger über brasilianische Tabake, die das Kunststück schaffte, den Seefahrer Pedro Álvares Cabral wie auch die Tabak konsumierenden Indianer zu erwähnen, dazu den portugiesischen Staatsmann Marquês de Pombal, die Unabhängigkeit Brasiliens, die sandigen Böden und das Klima – nicht aber die SklavInnen. Heinrich Villiger bekam einen offenen Brief von mir, und es kam zu einem erfreulichen Mailwechsel, in dessen Verlauf der Firmenchef Besserung versprach.

Das neu eröffnete Schokolademuseum von Lindt hat die originelle Adresse Schokoladenplatz 1. Es ist ein protziger Bau mit einer gewölbten weissen Fassade, auf der in Goldbuchstaben der Schriftzug «Lindt Home of Chocolate» in der Sonne leuchtet, samt dem heraldischen Drachen der Familie Lindt. Die lange Warteschlange wird rasch abgefertigt, und ein Staffmitglied komplimentiert einen mit der Freundlichkeit eines Bankangestellten hinein.

Die Eingangshalle zum «Schoggi-Tempel des Schoggi-Königs» («Blick») hat etwas von einer modernen Kathedrale mit einem Hauch von Brutalismus. Dort, wo der Altar stehen sollte, erhebt sich der riesige Schokoladebrunnen, der am 10. September von unserem Kardinal des scheinbar sympathischen globalisierten Schweizertums (ein)geweiht wurde: Roger Federer, der Hohepriester des Konsums (Lindt, Rolex, Mercedes, Credit Suisse, Jura, Moët et Chandon, Barilla, Sunrise, Uniqlo).

Schokoladeduft statt Weihrauch

Die reiche Schweiz: das Land, wo nicht nur Milch, Honig und Geld fliessen, sondern auch Schokolade. In der Eingangshalle riecht es denn auch nicht nach Weihrauch, sondern es herrscht jener süssliche Duft, den ich als Bub bei der Schokoladefabrik Maestrani in St. Georgen einatmete, wo mein Vater als ungelernter Arbeiter und Bauernsohn seinen ersten Lohn bekam.

Aber bis hierher ist im Museum alles Geschmacksache, und darüber lässt sich streiten. Nicht mehr streiten kann man darüber, wie im Museum die Geschichte des Kakaos und der Schokolade dargestellt wird. Nachdem man sich durch eine Art tropische Plantage gekämpft hat, in der man alles über das Pflanzen der Kakaobäume, die Bewässerung und Pflege, die Ernte der reifen Früchte, das Spalten derselben, die Herausnahme der Samen, den Gärungs- und den Trocknungsprozess erfährt, findet man sich im 360-Grad-Panorama wieder, das die Geschichte des Kakaos erzählt.

Ich hatte erwartet, dass die Sklaverei vielleicht in einem Nebensatz, einem Abschnitt oder einem Bildchen vorkommen würde. Dann hätte ich mir überlegen müssen, ob es sich lohnt, gegen das Museum anzutreten. Tatsache ist aber: Sie kommt nicht vor.

Ausbeutung bis heute

Im Panorama geht es von der Kakaokultur der Maya und der AztekInnen in «Mesoamerika» über die «spanischen Entdecker» direkt nach Europa, wohin Bartolomé de las Casas das Getränk «in die alte Heimat» bringt und wo zuerst der «Europäische Adel und das vornehme Bürgertum», dann aber auch die «Europäische Arbeiterklasse» auf den Schokoladegeschmack kommt. Sklavinnen und Sklaven fehlen in Texten und Bildern, und auch die Plauderstimme des Audioguides, dem sonst keine Schokolade-Episode zu unwichtig ist, erwähnt sie nicht, sagt aber Sätze wie: «Zwischen 1550 und 1850 ändert sich nicht viel bei der Herstellung der Schokolade.»

Dabei änderte sich in dieser Zeit alles. Die ungeheure europäische Nachfrage nach Zucker, Tabak, Kaffee, Kakao, Indigo und Baumwolle führte damals in den Amerikas zu einer rasanten Ausweitung der Plantagensklaverei und zu einem ungeheuren Anstieg des transatlantischen SklavInnenhandels. Der tropische «Kakao-Gürtel», von dem in der Ausstellung immer wieder euphemistisch die Rede ist, war auch ein Sklavereigürtel. Zu ihm gehörten die Anbaugebiete in den Amerikas: Guayaquil in Ecuador, Caracas in Venezuela, Belém und Bahia in Brasilien, die holländischen und französischen Karibikkolonien. Dazu gehörten aber auch Sao Thomé und Principe, Ghana und Côte d’Ivoire, und dazu gehörte auch Niederländisch-Ostindien.

Die Kakaosklaverei beginnt mit der Ausbeutung und Versklavung der Indigenen im spanischen Kolonialreich des 16. Jahrhunderts. Bis Ende des 19. Jahrhunderts geht sie weiter mit der Ausbeutung und Versklavung Hunderttausender afrikanischer Menschen, und angesichts von Kinderarbeit und sklavereiähnlicher Ausbeutung in Westafrika ist sie offenbar auch im 21. Jahrhundert noch nicht überwunden, wie der Dokumentarfilm «Chocolate’s Heart of Darkness» zeigt. Die Schweizer Schokoladeindustrie, die 1819 mit Cailler in Vevey begann, arbeitete also über weite Strecken des 19. Jahrhunderts mit Kakao, an dem das Blut, der Schweiss und die Tränen der SklavInnen klebten.

Bitte überarbeiten!

Dass es Sklaverei und SklavInnenhandel gab, wusste man in der Porzellanmanufaktur Schooren in Kilchberg, unweit von den Lindt-Fabrikanlagen am Zürichsee gelegen, schon im 18. Jahrhundert. Die dort produzierte Figurengruppe «Menschenhandel», die sich heute im Landesmuseum befindet, zeigt einen Sklaven in Ketten, der gerade von einem weissen, europäischen Sklavenhändler an einen weissen, europäischen Edelmann verkauft wird. Im 21. Jahrhundert hat man bei Lindt offenbar alles wieder vergessen. Oder, schlimmer noch, man hat es ausgeblendet.

Wie Heinrich Villiger bekommt darum nun auch Lindt-CEO Ernst Tanner einen offenen Brief von mir. Der Titel des Briefs lautet: «Ohne Sklaverei keine Schokolade; ohne Schokolade keine Lindt und Sprüngli», ein abgewandeltes Marx-Zitat («Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie»). Im Brief heisst es: «Das 360-Grad-Panorama zur Geschichte des Kakaos ist höchstens ein 120-Grad-Panorama, weil diejenigen zwei Drittel der Menschheit, die damals unfrei waren, nicht erwähnt werden.» Ich habe Herrn Tanner geschrieben, dass das Panorama deshalb neu konzipiert und neu gestaltet werden müsse. Eine vorübergehende Schliessung des Museums werde dazu wohl unumgänglich sein. Das wird zwar nicht ganz billig, aber Geld scheint es in Kilchberg genug zu geben.

Hans Fässler (66) ist Historiker, Politiker und Kabarettist in St. Gallen. Er setzt sich seit rund zwanzig Jahren mit der Beteiligung der Schweiz an der Sklaverei auseinander, etwa in seinem Buch «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» (Rotpunktverlag, 2006) oder seinem Kabarettprogramm «Louverture stirbt 1803».