Coronastress: Im Zweifel debattieren

Nr. 43 –

Im Februar rissen wir auf der Redaktion unbeholfene Witze über Corona, denen die Angst schon anzuhören war. Anfang März verfolgten wir entsetzt die Berichte über die abgeriegelten Gemeinden in Norditalien, und viele waren der Meinung, so etwas sei in der Schweiz undenkbar. Und in der ersten Lockdownwoche diskutierten wir, ob die strikten Coronamassnahmen autoritär und übertrieben oder eine angemessene Antwort auf die drohende Überlastung der Spitäler seien.

So ähnlich wie der WOZ-Redaktion geht es dieses Jahr allen: Dauernd müssen wir dazulernen, Unsicherheit aushalten, neue Entwicklungen einordnen. Bei kaum jemandem blieb die Einschätzung seit März die gleiche: Wir justieren dauernd nach, sind einmal ängstlicher, einmal optimistischer, und beurteilen als Folge davon die Massnahmen – und das Verhalten unserer Mitmenschen – immer wieder anders. Im Juni, als es aussah, als komme alles gut, schien Tanzen im Club ohne Maske vertretbar, ein paar Wochen später wirkte es schon wieder unverantwortlich. Dass körperliche Nähe in Pandemiezeiten etwas Unmoralisches, Anrüchiges bekommt, ist wohl unvermeidlich, aber trotzdem fatal.

Hier liegt wohl einer der Gründe für das verbreitete Unbehagen an den Coronamassnahmen: Konsequenter Abstand tut unseren Körpern einfach nicht gut. Das dauernde Abwägen: Wen umarme ich noch? Wann ist es gerechtfertigt, für körperliche Nähe ein Risiko in Kauf zu nehmen, weil zu viel Distanz das Leben unerträglich macht? Wo ist die richtige Balance zwischen legitimen eigenen Bedürfnissen und Einschränkungen zum Schutz der Schwächeren? Wie respektieren wir gleichzeitig jene, die grosse Angst vor dem Virus haben, und jene, bei denen die Einschränkungen psychisches Leid verursachen?

Die Unsicherheit könnte im besten Fall zu einer grösseren Offenheit führen. Leider geschieht aber oft das Gegenteil: Unsicherheit führt zu Verhärtung. Wir ändern zwar dauernd unsere Meinung, aber merken es nicht einmal. Die Debatten werden holzschnittartig. Ein Beispiel: Schon lange war die Diskussion über Schul- und Alternativmedizin nicht mehr so undifferenziert – es scheint nur noch ein Entweder-oder möglich. Als gäbe es nicht seit 1968 eine differenzierte linke Kritik an der Schulmedizin. Als könnte man die ganze sogenannte Alternativmedizin – auch hochkomplexe Heiltraditionen wie die Phytotherapie und die traditionelle chinesische Medizin – in einen Topf werfen.

Natürlich wirkt Echinacea keine Wunder gegen Corona – aber das Immunsystem zu stärken, ist doch eine gute Idee. Klar hat Rudolf Steiner hochproblematische Ansichten vertreten – trotzdem sind die wenigsten Anthroposophen Nazis. Und wer das Verbot, während der Quarantäne spazieren zu gehen, kritisiert, ist noch keine Coronaverharmloserin.

Auch wenn der Lockdown ausbleibt: Für die Gesellschaft ist die zweite Welle gefährlicher als die erste. Die Stimmung ist gereizt, die Debatte viel polarisierter als im Frühling – sofern sie überhaupt noch stattfindet. Längst nicht alle, die die staatlichen Coronamassnahmen kritisieren, sind Rechte und VerschwörungstheoretikerInnen. Aber sie drohen es zu werden, wenn sie sich abgehängt fühlen und sich nur noch über obskure Internetquellen informieren.

Corona ist auch deshalb eine Überforderung, weil wir Forschung in Echtzeit miterleben – mit allen Gegenthesen, Widersprüchen und Unsicherheiten. Vielleicht stellt sich in ein paar Monaten heraus, dass nicht alle Massnahmen, die jetzt gelten, wissenschaftlich gerechtfertigt sind: Wir wissen es noch nicht. Doch gerade dieses Unwissen verpflichtet, sie umzusetzen, bis wir mehr wissen. Gleichzeitig ist es dringend nötig, laufend über den Umgang mit Corona zu diskutieren und dabei auch kontroverse Studien zu beachten. Damit die Unsicherheit nicht zu Verhärtung führt. Sondern uns langfristig klüger macht.