Durch den Monat mit Sandra Künzi (Teil 1): «Fehlt den Leuten die Kultur überhaupt?»

Nr. 45 –

Die Bernerin Sandra Künzi ist Autorin, Musikerin, Kulturveranstalterin und Juristin. Angesichts des erneuten Kulturlockdowns stellt sie sich existenzielle Fragen.

«Was ist meine Arbeit wert? Was ist Luftfahrt wert? Ich finde, das dürften sich alle ab und zu mal fragen»: Sandra Künzi im Berner Schlachthaustheater.

WOZ: Sandra Künzi, während des Lockdowns im Frühling sagten Sie in einem Interview, für die Kultur komme das Schlimmste noch. Ist es nun da?
Sandra Künzi: Ja, ich glaube, das ist jetzt das Schlimmste. Denn die Reserven sind aufgebraucht, die Kulturschaffenden – und nicht nur sie – mögen nicht mehr. Viele haben das Coronathema einfach satt. Hinzu kommt, dass wir alle nicht wissen, wie lange das noch dauert. Diese Ungewissheit dünkt mich genauso schlimm wie die ökonomische Unsicherheit. Wenn du weisst, es ist in drei Monaten vorbei, dann geht das irgendwie, auch finanziell. Aber wenn du nicht weisst, wie lange es noch geht, dann wird es richtig schlimm.

Seit letzter Woche dürfen schweizweit nur noch Veranstaltungen mit höchstens fünfzig Personen stattfinden, in einigen Kantonen mussten alle Kulturlokale ganz schliessen. Haben Sie mit einem zweiten Kulturlockdown gerechnet?
Nein. Ich dachte, mit den Schutzkonzepten der Kulturbranche, die sehr genau und akribisch umgesetzt wurden, habe man alles unternommen, um dies zu verhindern. Doch als die Zahlen täglich explodierten, wurde auch mir klar, jetzt kommt wieder «Bleiben Sie zu Hause».

Kulturinstitutionen und Kulturschaffende reden von einem «Berufsverbot». Würden Sie das auch so nennen?
Ja, der Lockdown ist ein faktisches Berufsverbot. Man könnte auch sagen: eine fristlose Kündigung. Freundinnen von mir waren mit ihrem Stück in Bern in der Schlussprobe, als sie erfuhren, dass im Kanton Bern ab Mitternacht alle Kulturlokale geschlossen würden. Keine Premiere – zumindest nicht mit Publikum. Das ist wie eine fristlose Kündigung. Das ist, als würde der Chef dir sagen, dass du den Schlüssel abgeben und dein Büro in einer Stunde geräumt haben musst. Natürlich kann man es besser nachvollziehen, weil es in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext steht. Aber der Schock, dass dir die Arbeit weggenommen wird, ist schon extrem schlimm.

Während viele Veranstaltungslokale schliessen, weil es sich für sie nicht lohnt, den Betrieb fortzuführen, versuchen andere, irgendwie weiterzumachen.
Es ist nachvollziehbar, dass die subventionierten Häuser, die im Moment noch weniger finanzielle Probleme haben, sagen: Wir wollen um jeden Preis offen bleiben. Gleichzeitig überlegen sich nichtsubventionierte Veranstalter, zu schliessen, weil ihnen fünfzig Zuschauer ökonomisch gar nichts bringen. Denn die Fixkosten bleiben ja dieselben. Und die Frage ist, ob diese fünfzig Leute überhaupt kämen – denn die Botschaft des Bundesrats ist ja klar: Bleiben Sie zu Hause! Diese Ambivalenz gibt es nicht nur in der Kulturbranche, die hat auch der Bundesrat, die hat die ganze Gesellschaft. Alles ist im Moment ambivalent.

Deswegen wissen wir nicht, ob die Entscheidungen, die wir zurzeit fällen, richtig oder falsch sind. Aber wir wissen, dass wir die Ansteckungen dringend eindämmen müssen, sonst kollabiert die Pflege. Daher kann ich die erneuten Einschränkungen prinzipiell nachvollziehen.

Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn das ganze kulturelle Leben runtergefahren wird und nun fehlt?
Manchmal frage ich mich: Fehlt den Leuten die Kultur überhaupt? Ich finde es sehr schwierig, als Kulturschaffende immer zu behaupten: «Natürlich fehlt den Leuten die Kultur!» Da müsste man schon die Leute selber fragen. Natürlich, ich persönlich konsumiere extrem viel Kultur, und es ist für mich schlimm, wenn ich keine Theater, Konzerte, Lesungen besuchen kann. Aber fehlt es denn wirklich? Oder ist das nur in meiner Blase so?

Sie setzen sich seit Monaten bei der Taskforce Culture für das Überleben der Kulturbranche ein. Stellen diese Überlegungen nicht Ihren ganzen Einsatz infrage?
Das Gute an der Krise ist doch, dass man diese Fragen stellt. Dass man sich fragt: Braucht es meine Arbeit überhaupt? Und was ist meine Arbeit wert? Was ist Luftfahrt wert? Ich finde, das dürften sich alle ab und zu mal fragen.

Das ist aber sehr deprimierend …
Sich zu fragen, ob es einen braucht? Das finde ich schon eine legitime Frage – auch als Kulturschaffende. Warum ist Kultur unverzichtbar? Darüber darf man schon immer wieder neu nachdenken. Mich begleitet seit jeher ein schlechtes Gewissen, dass ich als Kulturschaffende Geld vom Staat bekomme. Aber das ist wohl meine persönliche Geschichte. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, in der Kultur keinen grossen Stellenwert hatte.

Warum haben Sie sich überhaupt die Kultur als Tätigkeitsbereich ausgesucht?
Es ist der Ort, an dem ich am meisten Freiheit habe, mich auszudrücken. Ich betrachte die Kultur als den Ort, an dem man die Werte einer Gesellschaft reflektiert. Das ist der Grund, warum es Kultur gibt, warum es sie unbedingt braucht – und warum ich Kultur mache.

Als Präsidentin von t. Theaterschaffende Schweiz und Mitglied der verbandsübergreifenden Taskforce Culture kämpft Sandra Künzi (51) dafür, dass die Kulturschaffenden möglichst unkompliziert die versprochene Unterstützung erhalten. Wie kompliziert das ist, erklärt sie nächste Woche.