Migration: «Die Kanaren sind afrikanisch»

Nr. 49 –

Die Grenzabwehr der EU zwingt immer mehr Geflüchtete zur gefährlichen Überfahrt auf die Kanarischen Inseln. Die spanische Regierung lässt sie nicht aufs Festland. Die Inselbevölkerung schwankt zwischen Besorgnis und Hilfsbereitschaft.

Meterhohe Wellen überstanden: Ankunft der «Hinad 5» im Hafen von Arguineguín.

Applaus im Hafen von Arguineguín: Ein Holzschiff irrt in Schlangenlinien Richtung Ufer. Menschen rennen ihm entgegen, pfeifen und fuchteln in Fahrtrichtung. Sirenen ertönen, die Guardia Civil fährt vor. Einer an Bord bringt den Aussenmotor in die richtige Position, um das Schiff zum Pier zu steuern.

Am Ufer senkt ein Mann seine Handfläche. «Kinder!», sagt er immer wieder, während die Jugendlichen von Menschen in weissen Ganzkörperanzügen an Land geholt werden. Im Hintergrund drückt sich ein Regenbogen durch die Wolken über den Apartmentkomplexen. Eines der wenigen Schiffe, die es in den letzten Wochen bis in einen Hafen Gran Canarias geschafft haben, ist soeben gelandet. Das Boot trägt den Namen «Hinad 5».

Rund 19 000 Geflüchtete sind dieses Jahr schon auf den Kanaren gestrandet. Allein im November waren es an die 9000. Ihr Weg vom afrikanischen Festland gilt als eine der gefährlichsten Migrationsrouten der Welt. Gemäss der internationalen Organisation für Migration (IOM) findet mindestens jeder Sechzehnte, der die Reise wagt, im Meer den Tod.

Vom Pier ins Hotel

Die Pandemie hat das Bedürfnis, zu migrieren, verstärkt, etwa im touristischen Marokko, aber auch in den Ländern der Sahelregion, wo wieder vermehrt bewaffnete Konflikte aufflammen. Die direktesten Wege von Afrika nach Europa führen dabei über das Mittelmeer und die zwei spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Doch diese Routen werden seit Jahrzehnten immer stärker abgeriegelt.

Die Europäische Union setzt zudem alles daran, die Flucht durch Libyen und den Niger zu verhindern. Sie finanziert etwa die libysche Küstenwache mit Millionenbeträgen, trotz regelmässiger Menschenrechtsverletzungen. Und kurz nachdem der Niger vor einigen Jahren den Transport von MigrantInnen verbot, ist das Land zum weltweit grössten Pro-Kopf-Empfänger von EU-Entwicklungshilfe geworden.

Westafrika-Route Karte: WOZ

Eine Studie der IOM zum Senegal kam 2019 indes zum Schluss: Ob sich die Befragten auf den Weg machen, hängt nicht davon ab, wie gefährlich die Routen sind. Die Heimat zu verlassen, kann ihnen Erfolg bringen. Kommt hinzu: Wegen Corona wurde es auch in Afrika schwieriger, Ländergrenzen zu passieren. Alles Faktoren, die für eine gefährliche Reise auf die Kanaren sprechen.

Salif Traoré* kam vor zwei Monaten im Hafen von Arguineguín an. «Auf das Boot zu gehen, war hart», erinnert sich der Mann aus Mali. Mit ihm an Bord: achtzig Personen, ein GPS-Gerät, Kekse und Wasser. «Einige waren krank.» Zwölf Tage habe die Überfahrt aus dem rund 1500 Kilometer entfernten Senegal gedauert. Gekostet habe ihn die Reise 3300 Franken, die ganze Familie habe dafür zusammengelegt. Fast jeder Zweite im krisengebeutelten Mali lebte schon vor Corona unter der absoluten Armutsgrenze. Traoré sagt, er habe das Land wegen des Krieges verlassen.

Thomas Nuding ist ziviler Seenotretter. Er kam aus Süddeutschland nach Gran Canaria, um die halbstaatlichen Seenotretter des Salvamento Marítimo zu unterstützen. Sie sind mit 25 HelferInnen vor Ort. «Das ist nix», sagt der Skipper. Praktisch alle MigrantInnen, die auf den Kanaren ankamen, wurden von der Organisation an Land gebracht.

Der Skipper zeichnet mit den Händen ein V in die Luft. Je weiter weg von der Küste, desto breiter könnten sich die Routen der Boote streuen, abhängig von Wind, Wellen und Strömung. Derzeit sei es schwierig, die Boote zu orten. «Wir wissen nicht, wo sie losfahren.» Auch die Behörden hätten diese Informationen nicht. «Oder sie geben sie nicht raus.» Über fünf Meter hoch würden die Wellen bei diesem Wetter.

Die Kranken auf Salif Traorés Boot kamen im Hafen von Arguineguín in ein Spital, er selbst in eines der Zelte auf dem Pier. «Neun Tage war ich dort», sagt er. Geschlafen habe er auf dem Boden, Duschen habe es keine gegeben, gegessen habe er Brot. «Doch das war okay», sagt Traoré und spannt sein T-Shirt. Immerhin habe er etwas abgenommen.

Anfang November schliefen über 2000 Menschen auf dem Pier. Human Rights Watch kam nach einem Besuch zum Schluss, dass die Bedingungen völlig unzureichend seien – «selbst wenn die Kapazitäten nicht erschöpft wären». Den MigrantInnen solle zudem ein fairer Zugang zum Asylverfahren geboten werden. Unabhängig davon, woher sie kämen, müssten alle einen Abschiebebefehl unterzeichnen. Zugang zu Anwältinnen und Übersetzern sei kaum gegeben.

Der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska hat angekündigt, das Lager auf dem Pier von Arguineguín schliessen zu wollen. «Wir werden die Kanaren nicht zu einem neuen Lesbos werden lassen», sagte er in einem Fernsehinterview. Doch ans Festland holen möchte er die Menschen nicht, aus Angst, falsche Zeichen nach Marokko und dem Senegal zu schicken. Seine Strategie: die wegen Corona ausgesetzten Rückführungen in diese Länder möglichst rasch wieder aufzunehmen. Doch Marokko und der Senegal scheinen bisher wenig Interesse zu zeigen. Inzwischen werden die meisten der MigrantInnen in Hotels und auf einem Militärgelände untergebracht.

Für rund 5500 Gestrandete wurden Hotels angemietet, die wegen der ausbleibenden TouristInnen sonst leer stehen würden. Auch Salif lebt in einem Zwei-Sterne-Hotel. «Dort ist alles gut», sagt er. Nur einmal hätten sie dafür streiken müssen, dass man trotz Verspätung noch zu essen bekomme. Wie die meisten anderen möchte er weiter aufs spanische Festland, «zu einem Cousin in Barcelona» – und dort Spanisch lernen.

Der kanarische Hotelverband drängt darauf, sämtliche Hotels für den erhofften Wintertourismus zu räumen. «Die Situation am Pier von Arguineguín ist weiterhin besorgniserregend», sagt dessen Vizepräsident Tom Smulders. «Aber in diesem Moment müssen wir uns darauf konzentrieren, das touristische Image von Gran Canaria als Reiseziel mit Qualitätsgarantie zu stärken.» Kurz darauf wird der Pier komplett geräumt.

Touristischer Tunnelblick

Soraya Pérez* lebt einige Autominuten ausserhalb von Las Palmas, der Hauptstadt Gran Canarias. Ihre Nachbarschaft besteht aus einer Schule irgendwo am Ende einer kurvigen Strasse inmitten grüner Hügel. Seit auf dem verlassenen Militärgelände MigrantInnen untergebracht würden, sei das Schlafen schwieriger geworden, sagt Pérez. Rund um die Uhr brummen die Generatoren. «Ich möchte gar nicht wissen, wie laut es im Camp ist.» Anfangs habe sie sich nachts gefürchtet. «So viele junge Männer direkt vor dem Haus.» Doch ihre Ansicht habe sich geändert: «Wer ein bisschen empathisch ist, kann das nicht in Ordnung finden.» Im touristischen Süden der Insel gingen am Tag zuvor 800 Menschen auf die Strasse. Auf einem Banner, das sie vor sich hertrugen, stand: «Retten wir den Tourismus». Und auf einem anderen: «Hotels sind keine Einwanderungszentren.»

Auch andere Parolen sind zu hören. Vor der Statue eines Opernsängers in Las Palmas rufen Protestierende im Nieselregen: «Heute ist wie gestern. Die Kanaren sind afrikanisch!» Ivan Ruiz*, einer der Organisatoren des Protests, sagt: «Wir haben viele Probleme.» Die Arbeitslosigkeit auf den Inseln liegt bei 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist bedeutend höher. «Doch die Migranten sind nicht dafür verantwortlich.» Die KanarierInnen sähen Tourismus als die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Vier von fünf Stellen hängen direkt oder indirekt von diesem ab. «Doch Tourismus ist fragil.» Der traurige Beweis dafür sei die Pandemie.

Ruiz: «Wir alle wussten, dass bald wieder mehr Migranten kommen.» Bereits 2019 hatten Flüchtlingsorganisationen dazu aufgerufen, einen Plan für eine humanitäre Krise zu entwickeln. Von der politischen Überforderung, sagt der Lehrer, würden vor allem die einen profitieren: «die Rechtspopulisten».

*Namen geändert.