Kommt das Züchtigungsverbot?: Gesetzlich tolerierte Ohrfeigen

Nr. 50 –

Körperliche Bestrafung von Kindern in der Familie soll verboten werden. Eine Erziehungswissenschaftlerin und eine Kinderrechtsexpertin erklären, warum sich die Schweiz mit diesem überfälligen Schritt so schwertut.

Mein Kind, meine Erziehung, meine Regeln? Und was, wenn diese Regeln physische Gewalt miteinschliessen? Gemäss einer neuen Studie der Universität Freiburg zum elterlichen Bestrafungsverhalten wenden fast ein Viertel aller Eltern in der Schweiz regelmässig physische Gewalt in der Erziehung an. «Es besteht dringender Handlungsbedarf», sagt Regula Bernhard Hug vom Kinderschutz Schweiz.

Dennoch ist Gewalt in der Erziehung in der Schweiz bis heute nicht verboten. In einem erneuten Versuch könnte das Züchtigungsverbot nun aber Erfolg haben. Am Mittwoch (nach Redaktionsschluss) beriet der Nationalrat über das Postulat «Schutz von Kindern vor Gewalt in der Erziehung» der Freiburger CVP-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach. Bei einer Annahme des Postulats durch den Rat müsste der Bundesrat klären, wie ein Züchtigungsverbot im Zivilgesetz verankert werden kann.

Bitte nicht einmischen

Immer wieder scheiterten in den letzten Jahren parlamentarische Vorstösse, ein Verbot der körperlichen Bestrafung von Kindern ins Gesetz zu schreiben. «Ich vermute, dass es am Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung liegt, warum man sich in der Schweiz so schwer damit tut, dieses Gesetz zu erlassen», sagt die Erziehungswissenschaftlerin Simone Brauchli. Selbstbestimmung sei in unserer liberal-demokratischen Gesellschaft ein stabiler Wert. «Hierzu gehört die Erziehungsautonomie, die in der Schweiz hoch bewertet wird. Jeder Eingriff in die Erziehungsautonomie ist darum legitimationsbedürftig.» Nicht zuletzt die anhaltende Kritik an der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb rechts der politischen Mitte verdeutlicht diese Einschätzung.

Simone Brauchli hat sich in ihrer Doktorarbeit und einem Buch intensiv mit den Themen Kinderschutz und Privatheit in der Familie befasst. Sie sagt: «Die familiale Privatheit ist anfällig für Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse, weil sie vom öffentlichen Blick abgeschottet ist und als Raum der Nichteinmischung gilt.» Auch in der Privatheit sei es wichtig, dass die Grundrechte aller darin enthaltenen Personen gesetzlich geschützt würden. «Dem Staat kann es nicht egal sein, wie es den schwächer Gestellten innerhalb einer Familie ergeht», sagt Brauchli.

Wie schwer sich die Schweiz mit der Reglementierung des vermeintlich Privaten und dem juristischen Schutz innerhalb von Familien tut, zeigte die Diskussion über Vergewaltigung in der Ehe. In der Schweiz ist diese erst seit 1992 strafbar und – genau wie Gewalthandlungen in der Ehe generell – erst seit 2004 ein Offizialdelikt. Reichlich spät für ein westeuropäisches Land.

In erster Linie symbolische Wirkung

Was die körperliche Züchtigung in der Erziehung angeht, so sind etwa Ohrfeigen seit 1978 zwar nicht mehr ausdrücklich, aber nach gerichtlicher Auslegung dennoch erlaubt. Auslegung bedeutet hierbei, dass die Züchtigung ein «von der Gesellschaft toleriertes Mass» nicht überschreiten darf. Doch was ist dieses Mass? Und wer ist die Gesellschaft, die dieses festlegt?

«Kinder haben genauso Grundrechte wie Erwachsene», hält Brauchli fest. «Jedes Mal, wenn unsere Gesellschaft zulässt, dass Grundrechte verletzt werden, haben wir ein Legitimitätsproblem, denn wir können nicht begründen, warum innerhalb eines Eltern-Kind-Verhältnisses die Selbstbestimmung der Eltern höher zu gewichten sei als das Grundrecht der Kinder auf den Schutz vor Unversehrtheit.» Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz fasst zusammen: «Erziehung mag Privatsache sein, Gewalt an Kindern ist es nicht.»

Ein Verbot von Gewalt in der Erziehung hätte in erster Linie eine symbolische Wirkung. Es würde aussagen, dass die Verletzung der körperlichen Integrität eines anderen Menschen weder erlaubt noch toleriert wird – auch nicht innerhalb der familiären Privatsphäre. Brauchli: «Natürlich kann über das Recht die Praxis nicht sofort geändert werden, aber es wäre ein Signal, dass sich die Gesellschaft darauf verständigt, eine solche Praxis nicht länger zu tolerieren.»

Gemäss Simone Brauchli gibt es unterschiedliche Gründe, warum Eltern gewalttätig werden. Bei manchen gehört physische Gewalt fest zur Erziehungspraxis, bei den meisten jedoch erfolgt sie aus einem Gefühl der Überforderung. «Die meisten Eltern wollen nicht Gewalt in der Erziehung anwenden», sagt Bernhard Hug. Bei Eltern-Kind-Problemen seien die Eltern meist in einer Sichtweise gefangen, in der sie meinen, dass die Kinder ihnen das Leben schwer machen, erklärt Brauchli: «Für die Kinder stellt sich die Situation anders dar, in den seltensten Fällen wollen sie mit ihrem Verhalten den Eltern bewusst Schaden zufügen.» Ein Verbot von Gewalt in der Erziehung könnte helfen, die Perspektiven der Eltern und jene der Kinder gleichwertiger zu machen. Und: «Der kleine Teil von Eltern, der Gewalt in der Erziehung legitim findet, beispielsweise um die Kinder zu disziplinierten Mitmenschen zu erziehen, dürfte über ein Gesetz gut zu erreichen sein. Sie orientieren sich selber an Werten wie Sicherheit und Ordnung», glaubt Regula Bernhard Hug.