Kost und Logis: Las la gah

Nr. 52 –

Bettina Dyttrich verehrt einen Fluss

Die Aare werde überbewertet, sagt einer, der nach Zürich gezogen ist. Stimmt überhaupt nicht, sage ich. Die Aare kann man gar nicht überbewerten. Was nervt, ist etwas anderes: dass manche BernerInnen meinen, sie hätten diesen Fluss erfunden. Aber sorry: Du kannst nicht auf einen Fluss stolz sein. Genauso wenig wie auf ein Herkunftsland. Beides ist nicht dein Verdienst.

Und überhaupt: Die Aare ist nicht von hier, und sie bleibt auch nicht. Sie fliesst weiter.

Sogar an den schlimmsten Sonntagnachmittagen, wenn sich die Gummiboote stauen und Sechzehnjährige mit knallrot verbrannten Rücken schwer betrunken «W. Nuss vo Bümpliz» singen, liebe ich diesen Fluss. Und letzten Sommer ganz besonders – nicht nur weil die Frankreichferien ausfielen. Noch nie war ich so oft in der Aare, und noch nie war ich so dankbar dafür. Nach dieser Ahnung, wie sich eine Ausgangssperre bei 30 Grad anfühlen würde, saugte ich jeden Tropfen, jeden Lichtreflex auf. Hörte noch genauer als sonst auf das Rieseln der Kiesel.

Ich lerne von der Aare, von ihrer pausenlosen Bewegung. Nicht zu verzweifeln, wenn mir die Felle davonschwimmen. «Las la gah» klingt wunderschön, gerade weil es im Berndeutschen scheinbar ein «lassen» zu viel hat: Lass es gehen lassen. Die Aare trägt dich schon.

Ich möchte noch mehr von der Aare: flusssurfen lernen und endlich auch im Winter schwimmen. Das habe ich bisher nicht geschafft, aber die, denen ich zuschaue, sehen stolz und zufrieden aus. Letzte Woche hatte das Wasser 6,8 Grad.

Noch schöner als in Bern ist sie oberhalb, Richtung Thun. Dort ufert sie aus, hat Seitenarme und kalte, klare Nebenbäche, fliesst an Kiesbänken, Schilfzonen und riesigen, von Bibern angenagten Weiden vorbei. Manchmal ein blaues Flirren in der Luft: ein Eisvogel, zu schnell fürs Auge.

Nicht einmal der Flugplatz stört. Er zeigt nur, dass die BernerInnen neben ihrem Stolz auf die angeblich schönste Stadt und den besten Fluss der Schweiz eben doch einen Minderwertigkeitskomplex haben. Lernt von der Aare und lasst ihn gehen, legt ihn still: Das wäre wahres Selbstbewusstsein.

Hier oben sah ich den Biber. Er schwamm im Nebenbach unter Wasser gegen die Strömung. Eine einzige fliessende Bewegung, ich sah in ihm einen Otter, einen Pinguin, ein Schnabeltier – alle haben diese ans Schwimmen angepasste Körperform. Wie in Trance folgte ich ihm bachaufwärts, etwa zehn Minuten. Dann stieg er aus dem Wasser und verlor alle Eleganz. Er watschelte die Böschung hoch, direkt an mir vorbei, und verschwand im Schilf. Wenn wir lange genug hinschauen, sehen sogar die Tiere dieses Planeten ausserirdisch aus.

Weiter oben kommt die Autobahn dem Fluss zu nah.

Belpmoos, ich will gar nicht «furt vo hie». Und schon gar nicht mit dem Flugzeug. Wenn schon, dann getragen vom Fluss.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.