Der Aare entlang: Gefangen in der Postkarte

Nr. 36 –

In der Hitze der Aare nach, von der Quelle bis zum Rhein. Auf dem Damenvelo, die Räder und die Gedanken kreisen. Heile Welt. Und dann Krieg, mitten im Aargau: Ein Nachruf auf den Sommer.

  • Granitfelsen, wie von riesigen Zungen blank geleckt, dazwischen die Aare, noch ein milchiger Bach, mit jugendlichem Übermut zu Tale schiessend.

Ich steh auf einer Schweizer Staumauer und schau Richtung Washington. Wie still es ist. Links vor uns das Oberaarjoch (3216 Meter ü. M.), rechts das Oberaarrothorn (3463 Meter ü. M.). Dazwischen der fünf Kilometer lange Oberaargletscher, aus dem der Oberaarbach entspringt, der schliesslich in den gestauten Oberaarsee mündet.

Die Strasse nach Grimsel Passhöhe zum Berghaus Oberaar ist schmal; entgegenkommende Autos können kaum passieren. Ich hab mir eine Mitfahrgelegenheit organisiert, hin und zurück. Die realitätsnahe Inszenierung des Geschehens auf Grimsel Passhöhe erfordert folgende Requisiten: Autos, Wohnmobile, Motorräder.

Dazugehörige Handlungen: Murmeli gucken, Pipipause machen, Souvenirs kaufen, Älplermagronen essen, Glace schlecken und sich gegenseitig ununterbrochen fotografieren. Im Hintergrund glänzen graugrüne Granitfelsen – wie blank geleckt in Vorzeiten, von riesigen Zungen. Aliens, die sich hier gütlich taten, vor Äonen? 

Ende Juli, und der Totesee ist noch immer teilvereist. Überall noch Schneeflecken und mannshohe Schneemauern. Der Buschauffeur erklärt in Berner Oberländisch: «Der Grimselstausee ist der grösste von allen Seen hier, 105 Millionen Kubik. Links oben die Gärstenhörner – und jetzt grad haben Sie einen schönen Blick ins Haslital.» Rechts schäumende, tobende, senkrecht herunterstürzende Bäche. Der Chauffeur: «Links unten sehen Sie den Säumerweg, vom Bodensee bis nach Rom. Dort hinten das Schreckhorn und das Finsteraarhorn. Und hier im Berg sind 130 Kilometer allein nur die Zugangstunnels für Arbeiten in den Wasserstollen. Vom Pass bis Innertkirchen eine einzige Baustelle.» 

Hier also beginnt es mit der Aare. Sie entspringt den sechs Gletschern der Gemeinde Guttannen. Das Wasser aus ihren sechs Seen wird intensiv zur Stromgewinnung genutzt. Gäche Felsen, steile Alpweiden, häufig terrassiert. Immer weichere Formen stellen sich ein. Überall noch Steine in den Weiden. Die Aare, immer noch ein Bach, ist auch bei Guttannen locker von Stein zu Stein zu überspringen. 

Als wärs ein Rennen

Rast in Meiringen, Zeitungen lesen, Menü 1 bestellen, halbe Portion. Es dunkelt. Das Velo ist im Einstellplatz, acht Kilogramm in den Velotaschen. Der Zug nach Brienz ist abgefahren, also nichts wie in die Pedale, parallel zu Aare und Autobahn. Als wärs ein Rennen: Ich befinde mich nun also auf der nationalen Veloroute 8, die sich vom Grimsel bis zur Aaremündung bei Brugg windet.

Nach einer Dreiviertelstunde in Brienz. Ich frage nach der Jugendherberge, erhalte Auskunft: links runter zum Strandweg. Tatsächlich: ein Chalet, von Velos umgeben. Ich klingle, mehrmals. Es ist gegen 22 Uhr, und jemand schimpft im Haus. Weiter vorn ist noch ein Chalet, das richtige, die Jugi.

Der Herbergsvater macht das Büro nochmals auf und checkt mich ein. Im Dunkeln betrete ich ein beinah volles Mehrbettzimmer. Es müssen elf Schläferinnen und Schläfer sein, auch Kinder. Im fahlen Mondlicht finde ich das letzte Bett, klettere auf die obere Pritsche, spüre ein feuchtes Tuch unter einer Sprosse, hieve meine sechzigjährigen sechzig Kilogramm auf die Matratze und strecke und strample mit den Füssen das Bettzeug einigermassen konform. Ein beruhigendes Konzert von unterschiedlichen Atem- und Schnarchrhythmen erfüllt den Raum. Irgendwie dumpf, irgendwie heilig, irgendwie heimelig. 

Alles schläft, einsam wacht: mein Problemzahn, der dritte Molar unten links. Soll er mein schwieriger Compagnon werden für die nächsten acht Tage? Und soll ich ihn wirklich Elvis nennen? Chuck Berry klingt besser. Auch kennt Chuck nicht gleich jeder. Mit dem Einschlafen meldet er sich. Hi, Chuck. Mein dritter Molar beginnt zu glühen, desgleichen mein Ohr. Chuck hat wirklich was drauf. Ich versuchs mit der Indianermethode und stelle mir vor, mein Kopf sei woanders. Das hilft zuweilen. 

Am Morgen stelle ich fest, dass ich geschlafen habe. Die gemischte Zimmerbelegschaft, die sich nun aus den Decken schält und gegenseitig anblinzelt, besteht aus mehreren Familien. Es ist 8 Uhr. Grosse Polonaise Richtung Toiletten. Kaffeemaschinen laufen an, Geschirr und Besteck rasseln, der Frühstücksraum füllt sich.

Grosses Trara: Ein Fünfjähriger hat T-Shirt, Hosen, Stuhl und Boden mit einem mächtigen Becher Ovo bekleckert. Am Tisch nebenan eine Familie, die mit drei Kindern jongliert. Die Mama legt eine Decke in die Ecke, und das fünfmonatige Baby spielt mit Füsschen, von denen es nicht weiss, dass es die eigenen sind.

Aus dem Brienzersee taucht eine Frau auf. Ich sortiere den Inhalt der Velotaschen neu. Zwei PET-Flaschen mit Wasser füllen, die Pneus prüfen, Gesicht, Hals, Arme und Beine einreiben und das verschwitzte T-Shirt mit zwei Holzklammern an den Bremsdrahtseilhülsen befestigen. Im Fachjargon: Schaltbowdenzugseele. 

Hochsaison des internationalen Misstrauens

9 Uhr, Abfahrt Richtung Interlaken. Ich sollte vielleicht mein Fahrrad vorstellen: ein blaues Damenvelo, Modell Swissair, Dreigangübersetzung, Jahrgang Mitte Sixties. Marco Berz, Badener Velomechaniker meines Vertrauens, hat eine krasse Powerbremse installiert, die das Rad selbst auf der gächsten Talfahrt in null Komma nichts zum Stehen bringt. Das Flattern des trocknenden T-Shirts ist Flagge und Unterhaltung zugleich. 

Am Familiencampingplatz Aaregg überquere ich die schmale Aare, die als milchiges Gletscherwasser mit jugendlichem Übermut in den braven Brienzersee schiesst. Und schon gehts bergauf. Nach fünfmal treten wird klar: Hier geht nur Stossen. Selbst die BikerInnen schalten in den tiefsten Gang und sind nur wenig schneller als unsereiner. Einen Nullkommafünfgang hätte ich mir aber schon schenken lassen. Zwei Kilometer bergauf, erbarmungslos. Sogar Chuck Berry hält sich zurück.

Auch Familien schleppen sich hoch, mitsamt Kleinkindern. Weiter vorn ein keuchender Vater mit zwei Buben auf dem Dreiradtandem. «Gib alles, Alain», ruft er über die Schulter, «gib alles!» Erfrischende Rast bei den Giessbachfällen. Die Strecke nun fast immer im Wald, da ist es auch um halb elf noch kühl. Immer noch auf und ab, jetzt aber unter der Sonne. Und runter an die Gestade des Brienzersees. 

Pause in Iseltwald. Das schnuckelige Dörfchen sitzt auf einer kleinen Halbinsel im Brienzersee und erinnert mich an die Faller-Häuschen, die wir in den sechziger Jahren als Fassade für die Spielzeugeisenbahn zusammengeleimt haben. Fast jedes Haus ein Chalet, alle mit Gemüse- und Blumengarten geschmückt, die Rasenflächen blitzsauber gemäht und gestaubsaugt. Und jetzt fährt auch noch das schmucke MS «Jungfrau» vor – erbaut in Kressbronn am deutschen Bodenseeufer, Fassungsvermögen 700 Personen, Baujahr 1954, ein Jahr älter als ich. 

Iseltwald ist das Paradebeispiel dessen, was Edward Snowden unlängst über die Schweiz sagte: «It’s like livin’ in a fuckin’ postcard.» Und: «Jesus Christ, sind die Schweizer reich! Sogar McDonald’s-Mitarbeiter verdienen mehr als ich.» Seine verblüffendste Einschätzung: «Ich habe noch nie Leute gesehen, die so rassistisch sind wie die Schweizer. Jesus, die schauen auf jeden runter. Sogar untereinander.»

Haben amerikanische Programmierer immer recht? Wie ist das denn mit ihrer und mit unserer Überheblichkeit? Taxieren und scannen auch wir tatsächlich Mensch für Mensch, als hätten wir eine kleine National Security Agency im Kopf? Und merken es nicht? Was für ein Sommer 2013 ist das überhaupt? Eine aufgeblähte Saison des internationalen Misstrauens – angestochen von einem jungen Systemadministrator? Als wären wir eingesperrt in eine grässliche, riesige, zum Kotzen tragische Castingshow? Und wo in aller Welt ist Edward Snowden? Vielleicht in http://memeburn.com/2013/06/where-in-the-world-is-edward-snowden-infogr…?

Und wir, wo sind eigentlich wir? Diese Velotour, gespickt mit SBB-Abschnitten, soll gefälligst ein Naturerlebnis mit Ansätzen von Denken und realen Gesprächen paaren. Ich möchte nun endlich mit jemandem reden. Redefreiheit, bitte! Aber es ist Sommer, brennende Sonne, nationaler Grillierbefehl. «Wir essen, um zu vergessen, trinken und versinken, und wir – rrrums! – malen ein Schiff mit einem Sonnenuntergang, Untergang, Untergang. Ciao, ciao, Messina, ciao, Terra Terra» (Moscowboys, 1986). 

Sich sonnen in lokaler Überlegenheit

Wie schön hatten wir uns das in der Redaktion ausgedacht: tagsüber pedalen in Dreissigkilometerabschnitten, absteigen in der nächsten Jugendherberge, duschen, Bier schnappen und dann Gespräche anzetteln. Nun sind aber offenbar viele SchweizerInnen schnell nicht mehr gesprächig, sobald sie merken, dass man etwas ernst meint. Dass es vielleicht länger dauert – im Sinn von reden miteinander – oder gar zu einem Gespräch führt. 

Aber an Gespräche ist kaum zu denken. Zu heiss, zu schwül, zu laut oder keine Zeit. Nun sitz ich auf dem Trockenen. Könnte es sein, dass dieser Sommer zur Saison der grandiosesten Unaufmerksamkeit verkommen ist? Ein junger Amerikaner riskiert sein Leben für Aufklärung. Das Publikum applaudiert – und wendet sich wieder seinen Vergnügungen zu.

Ganz anders steht es mit der Auskunftsbereitschaft: SchweizerInnen geben exzessiv gern Auskünfte. Ich hab das auf der ganzen Strecke schamlos ausgenutzt, gegen hundert Mal. Und der Deal stimmt: Ich erhalte Informationen zur Strecke, und die Menschen am Gartenhag dürfen sich in ihrer lokalen Überlegenheit sonnen. Nichts dagegen! 

Aber ein Gespräch? Ich will von A nach B. Aber auch von B nach Z. Um mich selbst zu unterhalten, verfertige ich – im Fahren natürlich – ein Abc der wichtigen und unwichtigen Dinge.

A wie Anfangen / B wie Bärengraben / C wie Vitamin / D wie Dusel / E wie ETH / F wie Fortschritt / G wie Garten Eden / H wie Bombe / I wie gitt / J wie Jodtabletten / K wie Kleinkredit / L wie Lutschen / M wie Matrix / N wie Natel / O wie schön / P wie Print / Q wie Quantentheorie / R wie Rummachen / S wie Snowden / T wie Tee / U wie Bahn / V wie Verlobt / W wie Warum / X wie X was / Y wie Yankee / Z wie Zukunft der Zukunft.

In Interlaken erkundige ich mich nach der besten Veloroute in Richtung Bern. Das Interlaken Tourist Office kann ausgerechnet diese Auskunft nicht erbringen. Die Dame und ich gucken belämmert in die Karte. Nichts zu finden. Da – ein Schrei. Drama: Ein Eineinhalbjähriges liegt am Boden. Mutter entsetzt, Vater vorwurfsvoll. Das Problem: Buggys für Zweijährige haben gelenkige Vorderräder, praktisch im Gewimmel. Wenn das Gefährt steht, kann Folgendes passieren: Dem Meiteli fällt der Nuggi aus dem Mund, es greift nach ihm, das Gewicht verlagert sich, die unfixierten Rädchen des Buggys kippen, das Kind liegt am Boden, und Frau und Mann gehn entzweit von hinnen. 

Zurück zum Bahnhof, dem Ort der Rationalität und der Pünktlichkeit. Noch einmal: Ich möchte der Aare entlang Richtung Bern. Per Velo bitte. «Die schönste Velostrecke», meint der junge Schalterbeamte fast raunend, «ist die von Thun bis Münsingen.» Das ist Bernerisch – da muss man zweimal fragen. Die Piste dann ein wunderschöner Veloweg, immer hübsch der Aare lang, meist bekiest und breit, aber je länger, desto schmaler. Und abenteuerlich bis auf Crossniveau. Einmal muss man, vermutlich verbotenerweise, unter einer wohl stillgelegten Bahnstrecke durchkriechen, das Velo flach durchgeschleppt. Es beginnt zu donnern, und ich fahre noch schneller als die Aare. Ausstieg aus der Route, Bahnhof Münsingen, Bahnhof Bern. 

Einchecken im Backpackerhotel Glocke, grad neben dem «Pyrénées». Es gibt da sozusagen nur Espresso und Bier, super.

Raunen im Café des Pyrénées

Wo, wenn nicht in der Hauptstadt, kann ich meine Festplatte zerstören lassen? Ist Bern zu harmlos? Zu Mundartrock? Gewiss: Bern hat so was Gewisses. Rückt nicht gleich mit allem raus. Me seyt nüt. Einerseits bieder, anderseits Understatement. In lauteren Beizen wie der «Wäbere» und dem «Falken» lernten StudentInnen Bier trinken. Und etwas studieren. Bei mir war das 1973 und die Stange eins dreissig. Seither haben sich fast all diese Spelunken in schicke Lokale verwandelt. Mit weissen Tischtüchern, was die höheren Preise rechtfertigen soll. 

Im Sechsbettzimmer treff ich Lara aus Texas. Sie steht auf Deutschland und ist fast jedes Jahr da. Die Schweiz rechnet sie dazu. Steckt ihre Füsse in toughe, hohe Boots, streckt mir die Zunge raus, und wir gehen was trinken. Auf der Nydeggbrücke verfolgen wir die Bemühungen des grössten Berner Bären, der mit einem iPhone spielt, das jemand vor seine Füsse fallen liess. Gern würde man die Filmchen sehen, die dabei entstanden sind.

Zweiter Tag in Bern. Ich mags da. Kritisch, klar, kritisch. Zum Frühstück lesen auf der Münsterplattform. Das Berner Münster im Umbau. Mit Rucksack, nennen das die BernerInnen. 

Das Viertelstundengeläut des Zytglogge klingt wie ein billiger Bottich mit Loch. Die Stundenschläge der Münsterglocken hingegen imponieren, sind bedächtig und schlagen mit gemessenem Abstand. Nachts habe ich fast die Hälfte aller Schläge mitbekommen. Heulender Nachtwind, Schlechtwetter im Anzug. Ich stellte mir einen klatschnassen Tag vor. Es wird im Gegenteil ein komplett sonnenbeschienener. Und fit dank Morgenfrische und Espresso im Café des Pyrénées. Schräg hinter mir zwei Spezis, die kompetent über Kokain und Waffen reden: «Wo ist die Grenze, ab wann man einen umlegen darf? Es gibt doch einen Punkt, nicht?»

Das Fahrrad wieder beladen, das zwei Tage an einer Pissecke ausharren musste. An der noch schlafenden Reitschule vorbeistrampeln, runter auf Aareniveau und auf die rechte Flussseite wechseln. Wanderweg oder Veloweg? Jedenfalls westwärts und mit Steinschlaggefahr. Zwischen Bern und Biel treffe ich, an einem Donnerstag, gerade mal 25 VelofahrerInnen und 10 WanderInnen oder umgekehrt.

Zwischen Bern und dem Wohlensee eine Szene von Sonnenanbeterinnen und Langsamschwimmern: Einige haben Schiffchen, andere sogar Häuschen. Das erinnert mich ans Datschagebiet im Umkreis von dreissig Kilometern um Moskau. Wohlen, Bremgarten und Muri kenn ich auch, aber nur in ihren aargauischen Varianten. 

VelofahrerInnen müssen in einem ehrfürchtigen Halbkreis um das AKW Mühleberg mit seinen Stacheldrähten und Hundeführern radeln, um eine intensive Ahnung von der Gefährlichkeit der Anlage zu erhalten. Was wohl im Geschichts-iPad 2050 über Mühleberg stehen wird? 

Von Bern nach Biel, das zieht sich. Oltigen, Bodenacher, Niederried, Aarberg, Bühl, Hermrigen – und kein bisschen Schatten. Im Hof Riedacher darf ich von einem Bauern meine leeren PET-Flaschen auffüllen lassen. Steil bergauf in den Wald. Endlich Kühle. Ich aber fix und fertig. Velo hinschmeissen und Gly-Coramin einwerfen. Geografisch stehe ich scheinbar im Unterholz vom Oberholz, einem bewaldeten Hügel über Biel. Handyanruf in die freundliche Lago Lodge, wo eine Dusche, acht Betten und ein Bier auf mich warten. Die Atmosphäre leger, der Abend warm, eine Engländerin singt, viele liegen und quatschen im Gras. Essen geh ich aber in die Altstadt, ins «St. Gervais», wo ein scharfes Bluestrio spielt. Der Platz vor dem Restaurant platschvoll. Spät kommt noch wer in den Schlafsaal, eine Frau. Vor dem Einschlafen sagt sie, das sei schon speziell, zwei Unbekannte in einem Schlafsaal. Gut Nacht.

Grosses Scherbenwischen

Anderntags darf mein Velo Schiff fahren. Biel–Solothurn. Leider bietet der Kahn nur zwei Optionen: gebraten werden auf dem Sonnendeck oder gekühlt werden im Unterdeck, also faktisch ein Restaurant. Vis-à-vis ein Paar aus Darmstadt, das alljährlich nach Biel und dann nach Altreu fährt. Weil man da immer gut parkieren könne – in Solothurn gebe es kaum Parkplätze. Der Mann hatte mit Brückenbau zu tun. 

In Solothurn checke ich in der Jugi ein und esse im «Kreuz», draussen, an einem kleinen Tisch. Es ist ein grosses Stadtfest im Gang, die SolothurnerInnen hängen entlang der Aare rum. Wenig später setzt sich eine junge Frau an meinen Tisch, na so was! Das Sich-zu-jemandem-Setzen hab ich in der Schweiz so selbstverständlich nur in Biel/Bienne und Solothurn erlebt.

Mitternacht, Schlafplatz suchen. Ein grosser, hoher Raum unter dem Jugidach, schwül und heiss. Es wird kaum kühl. Dann kommt der Auftritt der Putzequipe: grosses Scherbenwischen. Um 2 Uhr ist es fast ruhig. Bald aber schlägt die Stunde derjenigen, die nur sehr spät gehört werden: Rufe, Schreie, Grölen in der Nacht, in mehreren Sprachen. Einer stellt offenbar eine Szene nach, die er erlebt hat. «Amigo!», ruft er und imitiert ein Maschinengewehr. «Amigo, tacketacketack!» Und wieder: «Amigo, tacketacketacketack!» Nach einer Weile wird mir klar, woher er das hat. 

Es ist nur scheinbar nicht Krieg zwischen Grimsel und Koblenz. Wie zwischen Wladiwostok und Washington. Wären sie doch so unschuldig, wie sie tun, unsere hübschen Städte und Dörfer. 

Ich war dann auch noch in Olten. In Aarau. Und in Brugg. Und an der Stelle, wo Aare und Rhein zusammenfliessen. Das also war sie, die Aare. Täglich verschluckt vom Rhein. Und schon wieder ein Sommer vorbei, in dem wir nichts erreicht haben. Jedenfalls nichts Grosses. Schon gar keinen Frieden oder so was Verrücktes.

PS: Weshalb Chuck Berry sich aus dem Staub machte? Mein Bruder Dieter rief mich an, und ich erwähnte meinen bösen Zahn. Nelken kauen, sagte er. Nelken.

Auf verschlungenen Wegen

Die Aare durchfliesst auf 288 Kilometern ganz unterschiedliche Gebiete in der Schweiz: Die Quelle liegt auf knapp 2000 Metern im Unteraargletscher im Grimselgebiet – im Grenzbereich der Kantone Bern, Wallis, Uri und Tessin. Gespeist von achtzehn Nebenflüssen, passiert sie Städte wie Interlaken, Thun, Bern, Nidau bei Biel, Solothurn, Olten, Aarau und Brugg. Darauf nimmt sie – im «Wasserschloss» – Reuss und Limmat auf und fliesst nordwärts, bis sie an der Landesgrenze bei Koblenz in den Rhein mündet. Aus hydrologischer Sicht gilt der an dieser Stelle wasserärmere Rhein als Nebenfluss der Aare.

Mit der ersten Juragewässerkorrektion im 19. Jahrhundert sanierten Bund und Kantone das versumpfte und von Überschwemmungen bedrohte Berner Seeland und leiteten die Aare in den Bielersee um. Eine zweite Korrektion um 1960 verbesserte die Wasserstandsregulierung.

An der Aare befinden sich auch die drei Kernkraftwerke Mühleberg, Gösgen und Beznau, deren Kühlsysteme Wasser aus dem Fluss verwenden.