Impfgerechtigkeit: Nur das Beste für die Schweiz, für Afrika ein paar Reste

Nr. 52 –

Das Covax-Programm von WHO und anderen soll dafür sorgen, dass auch Länder des Südens möglichst rasch und günstig an Impfstoffe gegen Covid-19 kommen. Doch der Impfnationalismus von Ländern wie der Schweiz untergräbt dieses Ziel.

Als im Frühjahr die Welt unter dem Schock des neuartigen Coronavirus stand, beeilte sich die internationale Gemeinschaft, ihre Solidarität zu bekunden, und schwor, mit vereinten Kräften einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln. Bereits im April rief die Weltgesundheitsorganisation WHO zusammen mit der Impfallianz Gavi und CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) das Covax-Programm ins Leben, das für die gerechte Verteilung der Impfstoffe sorgen sollte: Die mittels der weltweit bereitgestellten Milliardenbeträge entwickelten Produkte, so der ausdrückliche Auftrag, sollten auch den ärmeren Ländern zugutekommen, indem sie dort billiger oder gar kostenlos angeboten würden.

Doch seit im Wochentakt ein Hersteller nach dem anderen sein Serum annonciert und deren Verwaltungsräte gebannt auf die rasant steigenden Börsenkurse blicken, ist es mit dem im Frühjahr verlautbarten Altruismus der Industrieländer nicht mehr weit her. Inzwischen haben sich die reichen Nationen, die nur dreizehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, über die Hälfte der im nächsten Jahr verfügbaren Impfdosen gesichert. «Es ist leider nicht viel übrig geblieben von der anfangs angekündigten Solidarität», monierte Mitte Dezember die Sprecherin der Hilfsorganisation Medico International, Anne Jung.

Wo bleibt die gerechte Verteilung?

Den Anfang machten die USA, die getreu dem Motto «America first» einen Exklusivvertrag mit dem französischen Hersteller Sanofi abschlossen für ein Serum, das noch gar nicht existierte. Die EU zog nach, als sie beim britischen Unternehmen Astra Zeneca ein Vorkaufsrecht aushandelte und die ersten Chargen des von Biontech/Pfizer entwickelten genbasierten Impfstoffs abschöpfte. Auch die Schweiz hat sich bei Biontech, Moderna und Astra Zeneca inzwischen 15,8 Millionen Impfdosen gesichert. Ein Fünftel davon bezieht sie im Rahmen von Covax, das sie umgekehrt mit lächerlichen 20 Millionen Franken sponsert. Damit gehört die Schweiz zu den am besten versorgten Ländern der Welt und kann – bei sehr optimistischer Prognose – bis zum Sommer 2021 drei Viertel ihrer Bevölkerung gegen Covid-19 immunisiert haben.

Das Nachsehen haben die Länder des Globalen Südens, aber auch Nicht-EU-Länder wie die Staaten auf dem Westbalkan, für die bisher nur eine Restpfütze übrig bleibt. Besonders betroffen ist der afrikanische Kontinent, denn die von Covax zugesicherten 220 Millionen Impfdosen, die meist doppelt verabreicht werden müssen, reichten gerade mal für knapp jedeN ElfteN der 1,3 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung. Doch das Covax-Programm, das von den USA und Russland überhaupt nicht unterstützt wird, ist unterfinanziert und kann die 92 hilfeberechtigten Staaten bislang gar nicht ausreichend mit Impfstoff versorgen. Das Global Health Innovation Center der Duke University in Durham hat ausgerechnet, dass erst 2024 genügend Impfstoff bereitstehe, um die Weltbevölkerung gegen Covid-19 zu schützen. Amnesty International schätzt, dass rund siebzig ärmere Länder höchstens zehn Prozent ihrer Einwohner werden impfen können.

Doch selbst wenn für Covax ausreichend Geld zur Verfügung stünde: Die Hilfe suchenden Länder werden in die Rolle von Bittstellern gedrängt und entweder vom Zuteilungsregime von Covax abhängig sein oder sich um die Brosamen balgen müssen, die vom Tisch der überversorgten Länder fallen. Deshalb mahnen in den letzten Monaten immer mehr kirchliche und humanitäre Organisationen nachdrücklich eine gerechtere Verteilung der Impfstoffe an. Darüber hinaus fordern sie, den Patentschutz für die zum grössten Teil öffentlich finanzierten Produkte aufzuheben, bis eine weltweite Immunität erreicht ist.

Indien will Impfstoff produzieren

Dieser auf Initiative Südafrikas und Indiens an die Welthandelsorganisation (WTO) herangetragene Wunsch fand bei den Industrieländern, die angeblich um die Innovationsfähigkeit ihrer Arzneimittelindustrie bangen, allerdings wenig Anklang und scheiterte bei einer Sitzung der WTO vergangene Woche. Nicht einmal der ebenfalls schon im Frühjahr vorgeschlagene gemeinsame Technologiepool, in dem die Länder ihr Wissen und ihre Daten teilen, wurde bislang eingerichtet. Kürzlich hat die globale gemeinnützige Organisation One deshalb untersucht, inwieweit die von der WHO im Rahmen von Covax initiierte Plattform Act-A von den Staaten und Unternehmen unterstützt wird. Sie kam zum Ergebnis, dass kein einziges Land, kein Konzern und kein bisher abgeschlossener Vertrag das Label «Gerechtigkeit wird gefördert» verdient.

Immerhin will Astra Zeneca beim weltgrössten Impfstoffhersteller, dem Serum Institute of India, eine Milliarde Dosen seines Impfstoffs herstellen lassen. Auch mit der US-Firma Novavax wurde ein entsprechender Vertrag unterzeichnet. Ähnlich wie Länder, in denen Hersteller ihre klinischen Versuche durchführen, haben auch Schwellenländer mit eigenen Produktionskapazitäten derzeit vergleichsweise guten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen. Das könnte auch für Afrika relevant werden, denn wie die chinesischen engagieren sich indische Unternehmen beim Aufbau der afrikanischen Pharmaindustrie. Bis das auf konventionelle Impfstoffe spezialisierte Land allerdings in die Produktion genbasierter Impfstoffe wie etwa jenen von Biontech einsteigen kann, wird es noch einige Zeit dauern.

Ein wesentliches Nadelöhr der Impfstoffproduktion sind die unzureichend verfügbaren oder ausgestatteten Produktionsanlagen und das fehlende Material, von Abfüllmaschinen bis hin zu Glasampullen. Gleichzeitig stellen Lagerung und Transport der Impfstoffe grosse Herausforderungen dar. Das von Biontech/Pfizer entwickelte Serum etwa muss bei einer Temperatur von minus 70 Grad gehalten werden, in vielen Ländern sind die notwendigen Kühlanlagen gar nicht verfügbar. Auf dem afrikanischen Kontinent wird der Impfstoff deshalb kaum zum Einsatz kommen, ganz abgesehen davon, dass Hightechkühlung und lange Transportwege auf den Preis schlagen.

Ökonomisch kurzsichtig

Der erschwingliche und für alle verfügbare «Volksimpfstoff», den Generalsekretär António Guterres im September auf der Uno-Vollversammlung forderte, ist bislang also nicht in Sicht, die Warnung vor «Impfnationalismus», wie sie vor vier Wochen auf dem Weltgesundheitsgipfel in Berlin geäussert wurde, bleibt wohlfeil. Und die Stiftung Gavi, die für Covax die Preisverhandlungen mit den Herstellern führt, stärke die Marktmacht der grossen Konzerne eher, als sie zu brechen, kritisiert Ärzte ohne Grenzen.

Wie sich die erste Generation der Covid-19-Impfstoffe in der Praxis bewährt, ist ohnehin noch nicht ausgemacht, zumal das Virus nun sein Kleid gewechselt hat und mutiert ist. Sicher ist, dass Impfnationalismus nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch ökonomisch kurzsichtig wäre, denn die Industrieländer sind auf Handelspartner in allen Teilen der Welt angewiesen. Und die Schweiz, so steht es im diesjährigen Globalisierungsreport, profitiert von den globalen Verflechtungen mehr als jedes andere Land.