Essstörungen und Corona: Und plötzlich fehlt die Struktur

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Viele Menschen mit Essstörungen sind auf geregelte Tagesabläufe, gemeinsame Mahlzeiten und soziale Kontrolle angewiesen, um den Weg aus der Krankheit zu finden. Die Pandemie bremst bei manchen den Fortschritt aus. Auch Neuerkrankungen häufen sich – besonders bei Jugendlichen.

Irene Zimmerli Spampinato ist beunruhigt. Dreissig bis vierzig Prozent mehr Anfragen hat das ambulante Zentrum für Menschen mit Essstörungen in Zürich, wo Zimmerli Spampinato als Psychotherapeutin arbeitet, im letzten Jahr verzeichnet: eine enorme Zunahme und eine Herausforderung für die Angestellten.

Ein Teil der Anfragen komme von Menschen, die zum ersten Mal mit einer Essstörung zu kämpfen haben; ein beachtlicher Teil betreffe aber jene, bei denen eine bisherige und oftmals bereits therapierte Essstörung wieder aufflamme. Was Zimmerli Spampinato als auffällig bezeichnet: Viele der Anmeldungen stammen von sehr jungen Menschen, teilweise nicht älter als dreizehn. Die meisten sind zwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt. «Wir führen diese Entwicklung direkt auf den Lockdown zurück; die Einschränkungen sind besonders für Jugendliche gravierend», sagt die Psychologin.

Mit dieser Einschätzung steht Zimmerli Spampinato nicht alleine da. Bereits im vergangenen Jahr berichtete die BBC über hohe Rückfallzahlen bei essgestörten Menschen in Grossbritannien, von überfüllten Ambulatorien und Kliniken, überforderten Eltern, zunehmend gravierenden Krankheitsverläufen. Zwar wird in der Schweiz seit einiger Zeit vermehrt über die psychologischen Auswirkungen der Pandemiemassnahmen berichtet, bisher fehlt aber eine genauere Aufschlüsselung nach Symptomen.

Hoher Stresspegel

Barbara Widmer arbeitet als Therapeutin am Kompetenzzentrum für Essstörungen und Adipositas in Zürich. Auch hier beobachtet man eine eindeutige Zunahme, besonders bei den Zwölf- bis Achtzehnjährigen. Speziell Menschen, die generell Probleme damit haben, sich selber zu organisieren, und die sich bisher an äusseren Strukturen wie festen Essenszeiten orientierten, hätten momentan «stark Mühe», so die Psychologin.

Dass besonders viele Kinder und Jugendliche neu erkranken, kommt nicht überraschend: «Obwohl oder gerade weil die Eltern mehr zu Hause sind, ist der Stresspegel bei allen sehr hoch», sagt Zimmerli Spampinato. Viele Menschen mit Essstörungen sind hochsensibel, nehmen die Stimmungen ihres Umfelds also ungefiltert auf und leiden zusätzlich zu ihren anderen Sorgen und Nöten darunter. «Wenn dann noch jegliche Ventile wegfallen, um mit diesen negativen Emotionen umzugehen, werden diese gegen innen gerichtet.»

Jugendliche, die sich gerade in der Abnablungs- und Findungsphase befänden, so Widmer, würden durch das extreme Gefühl von Kontrollverlust in ihrer Entwicklung ausgebremst. Normale, aber akute Fragen dieser Lebensphase verkomplizieren sich durch die Umstände weiter. Durch das Essverhalten versuchen einige, Kontrolle zurückzuerlangen. Denn: «Emotionsregulation und Kontrollgewinn sind für jede Essstörung prägende Elemente.»

Gemeinsam Essen per Zoom

Gabriella Milos ist leitende Ärztin der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich und leitet das Zentrum für Essstörungen. Sie beobachtet dieselben Tendenzen wie Zimmerli Spampinato und Widmer, differenziert aber auch: Für Menschen mit Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder einer Binge-Eating-Störung (periodische Essattacken) sei der Strukturverlust besonders gravierend.

Andererseits empfänden einige anorektische (umgangssprachlich: magersüchtige) PatientInnen durch die fehlenden Möglichkeiten, etwa intensiv Sport zu treiben, plötzlich eine gewisse Ruhe. Wie sich welches Empfinden aber mit der Dauer des «Ausnahmezustands» entwickeln wird, sei schwer abzuschätzen. Atomisierung und Strukturverlust seien grundsätzlich nie förderlich für von psychischen Erkrankungen Betroffene – ob auf kurze oder auf lange Sicht.

«Unser Therapieschwerpunkt liegt auf der Erarbeitung von Ritualen und eigenen Strukturen», sagt Milos. Gewisse PatientInnen verabredeten sich etwa untereinander per Whatsapp zu gemeinsamen Mittagspausen oder Abendessen auf Zoom, andere arbeiteten eigene Tagespläne fürs Homeoffice aus, bei wiederum anderen sei ein stationärer Aufenthalt unvermeidbar.

Kein schnelles Ende in Sicht

Dass die Kurve der Neuerkrankungen, Rückfälle und schweren Verläufe mit dem Ende der Pandemiemassnahmen schnell wieder abflacht, ist nicht zu erwarten. «Gerade etwa Bulimie und Binge Eating bleiben oft lange vom Umfeld unbemerkt», erklärt Barbara Widmer. Vieles, was momentan noch im Geheimen geschehe, werde unter Umständen erst nach Monaten oder Jahren sichtbar. Man müsse deshalb jetzt handeln. Ein konkreter Ansatzpunkt wäre es, Videotherapien zu fördern. Derzeit dürfen PsychologInnen pro PatientIn und Halbjahr nur 360 Minuten Distanztherapie über die Krankenkasse abrechnen. Bei den PsychiaterInnen gibt es diese Einschränkung nicht.

Zudem fordert Widmer eine Art nationalen «politischen Fahrplan» für die psychische Gesundheit. Gerade bei Kindern und Jugendlichen müssten die Massnahmen entsprechend ausgestaltet, gelockert oder angepasst, die psychische Gesundheit der körperlichen nicht länger diskussionslos untergeordnet werden. «Wer während der Pandemie eine Störung entwickelte oder in eine bestehende Störung zurückfiel, wird nicht einfach von alleine wieder genesen, auch wenn die Läden wieder offen sind und das Homeoffice vorbei ist.»

«Im Herbst kamen gewisse Gedanken zurück»

«Angefangen hat es 2016. Mein Körper begann, sich in der Pubertät zu wandeln. Ich hatte Mühe mit der Entwicklung. Nach drei oder vier Monaten wurde die Beschäftigung mit meinem Körper krankhaft. Ich fing an, nur noch zu essen, wenn ich ‹genug› Sport gemacht hatte. Ich erlegte mir Regeln auf, unterteilte Lebensmittel in gute und schlechte. Anfang 2017 fiel es zum ersten Mal meiner Familie auf.

Kurz darauf brach ich in der Dusche zusammen. Ich wurde für die Schule krankgeschrieben, mir wurde gesagt: ‹Du bist zwar untergewichtig, aber es besteht noch kein Bedarf, dich notfallmässig zu behandeln.› Ich kam dann nach einiger Wartezeit auf die Jugendstation der Psychiatrischen Uniklinik. Ich hatte einen strengen Plan und nahm gerade genug zu, um entlassen werden zu können. Danach begann ich wieder von vorne. Durch eine neue Therapeutin kam ich im Frühjahr 2018 ans Zürcher Kinderspital, wo ich in eine ambulante Therapie ging. Ich liess mich auf diese ein, es war zäh. Im Sommer 2019 fing ich meine Ausbildung an. Nachdem ich ein Jahr lang nach den Regeln der Ärzte gelebt hatte, bekam ich wieder Lust auf Essen.

Dann kam die Pandemie. Die ersten paar Monate machten kaum einen Unterschied. Im Herbst kamen gewisse Gedanken zurück. Ich fing wieder an, mich mit anderen zu vergleichen, die Selbstzweifel waren wieder da: ‹Wie sehe ich aus? Habe ich zugenommen? Habe ich wirklich Hunger?› Auch der Strukturverlust setzte mir zu, machte Raum für Gedanken wie: ‹Was, wenn ich jetzt eine Mahlzeit auslasse, das würde ja keiner merken?›»

E. F. (18), Polydesignerin

«Ich versuche, neue Strategien zu finden»

«Mein Vater war sehr streng, er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie eine Frau zu sein hat. Es gab auch immer Sprüche zu meiner Figur. Meine Mutter machte viele Diäten und bekam dafür Amphetamintabletten.

Es gab Zeiten, da ass ich fünf Tage lang nichts, war aber trotzdem das dickste Mädchen der Klasse. Ungefähr mit zwanzig begann ich wieder, Diäten zu machen, setzte die Kalorienzufuhr auf 500 Kilokalorien am Tag runter, machte viel Sport. Ich hatte Wutausbrüche, Heulkrämpfe. Ich fing an, unkontrolliert Essen in mich reinzustopfen und zu erbrechen.

Ich brauchte fast sechs Monate, bis ich eine gute Therapeutin fand. Eine Zeit lang wars besser. Ich stieg ins Medienbusiness ein. Ich musste viel vor der Kamera stehen, immer wieder gabs Sprüche zu meinem Körper.

Ich nahm immer mal wieder Amphetamin, aber nur im Ausgang. Irgendwann begann ich, täglich zu konsumieren. Ich kaufte gut 500 bis 600 Gramm pro Monat. Amphetamin unterdrückt das Hungergefühl. Dann verlor ich meinen Job, sass nur zu Hause und zog meine Lines. Ich konsumierte über ein Jahr lang täglich und viel. Ich schämte mich.

Als der Shutdown im März anfing, war mir alles egal, ich hatte ja mein Wunderpulver. Dann kam die Angst. Ich meldete mich irgendwann bei meiner Psychiaterin. Ich bekam wegen Depressionen und einer Borderlinestörung diverse Medikamente. Mittlerweile bin ich seit circa vier Monaten clean.

Seit dem Winter befasse ich mich wieder mehr mit meinem Körper. Die erste Essattacke hatte ich, als der zweite Lockdown kam – wohl meine Art, mit der Ungewissheit umzugehen. Ich bewege mich wenig. Ich merke, wie ich zunehme und wie es mich nervt. Ich versuche, neue Strategien zu finden. Lesen hilft, und ich suche im Netz den Austausch mit Leuten mit ähnlichen Erfahrungen. Zu sehen, dass es anderen ähnlich geht, ist beruhigend, auch wenn ich es niemandem wünsche.»

A. B. (26), Medienschaffende

«Ich wollte es immer selber in den Griff kriegen»

«Ich tanze leidenschaftlich Ballett, auch heute noch. Mein Gewicht hatte mich nie gestört, aber meine Eltern, der Kinderarzt, meine FreundInnen in der Schule, die TrainerInnen – alle sagten mir, ich sei zu dick.

Mit vierzehn fiel mir in der Bibliothek ein Ratgeber zu Essstörungen in die Hände. Dieser beschrieb zwar, wie man aus einer Essstörung rauskommt, aber ich dachte: Mache ich genau das Gegenteil von all dem, nehme ich ab. Ich begann, nur noch eine Mahlzeit am Tag zu essen, später ass ich tagelang nichts. Im Frühjahr 2016 hatte ich zwei Zusammenbrüche. Plötzlich hiess es: Du musst zunehmen. Wieder ein Druck. Zu dieser Zeit fing ich an, unkontrolliert Essen runterzuschlingen, bis mir übel war. Ich rief beim Sorgentelefon an. Es gelang mir, meine Ernährung etwas zu stabilisieren. Aber so etwas wie Sättigung kenne ich seither nicht. Und dann, mit dem Beginn der Pandemie, war ich wieder viel zu Hause, musste hier lernen. Ich darf nicht mehr ins Ballett, es macht mich wütend und frustriert. Ich pendle zwischen meinem Zimmer und der Küche.

Ich war noch nie länger in Therapie. Ich wollte es immer selber in den Griff kriegen.

Gerade in den Semesterferien gibt es nicht viel zu tun. Ich denke die ganze Zeit an Essen. Seit Dezember geht es bergab, und ich hoffe immer noch, dass sich alles wieder erholt, aber wenn ich mir vorstelle, dass es noch Monate so weitergehen könnte, habe ich Angst. Gerade vor dem Sommer fürchte ich mich, diesen langen Semesterferien. Was, wenn ich nichts anderes tun kann, als drinnen mit Essen zu vergammeln?»

C. D. (21), Studentin