Kommentar zum bürgerlichen Druck auf rasche Öffnung: Schweizer Verantwortungspolitik

Nr. 8 –

Warum soll es plötzlich so schnell gehen mit der Öffnung? Vielleicht kann die bürgerliche Schweiz gar nicht anders.

Der Druck auf den Bundesrat, der in den letzten Wochen aufgebaut wurde, kam von unterschiedlichen Seiten: von rechtsbürgerlichen PolitikerInnen, aus den Kantonen, von Wirtschaftsverbänden, von über 250 000 Unterschreibenden einer Petition gegen die «Lockdown-Hysterie des Bundesrats». Jetzt, da eine bundesrätliche Skizze zur Lockerung der Massnahmen vorliegt, kann es nicht mehr schnell genug gehen.

Keine Frage, sehr viele Menschen haben sehr gute Gründe, zermürbt zu sein von den ewigen Wirren um Lockdowns, Schutzmassnahmen und Quarantänen. Viele Branchen haben arg gelitten. Unzählige Betriebe fanden zwar Wege, Sicherheitskonzepte umzusetzen, doch ohne zu wissen, wie lange welche Auflagen gelten würden. Und ob und wann sie auf staatliche Unterstützungen würden zählen können, blieb oft unklar. Ob ihnen das aktuelle Gerangel zugutekommt?

Trotz stagnierender Fallzahlen bleibt die Lage kompliziert. Beim Impfen kommt die Schweiz eher gemächlich voran, und die ansteckenderen mutierten Virusvarianten sind gefährlich. Nach neustem Wissensstand nimmt ihre Verbreitung auch unter den aktuellen Massnahmen zu. In Grossbritannien scheinen sich die neuen Varianten vor allem durch einen harten Lockdown und ein hohes Tempo der Impfkampagne eindämmen zu lassen. Für die Schweiz heisst das: Solange sich die Wirksamkeit einzelner Massnahmen nicht besser messen lässt und der Ansteckungsort in den allermeisten Fällen unklar bleibt, lässt sich weder gezielt einschränken noch öffnen. Jetzt rasant zu lockern, bringt vor allem Unsicherheit und Ungewissheit mit sich – und das Risiko einer dritten Welle. Der Bundesrat liegt deshalb mit seinem am Mittwoch bekräftigten Kurs der vorsichtigen Lockerung richtig.

Warum setzen so viele bürgerliche Akteure dagegen auf Risiko? Bei manchen mag tatsächlich purer Sozialdarwinismus dahinterstecken – der Starke wirds schon überleben. Oder simples Kalkül: Es gehört zu den Binsenwahrheiten der Epidemiologie, dass Pandemieprävention keine ruhmreiche Angelegenheit ist. Während sich verhinderte Infektionen im Einzelfall nicht nachweisen lassen, sind die negativen Konsequenzen im öffentlichen, sozialen und wirtschaftlichen Leben sehr greifbar. Wer kein Exekutivamt innehat, kann wunderbar poltern, ohne grössere Verantwortung übernehmen zu müssen. Sinnbildlich dafür steht die Polemik um Gesundheitsminister Alain Berset: Einerseits werfen ihm bürgerliche PolitikerInnen diktatorisches Gehabe vor, andererseits wird er dafür kritisiert, im Spätsommer die Warnungen von ExpertInnen ignoriert zu haben.

Vielleicht kann die bürgerliche Schweiz aber auch gar nicht anders. Sie steht vor einem Problem, das es so schon lange nicht mehr gab: Sie muss eine Verantwortung übernehmen, die sich nicht ins Ausland abschieben lässt. Bürgerliche Politik versteht sich als jene der Vernunft; die besten Lösungen hat demnach kaum je der Staat, dessen Eingriffe grundsätzlich Bevormundung, Bürokratie und Einschränkung bedeuteten. In der Klimapolitik etwa heisst das: Wir schränken uns nicht ein, lassen dafür aber anderswo Bäume pflanzen. In der Asylpolitik, dass wir Armeewolldecken auf die griechischen Inseln schicken, während wir hier Unterkünfte schliessen. Bei der Konzernverantwortung: Die Unternehmen wissen selbst am besten, was richtig ist. Es sind einfache Antworten auf komplexe Fragen – und dies immer im Namen einer staats- und bürokratiekritischen Vernunft.

Dieses Virus aber ist hier, und abschieben lässt sich die Verantwortung höchstens auf die Intensivstationen. Oder auf die Schultern der LehrerInnen, deren Schulen jederzeit zum Hotspot zu werden drohen. Sie sind der Puffer, der die schweizerische Risikobereitschaft notfalls auffangen wird. Kein Wunder, dass sich deren Gewerkschaften und Berufsverbände gegen eine überstürzte Öffnung aussprechen.