Coronamassnahmen: Klarheit gesucht

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Was sind die richtigen Eingriffe, um die Fallzahlen zu senken und Kollateralschäden möglichst zu vermeiden? Das bleibt die Königsfrage zur Eindämmung der Pandemie. Ausgerechnet der Föderalismus könnte wertvolle Antworten liefern.

Was die Massnahme genau gebracht hat, ist unklar: Geschlossenes Restaurant in Zürich. Foto: Ursula Häne

Der Weg zum Verständnis der Schweizer Coronapolitik führt immer wieder in den letzten Frühsommer zurück. Die erste Ansteckungswelle war bewältigt – «erfolgreich gemeistert» sogar, wie Alain Berset in einem vertraulichen Dokument festhielt, das die WOZ gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat.

In diesem sogenannten Aussprachepapier legte der Innenminister dem Bundesrat den Plan für die kommenden Monate dar. Er beruhigte: «Ein starker Anstieg der Fallzahlen wird die Schweiz nicht mehr in gleichem Masse überraschen, wie dies noch Anfang des Jahres der Fall war.» Mittlerweile heisst es einhellig, man sei von der Entwicklung der Pandemie überrascht worden. Er mahnte: «Es gilt, im internationalen Kontext ‹Insellösungen› zu vermeiden.» Insellösungen wie die exklusive Öffnung der Schweizer Skigebiete. Und Berset versicherte: Was die Exekutive künftig tun werde, um das Virus an einer unkontrollierten Ausbreitung zu hindern, werde «so weit als möglich auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen und risikobasiert erfolgen».

Infektionstreiber Tourismus?

Das Dokument liefert eine gute Zustandsbeschreibung der Schweizer Handlungsfähigkeit. Für alles einen Plan, aber die Umsetzung zerfaserte im Kräftemessen der Lobbys und Überzeugungen. Beispiel Evidenz: Verordnet der Bundesrat die richtigen Eingriffe, um die Fallzahlen zu senken? Eine zentrale Frage, die kaum zu beantworten ist. Martin Ackermann, Chef der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes, klagte unlängst gegenüber Radio SRF: «Es ist sehr schwierig, quantitative Aussagen zu machen, wie eine bestimmte Massnahme wirkt.» Im Bundesamt für Gesundheit (BAG) sichteten die MitarbeiterInnen teilweise tausend wissenschaftliche Publikationen pro Tag, um gesicherte Erkenntnisse über Covid-19 zu gewinnen. Viele Antworten auf die Frage, welche Massnahmen was leisten, haben sie dabei nicht gefunden.

Mitte Oktober, als die Fallzahlen in die Höhe schossen, musste Berset dringend einen neuen Handlungsplan entwickeln. Seine BeamtInnen erhielten den Auftrag, umfassend aufzuzeigen, wo sich menschliche Kontakte effizient reduzieren lassen und was zu möglichen Ansteckungsorten bekannt ist. Sollen Chorproben verboten werden, was bringt Fernunterricht, müssen Clubs schliessen? Dabei entdeckten die BAG-Leute eine Studie, die bislang in der Schweiz nicht diskutiert worden ist – obwohl sie brisante Befunde beinhaltet.

Ein Team um den Biophysiker Meher Prakash hat errechnet, wie sich die einzelnen Massnahmen auf den R-Wert, also die Ansteckungsrate, auswirken. Prakash wurde an der kalifornischen Caltech und an der ETH Zürich ausgebildet, heute lebt er im Tessin und forscht an der JNCASR-Universität im indischen Bangalore. In der Schweiz fand er beste Bedingungen für seine Studie.

«Als Bürger war ich befremdet, dass jeder Kanton einen eigenen Weg geht, aber für mich als Forscher war das eine einmalige Gelegenheit», sagt Prakash. Über die Dauer von März bis Mitte September fand er derart viele unterschiedliche Kombinationen von Massnahmen, dass er mithilfe künstlicher Intelligenz deren Wirkung auf die Ansteckungsrate feststellen konnte. Restaurants mit Schutzkonzepten trugen demnach fünf Prozent zum R-Wert bei, Bars drei Prozent – Nachtclubs dagegen fünfzehn Prozent, wobei sich die Schutzkonzepte als nutzlos erwiesen. Sie als Erstes zu schliessen, wäre demnach oberste Priorität gewesen. Ein Infektionstreiber ist im Modell von Prakash auch der Tourismus mit achtzehn Prozent, allerdings könnte darin auch der PendlerInnenverkehr subsumiert sein.

Die Rolle der Gastronomie

Prakashs Studie ist bislang erst als Preprint erschienen, in Fachkreisen also noch nicht begutachtet worden. Positives Feedback erhielt er von US-amerikanischen Professoren, in der Schweiz blieb es dagegen still. Der Forscher bat bei Epidemiologinnen, Ökonomen und PolitikerInnen um Kritik, erhalten hat er keine.

Der Berner Epidemiologe Christian Althaus sagt auf Anfrage, er habe einen kurzen Blick auf die Studie geworfen. Er zweifelt an der Aussagekraft der Daten: «Ich denke nicht, dass die Studie fundierte Aussagen zu den einzelnen Massnahmen machen kann.» Prakash sagt: «Ich fände es wunderbar, wenn Schweizer Experten bessere Modelle entwickeln würden. Bis im Juni war es okay, die Wirkweise der Massnahmen zu ignorieren. Mittlerweile gibt es genug Evidenz, um eine strukturierte Herangehensweise zu entwickeln.»

Das BAG immerhin nahm seine Arbeit in eine Übersicht mit den für die Schweiz relevanten Studien auf. Und einzelne Befunde, wie etwa jener, dass die Gastronomie weniger zur Pandemie beiträgt, als die Massnahmen es vermuten liessen, sind längst bestätigt. Das zeigen Daten von kantonalen Contact Tracings, etwa im Aargau. Der Branchenverband Gastrosuisse wollte immer wieder vom Bund wissen, welche Rolle seiner Branche zukomme. «Das BAG hat mehrfach bestätigt, dass die Ansteckungsrate in den Restaurants unter drei Prozent liegt. Für uns ist es daher nicht nachvollziehbar, weshalb die Krise auf dem Rücken des Gastgewerbes ausgetragen wird», schreibt Gastrosuisse.

Und Biophysiker Meher Prakash bringt die Versäumnisse von Politik und Wissenschaft so auf den Punkt: «Der einzige Weg, Jobs und Leben zu sichern, ist, die Risiken richtig einzuschätzen.»

Aussprachepapier vom 17.6.2020. Verfasst vom Innendepartement diente es dem Bundesrat als Grundlage für die weitere Pandemieplanung, sollten die Fallzahlen wieder ansteigen. Die WOZ erhielt es gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz: