Erinnerungskultur: «Bürgerliche Mitte bedeutet auch heute meistens eine Legitimierung rechter Diskurse, die als Meinung einer vermeintlich schweigenden Mehrheit beworben wird»

Nr. 20 –

Warum ist die Mär vom bürgerlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus noch heute so populär? Gedanken anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl.

Warum wurde gerade Sophie Scholl zur Ikone einer gesamtdeutschen Widerstandserzählung? Schauspielerin Luna Wedler in der ARD-Instagram-Aktion «ichbinsophiescholl». Foto: Rebecca Rütten, SWR

Eine These, die auch von Schweizer Medien wie der NZZ vertreten wird, lautet: Der einzige wirksame Schutz der Demokratie geht von einer bürgerlichen Mitte aus. Diese Mitte, das markiert schon der Begriff aus dem Arsenal des Geometrieunterrichts, stabilisiere die Demokratie und ihre Institutionen und schaffe Ausgleich. Linke und rechte politische Einstellungen werden in dieser Anordnung als gleichermassen systemgefährdende und notwendige Korrektive beschrieben. Es braucht keins von beiden – oder beide. Aber in jedem Fall braucht es die bürgerliche Mitte, sonst, so die Erzählung, sind wir verloren.

Diese Vorstellung hat Konsequenzen für eine Analyse der Gegenwart, weil linke und rechte Gewalt einander apodiktisch gegenübergestellt werden, als handle es sich bei den beiden Dingen letztlich um ein identisches, systemgefährdendes Phänomen. Was mit Blick auf das reale Bedrohungspotenzial für Staat und diskriminierte Minderheiten grosser Quatsch ist. Aber die Ideologie der bürgerlichen Mitte hat auch Konsequenzen für eine Betrachtung der deutschen und europäischen Vergangenheit. Denn sie formuliert eine bestimmte These darüber, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte und was zu tun ist, damit sich diese Geschichte nicht wiederholt. Diese These lautet: Nationalsozialismus ist immer da, wo die Gesellschaft gleichermassen zu rechts und zu links ist.

Angesichts des real existierenden Nationalsozialismus mag eine solche Theorie eigenartig, ja gar absurd klingen, aber: Wie sonst liesse sich die Behauptung begründen, zur Bekämpfung rechten Denkens und rechter Gewalt brauche es eine bürgerliche Mitte? Und nicht etwa staatliche und zivilgesellschaftliche Massnahmen gegen rechte Gewalt, ausgehend von einem antifaschistischen gesellschaftlichen Konsens? Die Idee der Mitte als Medizin gegen die Gegenwart rechten Denkens, rechter Gewalt und rechten Terrors ist also ebenso Teil dieser eigentümlichen ideologischen Formation wie die geschichtstheoretische Behauptung, ein Mehr an bürgerlicher Mitte hätte den Nationalsozialismus verhindern können.

Nicht die bürgerlichen Kräfte

Das ist mit Blick auf die Geschichte, die wirklich stattgefunden hat, eine ziemlich steile These. Denn hier muss doch immer wieder unterstrichen werden: Der Nationalsozialismus in Deutschland wurde nicht von einer bürgerlichen Mitte verhindert, sondern massgeblich von ihr mitgetragen. Und ich tue mich auch schwer damit, die grosse bürgerliche Ablehnung rechter Politik und rechter Gewalt in der Gegenwart zu finden. Bürgerliche Mitte bedeutet auch heute meistens eine Legitimierung rechter Diskurse, die als Meinung einer vermeintlich schweigenden Mehrheit beworben wird. Nicht wahr, NZZ Deutschland? Auch 1933 ging der Widerstand gegen die Nazis nicht von bürgerlichen Kräften, sondern von Kommunistinnen, Sozialisten, Jüdinnen und Juden und einigen versprengten christlichen Gruppen aus. Nein, die bürgerliche Mitte hat und hätte den Nationalsozialismus nicht verhindert. Und auch in der Gegenwart ist sie eine weitgehend wirkungslose Antwort auf rechte und völkische Politik.

Der überwiegend linke Widerstand gegen den Nationalsozialismus taucht seit dem Ende der DDR 1990 so gut wie gar nicht mehr im öffentlichen Erinnern auf. Das mag wenig überraschen, dennoch ist es wichtig zu unterstreichen, dass damit ein wesentlicher Teil deutscher Widerstandsgeschichte von Roter Kapelle bis zur Gruppe Baum dethematisiert wurde. Für den jüdischen Widerstand sieht es sogar noch schlimmer aus, denn der jüdischen Seite wurde in allen deutschen Systemen seit 1945 die Rolle der Opfer zugewiesen. Darum erinnert man in Deutschland ja auch an die Pogromnacht am 9. November und an die Befreiung von Auschwitz am 27. Januar. Und nicht etwa an den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto, der vom 19. April bis zum 16. Mai 1943 stattfand. Auch das vermittelt eine bestimmte Vorstellung davon, wer die AkteurInnen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus waren.

Max Czollek Foto: gezett

Will man die These von der bürgerlichen Mitte historisch mit Bezug auf die Zeit 1933 bis 1945 belegen, braucht es also eine andere Geschichte als die verfügbare. Und an dieser neuen Geschichte wird in der deutschen Erinnerungskultur seit Jahrzehnten gearbeitet. Nehmen wir etwa eine obskure Figur wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Hitler am 20. Juli 1944 gemeinsam mit einigen anderen in die Luft jagen wollte. Der Gröfaz segelte durch die Luft, prellte sich ein paar Rippen und überlebte die unter dem Planungstisch platzierte Kofferbombe. Noch am selben Abend machte man Stauffenberg zusammen mit zwei weiteren Verschwörern den Prozess, und alle drei wurden erschossen.

Dass Stauffenberg ein überzeugter Nazi, völkischer Nationalist und Antisemit war, ist hinlänglich belegt und bedarf keiner weiteren Ausführungen. Dass der Verschwörer aus adligem Hause aber überhaupt zu einer westdeutschen Ikone des NS-Widerstands wurde, ist erklärungsbedürftig. Denn das ist natürlich kein Zufall, sondern hat direkt mit dem Thema dieses Artikels zu tun: der Suche nach einem Widerstand, der mit der Ideologie der bürgerlichen Mitte kompatibel ist. Und weil man vermutlich selber weiss, wie abwesend bürgerlicher Widerstand gegen Nazideutschland in Wirklichkeit war, reckt man sich nach den wenigen Beispielen, die verfügbar sind.

Eine traurige Geschichte

Eine Person, der anlässlich ihres 100. Geburtstags eine so grosse Aufmerksamkeit zukommt wie niemals zuvor, ist Sophie Scholl. Scholl wuchs dem Internet zufolge in einem religiös wie politisch liberalen, protestantischen Elternhaus auf. Sie wurde 1921 in Forchtenberg geboren und gehörte damit zur Generation derjenigen bemitleidenswerten Menschen, die von den Nazis umfassend sozialisiert und indoktriniert wurden. Adolf Hitler hatte die Zielsetzung dieser Indoktrination der Jugend 1938 so formuliert: «Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.»

Das bedeutete für Sophie Scholl erst den Eintritt bei den Jungmädeln, dann die Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel, des weiblichen Pendants zur Hitlerjugend. Maren Gottschalk, Autorin der jüngst erschienenen Biografie «Sophie Scholl. Wie schwer ein Menschenleben wiegt», vermerkt in diesem Zusammenhang, Scholl sei «sehr begeistert, sehr fanatisch für den Nationalsozialismus» gewesen. Und es scheint, als hätte sich diese Einstellung erst mit Beginn des Russlandfeldzugs geändert, bei dem ihr Freund Fritz als Offizier diente. Scholl wollte wirklich nicht, dass Deutschland und Fritz in diesen Krieg zogen.

Das ist der Vorlauf zu jenem Teil der Geschichte, den wohl die meisten kennen: Sophie Scholl als eines der Mitglieder der Widerstandsgruppe Weisse Rose, die mehrfach Flugblätter gegen den Krieg verteilen und vom Hausschlosser und Hörsaaldiener der Ludwig-Maximilian-Universität München erwischt, den Behörden überstellt, verhört und hingerichtet werden. Es ist eine Geschichte von Mut, Widerstand und Aussichtslosigkeit, Feigheit und Schweigen. Eine traurige und sehr deutsche Geschichte.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach Kriegsende war es still um Sophie Scholl. Aber ab Mitte der 1960er Jahre tauchte die junge Kriegsgegnerin dann auf Briefmarken und Geldstücken in Ost- und Westdeutschland auf. Die Jahrzehnte darauf weitete sich dieses Gedenken zu einer regelrechten Ikonisierung aus, was zwei Zahlen eindrucksvoll unterstreichen: In den letzten Jahrzehnten wurden 200 Schulen und 600 Strassen nach Sophie Scholl benannt. Diese Ikonisierung erreicht zu ihrem 100. Geburtstag noch einmal einen neuen Höhepunkt. Das illustriert die Videosammlung zur Person Sophie Scholl, die derzeit in der Mediathek der ARD zu finden ist.

Schon die Bildsprache der Spielfilme, Dokumentationen und kürzeren Stücke ist bemerkenswert. So findet sich gleich an erster Stelle ein Hinweis auf die Instagram-Aktion «ichbinsophiescholl», die junge Menschen dazu motivieren soll, sich mit Scholls Schicksal auseinanderzusetzen und zu identifizieren. Die Aktion ist eine unverhohlene und mittlerweile auch klar als solche markierte Wiederauflage der in Israel initiierten «eva.stories», die 2019 die Geschichte der dreizehnjährigen ungarischen Jüdin Eva Heyman auf Instagram in Szene setzten. Die Aktion schlug damals hohe Wellen, auch wegen der Frage der Übertragbarkeit des Holocaust in den Raum sozialer Medien. Heyman wurde nämlich in Auschwitz ermordet.

In der ARD-Mediathek zeigt gleich der erste Eintrag eine nachgestellte Originalfotografie, auf der die von Luna Wedler gespielte Sophie Scholl eine rote Strickjacke trägt und in deren Mitte eine grosse gelbe Blume prangt. Nun muss man nicht gleich auf Paul Celans Gedicht «Todtnauberg» und die gelbe sternförmige Blume Arnika verweisen, mit der das lyrische Ich seinen Begleiter an seine Mittäterschaft im Nationalsozialismus erinnern wollte. Es genügt schon, das Bild anzuschauen und zu überlegen, wie die Redaktion darauf kam, für ihre Instagram-Aktion gerade dieses Foto und diese Blume auszuwählen. Denn in Wirklichkeit, das sollte klar sein, musste in dieser Zeit nicht Sophie Scholl, sondern andere Menschen eine gelbe Markierung auf der Kleidung tragen.

Ob bewusst gesetzt oder einfach nicht darüber nachgedacht: Sophie Scholl wird in der ARD-Mediathek ein Jahrhundert nach ihrer Geburt zu einer Art deutschen Anne Frank stilisiert. Diese Stilisierung mag man unangemessen finden oder auch nicht, wie man im Übrigen auch darüber geteilter Meinung sein kann, was die Instagram-Aktion und den Aufruf zur Identifikation mit Naziopfern angeht. Die entscheidende Frage lautet: Warum wurde gerade diese junge Frau zur Ikone einer gesamtdeutschen Widerstandserzählung? Und nicht etwa die vielen Kommunisten, Sozialistinnen oder Juden und Jüdinnen, die ja, wie gesagt, den wesentlichen Anteil am Widerstand gegen den Nationalsozialismus innerhalb Deutschlands hatten?

Normalisierung des Mitmachens

Diese Verzerrung der historischen Wirklichkeit in der gegenwärtigen Erinnerungskultur lässt sich unschwer erklären, versteht man sie als eine Form der eingangs beschriebenen Rückkopplung zwischen der Ideologie von der bürgerlichen Mitte und der Geschichte, die tatsächlich stattgefunden hat. Oder noch mal anders gesagt: Wer die Relevanz der bürgerlichen Mitte als Schwert und Schild der pluralen Demokratie validieren möchte, kann linken Widerstand nicht gebrauchen. Denn der widerlegt ja gerade, was man beweisen möchte: dass links und rechts gleich schlimm sind. Und dass einzig die bürgerliche Mitte Sicherheit, gesunden Menschenverstand und Kontinuität bereitzustellen vermag.

Will die Ideologie der bürgerlichen Mitte ihre Kernannahme auch historisch plausibilisieren, muss sie eine andere Geschichte erzählen als jene, die verfügbar ist. Oder eben die Geschichte anders erzählen. In diesem Sinne bezeichnete bereits Thomas Mann 1943 die Mitglieder der Weissen Rose als «brave, herrliche junge Leute». Und genau so möchte man sich den Widerstand, der von der bürgerlichen Mitte ausgeht, auch heute noch vorstellen: brav, herrlich und jung. Nur entspricht das natürlich nicht der Art, wie der Nationalsozialismus und mit ihm die überwiegende Mehrheit der deutschen Gesellschaft in die Knie gezwungen wurde. Dafür brauchte es nämlich nicht brave, herrliche und junge Menschen, sondern die vereinten Armeen von vier Ländern und ihre Verbündeten sowie zwei weitere Jahre bis zur endgültigen Kapitulation.

Das ist auch der Grund, warum Nachkommen jüdischer und kommunistischer WiderstandskämpferInnen den 8. Mai lieber als Sieg über Deutschland feiern. Und nicht als Befreiung. In Stauffenberg und Sophie Scholl hingegen erkennt sich der andere Teil der post-nationalsozialistischen Gesellschaft wieder. Nicht trotz, sondern wegen ihrer eigenen Verstricktheit in den Nationalsozialismus. Diese Verstricktheit wirkt entlastend, weil in ihr die eigenen toten oder rapide alternden Familienmitglieder aufgenommen sind. Und da dient Scholls Biografie eben auch dazu, sich selbst zu versichern, dass ein Ausstieg aus dem Nationalsozialismus zwar möglich war, aber mit dem Tode bestraft wurde, was man ja nun wirklich nicht von allen Menschen verlangen könne. Nicht alle seien schliesslich zum Heldentum geboren.

Sophie Scholl wird damit zur Figur einer Normalisierung des Mitmachens, zu einer Entlastungsfigur. Und das hat sie nicht verdient. Vielleicht wäre sie sogar dagegen gewesen. Denn 1943 handelte diese junge Kriegsgegnerin mutiger und standhafter als die allermeisten Deutschen. Und das ist schon für sich genommen beeindruckend für ein Land, in dem nicht nur die selbsterklärten Weltmeister der Erinnerung, sondern auch des Zuschauens und Nichtstuns leben. Und damit zurück in die Gegenwart. Da präsentiert sich dieses Zuschauen und Nichtstun nämlich mit Vorliebe als vollendete Form der Meinungsfreiheit, während die Adolf Muschgs und Hans-Georg Maassens des deutschsprachigen Raums ihre Unwahrheiten unwidersprochen in die Kameras sprechen. Meinungsfreiheit braucht Zivilcourage. Aber das ist Gegenstand eines anderen Textes.

Es existieren auch andere Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart. Aus diesen liesse sich lernen, dass man die Aktualität völkischen Denkens und rechten Terrors nicht mit einer bürgerlichen Mitte bekämpfen kann – und auch niemals erfolgreich bekämpft hat. Dass auch gegenwärtig jene Parteien, die weder links noch rechts sind, die plurale Demokratie nicht retten werden. Sondern dass es eine aktive Antwort auf die völkischen Rechten, auf Nazistrukturen in Polizei, Bundeswehr, Feuerwehr und Verfassungsschutz, auf die Verharmlosung rechten Terrors durch die Politik braucht. Und diese Antwort könnte «postmigrantischer Antifaschismus» lauten.

Lassen Sie uns einmal versuchen, die Ideologie der bürgerlichen Mitte und ihre Erinnerungskultur ad acta zu legen. Dann können wir reden. Damit fängt es an.

Max Czollek

Mit «Desintegriert euch» hat Max Czollek (34) 2018 Furore gemacht. Der Berliner rechnet in seinem Essay mit einer falsch verstandenen Integrationspolitik ab und plädiert für eine «Gesellschaft der radikalen Vielfalt». Das Manifest dazu hat er vergangenen Herbst mit «Gegenwartsbewältigung» nachgeliefert. Czollek ist Mitglied des Lyrikkollektivs G13 und Kurator des internationalen Lyrikprojekts Babelsprech. Im Verlagshaus Berlin erschienen bislang die Gedichtbände «Druckkammern» (2012), «Jubeljahre» (2015) und «Grenzwerte» (2019).