Restitutionen: Im Theater der Selbst­vergewisserung

Nr. 14 –

Zum Beispiel zwei Gemälde der Familie Silberberg: Wie sich Schweizer Museen beharrlich den historischen Tatsachen um den NS-bedingten Entzug von Kunstwerken aus jüdischem Besitz verweigern.

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Gemälde «La Sultane» von Édouard Manet
«La Sultane» (um 1871) von Édouard Manet: Einst Teil der Sammlung von Max und Johanna Silberberg, nun im Kunsthaus Zürich als Dauerleihgabe der Stiftung Bührle zu sehen. Foto: AKG

«Achtzig Jahre Auschwitzbefreiung», so oder ähnlich lauteten zahlreiche Schlagzeilen am 27. Januar, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Zu Wort kommen an diesem Tag jene, die noch selbst erzählen können, was sie erlebt und wie sie überlebt haben.

Der kürzlich verstorbene Soziologe Michal Bodemann hat für solche Gedenktage einen entscheidenden Begriff geprägt: das «Gedächtnistheater». In diesem Theater werde Jüdinnen und Juden eine (Opfer-)Rolle zugewiesen, die dazu da sei, das Selbstbild der Dominanzgesellschaft zu festigen. Obwohl sich Bodemann auf die deutsche Erinnerungskultur bezog, drängt sich auch für die Schweiz die Frage auf: Was bedeuten die Zeugnisse von Überlebenden in einem Land, dessen Bundespräsidentin zwar am Gedenktag nach Auschwitz reist, das aber bis heute auf ein Holocaustmahnmal verzichtet? In einem Land, das sich schwertut mit der eigenen Mitverantwortung an der Shoah? Das längst überfällige Restitutionen als «Enteignung» bezeichnet?

Bodemann betonte immer wieder, dass die Rote Armee Auschwitz nicht befreit, sondern vielmehr betreten habe. «Das Lager war längst evakuiert, die halbwegs gehfähigen Gefangenen wurden auf Todesmärschen Richtung Westen getrieben», schrieb er 2019 in der «Süddeutschen Zeitung». «Nur etwa 7500 kranke und sterbende Gefangene waren geblieben, die Wachmannschaften längst verschwunden.»

Betretung statt Befreiung also – das funktioniert erinnerungskulturell natürlich weniger gut.

Auch Max und Johanna Silberberg wurden in Auschwitz ermordet. 1941 wurde das jüdische Ehepaar von Breslau (heute Wrocław, Polen) ins Zwischenlager Kloster Grüssau «umgesiedelt», 1942 über Theresienstadt nach Auschwitz «abgeschoben». Ihr Sohn Alfred, dem 1939 gemeinsam mit seiner Ehefrau Gerta die Flucht nach London gelungen war, liess seine Eltern am 8. Mai 1945 für tot erklären.

Max und Johanna Silberberg wurden ab der Machtübernahme durch die NSDAP verfolgt und sukzessive enteignet. Das als «verwertbar» geltende Eigentum – Möbel, Schmuck, Bücher, Antiquitäten, Teppiche und eine Kunstsammlung, die bis zu 250 Werke umfasst haben musste – wurde konfisziert oder musste von Max und Johanna Silberberg selbst veräussert werden.

So gelangten Werke aus ihrer Sammlung auch auf den Schweizer Kunstmarkt. Während Menschen an der Grenze abgewiesen wurden, waren ihre Güter mehr als willkommen. Heute hängen sie in öffentlichen Museen, werden als Teil «unseres» kulturellen Erbes gepriesen, das es zu bewahren gelte. Beispiele dafür sind das Bild «Thunersee mit Stockhornkette» von Ferdinand Hodler im Kunstmuseum St. Gallen oder «La Sultane» von Édouard Manet im Kunsthaus Zürich.

Gerta Silberberg, die Schwiegertochter und alleinige Erbin von Max und Johanna Silberberg, forderte 2001 die Restitution der «Stockhornkette», 2002 jene der «Sultane». 2023 – über zwanzig Jahre später – zahlte die Simon-und-Charlotte-Frick-Stiftung, die heutige Eigentümerin der «Stockhornkette», eine finanzielle Entschädigung. Mit der Stiftung Bührle, Eigentümerin der «Sultane», steht eine Einigung bis heute aus.

Einheitlichkeit zerschlagen

«Die Breslauer Sammlungen sind der Stadt, und mittelbar dem Reich, nicht wichtig, weil sie ein Besitz sind, der sich ziffernmässig ausdrücken lässt, sondern weil sie geistige Spannungen erzeugen, weil sie geistige Menschheitsgüter konzentrieren und dadurch zu Bewahrern dessen werden, woran uns heute mehr als an allem andern liegen muss.»

Diese Zeilen schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler 1923 über Sammlungen, die das «Breslauer Kunstleben» prägten. Unter ihnen auch jene von Max und Johanna Silberberg. Ihre Sammlung, die Werke von Cézanne, Renoir oder van Gogh umfasste, war national und international so bekannt, dass auch die Zürcher Kunstgesellschaft 1925 um eine Leihgabe bat. Die «eindrucksvolle Einheitlichkeit», die Scheffler der Sammlung noch 1931 attestiert hatte, wurde mit der Machtübernahme im Januar 1933 zerschlagen. Dass Breslau bereits im März 1933 zum «Musterbeispiel» für das Durchgreifen gegen die jüdische Bevölkerung erklärt wurde, verdeutlicht, wie hart die Familie Silberberg davon getroffen wurde.

Im gleichen Jahr musste Max Silberberg all seine öffentlichen Ämter niederlegen. Er verliess «freiwillig» das Kuratorium des Schlesischen Museums der Bildenden Künste – jenes Museums, das er jahrzehntelang gefördert und unterstützt hatte und das später von der «Verwertung» seiner Sammlung profitierte. 1935 mussten Max und Johanna Silberberg ihre Villa unter Zwang und unter Wert verkaufen. Das Haus wurde zum Standort des Sicherheitsdiensts der NSDAP umfunktioniert. 1938 wurde Max Silberbergs Firma «arisiert».

Die finanzielle Not, die aus dem Berufsverbot und den Enteignungen resultierte, zwang das Ehepaar, Werke aus seiner Sammlung zu verkaufen – über Kunsthändler:innen, in sogenannten «Judenauktionen» oder zugunsten des Finanzamts Breslau-Süd, das Max und Johanna Silberberg diskriminierende Steuern auferlegt hatte.

Gemälde «Thunersee mit Stockhornkette» von Ferdinand Hodler
Ferdinand Hodlers «Thunersee mit Stockhornkette» (1913) gehörte Max und Johanna Silberberg – heute hängt das Bild als Leihgabe der Simon-und-Charlotte-Frick-Stiftung im Kunstmuseum St. Gallen.

Die «Sultane» hielten sie so lange wie möglich zurück, denn sie schätzten dieses Bild «über alles», wie die Historikerin Monika Tatzkow schreibt. Doch 1937 mussten sie sich auch von der «Sultane» trennen. Max Silberberg hatte das Bild in Paris deponiert und verkaufte es dem jüdischen Kunsthändler Paul Rosenberg. Den Verkaufserlös von 17 800 US-Dollar hat das Ehepaar vermutlich nie erhalten: In diesem Zeitraum war eine Überweisung von Paris nach Breslau faktisch unmöglich.

Während Alfred und Gerta Silberberg 1939 die Flucht nach London gelang, blieben Max und Johanna Silberberg (damals 61 und 55 Jahre alt) in Breslau. Die Forschung legt nahe, dass die geringen finanziellen Mittel, die ihnen noch geblieben waren, nur für die Flucht ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter gereicht hatten. 1941 wurden Max und Johanna Silberberg ins Zwischenlager Kloster Grüssau zwangsumgesiedelt. Die Transport- und Aufenthaltskosten mussten sie selbst tragen. Die Vermögenserklärungen, die sie ausfüllen mussten, weisen sie als «besitzlos» aus. 1942 wurden sie über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert.

Der Kunsthändler Paul Rosenberg, der 1940 von Paris nach New York flüchten musste und einige seiner Werke mitnehmen konnte, verkaufte die «Sultane» 1952/53 für 58 500 US-Dollar an Emil Bührle. Nach dessen Tod 1956 ging es als eines von insgesamt 203 Werken in die Stiftung Bührle ein.

Die Restitution, die Gerta Silberberg ab 2002 gefordert hatte, lehnte die Stiftung wiederholt ab: Sie wollte in den Umständen, unter denen Max und Johanna Silberberg das Bild 1937 verkauften, keinen Verfolgungsdruck erkennen. 2024 – 22 Jahre später – kündigte die Stiftung in einer Medienmitteilung dann doch an, «aufgrund der historischen Gesamtumstände» eine «symbolische Entschädigung» leisten zu wollen. Was die Stiftung mit «historischen Gesamtumständen» genau meint – NS-Gewaltherrschaft? Shoah? –, führt sie nicht aus. Ebenfalls nicht, inwiefern dafür eine symbolische Entschädigung angebracht sein soll. Auf die Frage, ob diese Medienmitteilung noch dem aktuellen Stand entspreche, antwortet die Stiftung ausweichend, bekräftigt dann aber, dass eine Einigung «kurz vor dem Abschluss» stehe.

Gerta Silberberg starb 2013, kurz vor ihrem 100. Geburtstag; die Restitution, für die sie sich bis zu ihrem Tod eingesetzt hatte, erlebte sie nicht mehr. Ihre Forderung gegenüber der Stiftung Bührle wird heute von ihrem Nachlass fortgeführt, dem Gerta Silberberg Discretionary Trust in Grossbritannien.

Eigentumsverhältnisse wahren

Obwohl Verkäufe von Jüdinnen und Juden – oder von jenen, die als solche kategorisiert wurden – im NS-Machtbereich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Zwangsverkäufe gelten, wird dieses international anerkannte Wissen von der Stiftung Bührle ignoriert. Im Dezember 2021 veröffentlichte die Stiftung anlässlich ihrer Dauerleihgabe an das Kunsthaus Zürich einen Bericht über die Ergebnisse ihrer hauseigenen Provenienzforschung. Statt auf die Verfolgung einzugehen, der Max und Johanna Silberberg ausgesetzt waren, stellte die Stiftung zunächst sogar infrage, dass das Ehepaar rechtmässiger Eigentümer der «Sultane» war. (Auch nach seiner «Aktualisierung» im März 2023 erfuhr der Bericht keine an den historischen Tatsachen orientierte Veränderung.)

Statt Auskunft über den konkreten Kontext zu geben, in dem die «Sultane» 1937 verkauft wurde, sucht die Stiftung den Grund für den Verkauf in den Jahren vor 1933 – und findet ihn in der Weltwirtschaftskrise von 1929. Max und Johanna Silberberg seien durch die Krise in «finanzielle Schwierigkeiten» geraten und hätten deshalb schon vor der Machtübernahme die Absicht gehabt, die «Sultane» zu verkaufen. Ausserdem habe sich das Gemälde zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht in Breslau, sondern im noch unbesetzten Paris befunden.

Statt also die existenzielle Not als Folge der NS-Gewaltherrschaft anzuerkennen (was belegt ist), spricht die Stiftung von «finanziellen Schwierigkeiten» und führt diese auf die Weltwirtschaftskrise zurück (was nicht belegt ist). Statt den Fokus auf den Aufenthaltsort von Max und Johanna Silberberg zu legen, konzentriert sich die Stiftung auf den Standort des Bildes in Paris. Damit blendet sie den Verfolgungsdruck aus, um die eigenen Interessen, ihr Eigentum zu wahren. Diese Verschiebung weg von den Menschen hin zu ihren Gütern trage, darauf weist die Kunsthistorikerin Nikola Doll hin, «zur Fortschreibung mit dem Holocaust etablierter sozialer, rechtlicher, kultureller Hierarchien» bei. Das heisst: Die Stiftung Bührle setzt die damals begonnene Entmenschlichung, die damals begonnene Enteignung bewusst fort.

Welches also die «gesamthistorischen Umstände» sind, aufgrund derer die Stiftung heute eine «symbolische Entschädigung» leisten möchte, bleibt unklar. Klar aber ist, dass eine solche keine Einigung ist, die die Interessen der Nachkommen in den Mittelpunkt stellt, wie es etwa in den «Best Practices for the Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art» von 2024 festgehalten wird: «Gerechte und faire Lösungen» sollen in erster Linie gerecht und fair für die Opfer der Shoah und ihre Nachkommen sein, heisst es dort. Gleichzeitig halten die «Best Practices» die Restitution zwar nicht als einzige, aber dennoch als primäre Lösung fest. Obwohl sich die Stiftung Bührle explizit auf die «Best Practices» bezieht, scheint sie diese nicht ernst zu nehmen.

Moralisch verpflichtet

Der Stiftung Bührle fällt es offensichtlich schwer, die existenziellen Folgen der NS-Gewaltherrschaft anzuerkennen. Doch gibt es hierzulande auch Beispiele für einen anderen Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenen Werken aus der Sammlung Silberberg.

1992 gelangte das Bild «Nähschule im Amsterdamer Waisenhaus» von Max Liebermann aus dem Nachlass von Marianne Krüger-Jöhr ins Bündner Kunstmuseum in Chur. 1997/98 wurde es als Leihgabe an eine Liebermann-Ausstellung gegeben, die in Hamburg, in Frankfurt am Main und in Leipzig gezeigt wurde. Durch die Ausstellung wurde Gerta Silberberg auf den Standort des Bildes aufmerksam und forderte im August 1999 die Restitution. Im Mai 2000 beschloss der Stiftungsrat des Museums, das Bild zu restituieren. «Für die Stiftung Bündner Kunstsammlung war es von allem Anfang an erklärtes Ziel, eine möglichst rasche und unbürokratische Entscheidung zu treffen, da man sich moralisch dazu verpflichtet fühlte», schreibt Beat Stutzer, der damalige Direktor des Bündner Kunstmuseums. «Zudem wollte man im Unterschied zu anderen, eher zögerlich agierenden Museen und privaten Sammlungen […] ein Exempel statuieren.»

Das Bild befand sich seit 1927 in der Sammlung Silberberg. Aufgrund der finanziellen Not – die Beat Stutzer nicht auf die Weltwirtschaftskrise, sondern auf den Nationalsozialismus zurückführt – sahen sich Max und Johanna Silberberg gezwungen, es dem jüdischen Verleger Bruno Cassirer in Berlin zum Verkauf zu übergeben. Cassirer vermittelte es 1934 Adolf Jöhr für 16 000 Reichsmark. Jöhr, Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft, wusste, dass das Bild aus der Sammlung Silberberg kam; entsprechend konnte er wissen, dass es unter Verfolgungsdruck verkauft worden war.* Obwohl nicht genau überliefert ist, in welchem Jahr Max und Johanna Silberberg das Bild an Cassirer übergaben, «deutet nichts darauf hin, dass das Gemälde […] vor dem Antritt der Nationalsozialisten 1933 bei Cassirer eingeliefert wurde», so das Bündner Kunstmuseum auf seiner Website. Dieser Umgang signalisiert eine «konsequente Vermutung zu den Gunsten der Opfer», wie sie etwa der auf Provenienzfragen spezialisierte Rechtsanwalt Marcel Brülhart empfiehlt.

Der Fall zeigt, wie schnell «gerechte und faire Lösungen» gefunden werden können. Denn der Faktor Zeit ist für die Nachkommen der Opfer zentral. Der Historiker Raphael Gross, der jüngst im Auftrag der Stadt Zürich die Provenienzforschung der Stiftung Bührle überprüfte und sie als «nicht ausreichend» bewertete, schreibt, dass der «lange Atem der Institutionen» oft als kränkend empfunden werde. «Immer neue Forschung kann aus dieser Sicht auch als endloses Aufschieben einer Entscheidung durch die Institution erscheinen, sodass neue Forschung in Konkurrenz zu einer Entscheidung für eine faire und gerechte Lösung zu treten scheint – und nicht als Wegbereiter einer Entscheidung.»

Ein weiteres, weniger fortschrittliches Beispiel ist die finanzielle Entschädigung in unbekannter Höhe, die 2023 im Fall des Bildes «Thunersee mit Stockhornkette» mit der Stiftung Frick zustande kam. Die «Stockhornkette» befand sich spätestens ab 1930 im Eigentum von Max und Johanna Silberberg. Das Ehepaar musste das Bild 1935 in einer sogenannten «Judenauktion» für 3800 Reichsmark verkaufen. Danach gelangte die «Stockhornkette» in Schweizer Privatbesitz, wobei bislang unbekannt ist, wer es kaufte. 1985 wurde das Bild über die Galerie Kornfeld – eine Galerie, die bis heute mit ungeklärten Provenienzen handelt (siehe WOZ Nr. 38/24) – für 420 000 Franken an das Ehepaar Simon und Charlotte Frick verkauft. Seit 2008 befindet es sich als Dauerleihgabe im Kunstmuseum St. Gallen.

Restitutionen abwehren

Als Grund gegen eine Restitution wird immer wieder das Argument bemüht, die Werke würden in einem privaten Depot verschwinden oder hochpreisig an Auktionen weiterverkauft. Damit die Werke – und das damit verbundene Unrecht – nicht in Vergessenheit gerieten, müssten diese weiterhin öffentlich gezeigt werden. So zumindest das Argument von Museen wie dem Kunstmuseum St. Gallen oder dem Kunsthaus Zürich.

Das Kunstmuseum St. Gallen schrieb im Oktober 2023 anlässlich der Einigung zur «Stockhornkette» in einer Medienmitteilung: «Auch Werke mit problematischer Vergangenheit sollen öffentlich gezeigt und ihre Herkunft transparent dargestellt werden. Damit wird an begangenes Unrecht – wie hier im Fall Max Silberberg –, an Sammler und Sammlerinnen und ihr Schicksal erinnert und ihre Geschichte im öffentlichen Gedächtnis wachgehalten.»

Die «Stockhornkette» ist aktuell in der Ausstellung «Vorwärts in die Vergangenheit» zu sehen, die Einblick in die Provenienz einiger Werke aus der Sammlung geben soll. Neben dem Bild ist ein kleines Schwarzweissporträt von Max Silberberg zu sehen. Ein kurzer Text verweist auf einige Etappen aus seiner Biografie. Diese beziehen sich fast ausschliesslich auf seine Verfolgung und kaum darauf, was davor war. Entsprechend wird nicht vermittelt, wer Max oder Johanna Silberberg waren oder welche Bedeutung die Sammeltätigkeit für das kulturelle Leben in Breslau hatte. Es wird zum Beispiel nicht vermittelt, dass ihre Villa an der Landsbergstrasse nicht nur privater Wohnsitz war, sondern auch ein kultureller Treffpunkt für die jüdische Gemeinde in Breslau, zu dieser Zeit die drittgrösste nach Berlin und Frankfurt am Main. Es wird nicht vermittelt, dass Max Silberberg nach der Machtübernahme am «Jüdischen Kulturkreis» beteiligt war – und damit Widerstand gegen die Nazis leistete. Um dem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung entgegenzuwirken, koordinierte die Organisation kulturelle Veranstaltungen und unterstützte sie finanziell. Johanna Silberberg findet lediglich als «seine Gattin» Erwähnung. Diese Lücke macht sich nicht nur im Museum bemerkbar; auch aus der Literatur geht wenig über sie hervor. Offen ist zum Beispiel, ob und inwiefern sie an der Sammlung mitgewirkt hat. Trotz dieser Forschungslücke – oder gerade deswegen – wird Johanna Silberberg in diesem Text mitgenannt.

Der Fokus im Kunstmuseum St. Gallen soll also auf dem «begangenen Unrecht» liegen, auf dem «Schicksal» der Silberbergs, das «erinnert» und «im öffentlichen Gedächtnis wachgehalten» werden soll. Doch inwiefern handelt es sich um eine Würdigung, wenn ihr Leben und Wirken vor der Shoah ausgeblendet wird und damit das, was unwiderruflich zerstört wurde? Wenn selbst die wenigen Angaben zum widerfahrenen Unrecht fragmentarisch oder gar falsch sind? So wurde das Ehepaar nicht in Theresienstadt, sondern in Auschwitz ermordet.

Während das Kunstmuseum das «Schicksal» von Max und Johanna Silberberg, von Alfred und «seiner Gattin» Gerta in wenigen Sätzen abhandelt, wird das «Engagement» der Stiftung Frick grosszügig ausgeführt. Schliesslich habe genau dieses dazu geführt, dass die «jahrelangen» Verhandlungen «erfolgreich» abgeschlossen worden seien und das Werk nun der Öffentlichkeit «erhalten» bleibe.

Doch hat die Bürde jahrelanger Verhandlungen tatsächlich die Stiftung Frick getragen? Würde Gerta Silberberg den Abschluss ebenfalls als «erfolgreich» bezeichnen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet – die Deutungshoheit bleibt beim Kunstmuseum und der Stiftung. Entsprechend wird verschleiert, was das «Engagement» der Stiftung in diesem Kontext tatsächlich bedeutet: Engagiert hat sie sich nicht für die Interessen der Opfer der Shoah (Gerta Silberberg hatte die Restitution gefordert), sondern dafür, das eigene Eigentum zu wahren. Und Letzteres geschieht vermeintlich für das öffentliche Gedächtnis, damit wir erinnern können. Doch wer ist eigentlich «wir»?

Zeugnis ablegen

Auch das Kunsthaus Zürich positioniert sich mit einer Erinnerungsabsicht. «Die Gemälde selbst haben keinen Anteil an dem unfassbaren Unrecht, das in der Zeit des Nationalsozialismus ausgeübt worden ist», steht in der Medienmitteilung, die anlässlich der neuen Kontextualisierung der Sammlung Bührle im November 2023 veröffentlicht wurde. «Sie legen aber Zeugnis davon ab und sind Anlass, der Opfer des NS-Terrors zu gedenken, ihre Schicksale in Erinnerung zu rufen und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu reflektieren.»

Während bis 2023 der Name von Max Silberberg in den Ausstellungsräumen gar nicht erst erwähnt wurde, sind heute neben der «Sultane» ein paar Zeilen zu seiner Biografie zu lesen, begleitet von einem Schwarzweissporträt – das gleiche wie im Kunstmuseum St. Gallen, einfach etwas grösser. Auch hier erfährt man wenig über Max (oder Johanna) Silberberg. Und wie in St. Gallen erscheint Silberberg auch in Zürich auf der Bühne eines Gedächtnistheaters, in der ihm zugewiesenen Rolle des jüdischen Opfers, das im KZ ermordet wurde. In welchem, das ist auch im Kunsthaus nicht wichtig.

Für das Gedächtnistheater, so Michal Bodemann, würden jüdische Dramen und jüdische Schauspieler:innen benötigt, «keine Hauptdarsteller freilich, sondern eher Statisten». Wenn also Jüdinnen und Juden zu einem gegebenen Zeitpunkt in die ihnen gegebene (Opfer-)Rolle schlüpfen, dann geht es nicht um sie, sondern um eine deutsche Gesellschaft, die erinnert, sich mit ihrer Schuld befasst – und weil sie das tut, ein Recht auf Versöhnung hat.

Während es für Bodemann in Deutschland also um Versöhnung geht – der Autor Max Czollek nutzt dafür den Begriff «Versöhnungstheater» –, geht es in der Schweiz um Selbstvergewisserung. Um die Selbstvergewisserung, dass die Schweiz eben nicht Deutschland ist; nicht die gleiche Schuld trägt; Menschen nicht in der Schweiz, sondern jenseits der Grenzen ermordet wurden; die SVP nicht die AfD ist.

Ins Gegenteil verkehrt

Das Kunsthaus Zürich ist die Bühne dieses Selbstvergewisserungstheaters. In den Rollen: eine Kunsthaus-Direktorin, die mit «einzigartigen Meisterwerken» der Opfer gedenken möchte und so einen – lange negierten – Schuldzusammenhang zu einem Opfermahnmal umdeutet. Eine Stadtpräsidentin, die den Besuch der Sammlung Bührle im Kunsthaus empfiehlt und ihm eine aufklärerische Wirkung zuschreibt: Sie helfe, «dass wir uns als Zürich und Schweiz vermehrt mit den Verstrickungen in der NS-Geschichte auseinandersetzen müssen». Doch allein dieser Satz zeigt: «Vermehrt» bedeutet gelegentlich; «auseinandersetzen müssen» suggeriert, dass die Dominanzgesellschaft die Bürde der Geschichte trägt.

In einer weiteren Rolle: eine Stiftung, die die Suche nach gerechten und fairen Lösungen verzögert und Restitutionsforderungen jahrzehntelang auszusitzen versucht, bis keine direkten Nachkommen mehr am Leben sind. Und nicht zuletzt: ein Kunstgesellschaft-Präsident, der ebenfalls erinnern möchte – nicht an die Shoah, sondern daran, dass die Schweiz «kein Täterland» sei, wie er es 2023 an der Neueröffnung der Sammlung Bührle ungeniert formulierte. Und weil die Schweiz kein Täterland ist, hat sie auch nicht die gleichen Verpflichtungen; gewahrt werden muss nicht die Würde der Opfer, sondern der eigene Besitz. Entsprechend kämen für ihn auch Entscheidungen, die zukünftig durch eine unabhängige «Expertenkommission für belastetes Kulturerbe» getroffen werden würden, einer «Enteignung» gleich. Von der Enteignung betroffen sind in dieser Logik plötzlich nicht mehr die Opfer der Shoah, sondern eine privilegierte Schweizer Gesellschaft, die von ebendiesen Opfern profitiert. Statt sich entschieden gegen diese Täter-Opfer-Umkehr zu positionieren, entschied sich die Stadt, lieber nichts zu sagen.

Diese Äusserungen sind keine Einzelfälle, sondern Teil von dem, was sich als Schweizer Staatsräson bezeichnen liesse: der «Sonderfall» Schweiz, der «sichere Hafen», in den Güter «gerettet» werden konnten. Diese Vorstellungen kursieren noch heute, obwohl sie längst widerlegt wurden.

Ebenso wenig handelt es sich bei der «Sultane» um einen Einzelfall. 133 der 203 Werke aus der Sammlung Bührle befanden sich in vormaligem jüdischem Eigentum. Wie viele davon potenzielle Verdachtsfälle sind, dazu gibt es bis heute keine unabhängige Forschung.

Für Michal Bodemann ist das Gedenken massgebend für die kollektive Identitätsfindung. Doch in diesem «wir» haben die Betroffenen selbst achtzig Jahre nach Kriegsende nicht die Deutungshoheit, die ihnen zusteht.

* Korrigenda vom 9. April 2025: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion stand fälschlicherweise, dass Adolf Jöhr überzeugter Frontist gewesen sei. Das stimmt nicht; Frontist war Jöhrs Sohn Walter Adolf Jöhr.