Coronazertifikat: Grosse Worte um den kleinen Piks

Nr. 35 –

Der Bundesrat zögert mit der Einführung einer erweiterten Zertifikatspflicht. Dabei wäre jetzt der richtige Zeitpunkt. Die Kantone drängen darauf, und bis auf die SVP sind alle Parteien dafür. Demnach müsste, wer in ein Museum, ein Gym, ein Restaurant will, einen Nachweis für eine vollständige Impfung, einen negativen Test oder eine durchlebte Erkrankung erbringen. So sollen die Spitäler vor Überlastung bewahrt werden. Schon heute müssen Operationen verschoben werden, weil die Intensivstationen gefüllt sind. Die Zertifikatspflicht soll zwei Dinge bewirken: Unmittelbar schützt sie Menschen, die ungeimpft sind, vor einer Erkrankung. Darüber hinaus schafft sie einen starken Anreiz, sich impfen zu lassen, auch weil Coronatests ab Oktober selber bezahlt werden müssen. Hat sich die Lage stabilisiert, so der Bundesrat, entfällt die Zertifikatspflicht wieder.

Damit könnte diese Geschichte erzählt sein. Doch so einfach ist es nicht. Es geht beim Zertifikat – wie viel zu oft in den letzten Monaten – um Fundamentales: Von Impfzwang ist die Rede, von der Spaltung der Gesellschaft, von einem Zweiklassensystem, der bedrohten Freiheit des Einzelnen und den verletzten Grundrechten von ImpfgegnerInnen.

Wo grosses Vokabular bemüht wird, gilt es, misstrauisch zu sein. Überladene Begriffe sind untauglich, in der jetzigen Situation Orientierung zu bieten. Sie unterschlagen, dass die Wirklichkeit kompliziert ist. So lässt sich die Frage der Freiheit des Einzelnen nicht mit dem Blick in den Spiegel beantworten. Es steht mir frei, ohne Impfschutz eine schwere Erkrankung in Kauf zu nehmen. Steht es mir auch frei, jemandem dadurch eine Krebsoperation zu verunmöglichen, weil das Spital keinen Platz hat? Wer sich bei Zutrittsbeschränkungen um Grundrechte sorgt, sollte das Kindeswohl und das Recht auf Bildung nicht vergessen, dem erst ein geschützter, unterbrechungsfreier Unterricht Geltung verschafft. Ohne Güterabwägung geht es nicht, aber sobald diese erfolgt, wird die Lage schnell uneindeutig.

Ein besonderes Ungetüm ist die «Spaltung der Gesellschaft», vor der eifrig gewarnt wird. Ohne Zweifel tut sich für jene 25 Prozent der Bevölkerung, die unumstösslich die Impfung ablehnen, künftig ein Graben auf. Sie werden teure Tests bezahlen müssen oder draussen bleiben. Nun ist es aber nicht so, dass die Schweiz vor der Impfkampagne ein Volk von einig Brüdern und Schwestern war. Unsere Gesellschaft ist von tiefen Rissen durchzogen. Wer in der Stadt wohnt, tickt anders als der Bauer vom Lande. Wer reich geboren ist, hat Privilegien, von denen viele nur träumen können. Und wer AusländerIn ist, wird über die befürchtete Spaltung nur milde lächeln können. Der Impfgraben dagegen lässt sich spielend leicht überspringen: mit einer Schutzimpfung, die kostenlos und sicher ist.

Rhetorische Abrüstung ist dringend nötig. Der Impfentscheid ist kein Akt des Widerstands – und auch keiner der grossen Solidarität. Er sollte eine rationale Aushandlung sein. Ich selbst habe mich impfen lassen, um mich und meine Familie zu schützen. Und um mich möglichst uneingeschränkt bewegen zu können. Das ist letztlich genauso egoistisch wie der Entscheid, auf eine Impfung zu verzichten. Weshalb es albern ist, wenn Leute die Impfung vor sich hertragen wie ein Ehrenabzeichen.

Die Begrifflichkeiten, mit denen die Debatte geführt wird, sind aber nicht nur materiell problematisch, sondern auch in ihrer psychologischen Wirkung. Sie verführen zur Selbstüberhöhung, die es schwierig macht, irgendwann wieder einen Schritt zurückzutreten: Ein Freiheitskämpfer streckt seine Waffen nicht. Auch wenn der Kampf längst einer gegen Windmühlen ist.

Dänemark kennt seit April eine Zertifikatspflicht. Ins Kino, in den Zoo oder ins Restaurant darf nur, wer geimpft, frisch getestet oder genesen ist. Nun hat die Regierung die Aufhebung der Zertifikatspflicht per 10. September verkündet. 73 Prozent der dänischen Bevölkerung sind vollständig geimpft, die Seuche ist unter Kontrolle. Die paradox anmutende dänische Lektion: Um einen Graben zu schliessen, muss man ihn erst ausheben. Oder anders gesagt: Die – zeitlich befristete – Zertifikatspflicht ist der schnellste Weg, diese überflüssig zu machen.