Theater: Schweizreise mit Sexpuppe

Nr. 38 –

Ein Wiener Autorinnenkollektiv um Stefanie Sargnagel klopft am Berner Stadttheater die Sage vom Sennentuntschi auf ihr heutiges Potenzial ab. Natürlich gehts um Sex und Gewalt – das ist unterhaltsam, aber nicht so beklemmend, wie es sein könnte.

Am Ende ist nicht viel Moral übrig, und das ist gut so: Szene aus «Tuntschi». Foto: Yoshiko Kusano

Die Sage vom Sennentuntschi, im ganzen deutschsprachigen Alpenraum verbreitet und immer wieder neu bearbeitet, geht ungefähr so: Auf einer Alp leben den Sommer über vier Sennen, die sich aus Einsamkeit und Langeweile eine Puppe basteln. Einer nach dem anderen nimmt sie dann zu sich ins Bett, und als sie die Puppe zu füttern beginnen, erwacht diese zum Leben. Das macht den Sennen Angst, sie zerreissen die Puppe, doch am nächsten Tag kommt sie wieder. Also schlafen sie eben weiter jede Nacht mit ihr, und am Tag des Alpabzugs will das Tuntschi die Männer nicht gehen lassen, es sagt: «Ihr habt euren Spass mit mir gehabt, jetzt will ich meinen mit euch haben» – so behält es einen der Sennen bei sich und zieht ihm die Haut ab, die es zum Trocknen in die Sonne hängt.

Ob der Sex mit dem Tuntschi einvernehmlich war oder nicht, darüber verlieren die ursprünglichen Überlieferungen kein Wort. Schon deshalb drängt sich dieses schauerliche Märchen für eine zeitgenössische feministische Betrachtung geradezu auf. Für das Berner Stadttheater haben sich nun Lydia Haider, Barbi Markovic, Maria Muhar und Stefanie Sargnagel vom Autorinnenkollektiv Wiener Grippe/KW77 mit dem Stoff auseinandergesetzt. «Tuntschi. Eine Häutung» heisst ihre Bearbeitung, die jetzt in der Regie von Sara Ostertag uraufgeführt wurde.

Was kann diese Figur heute sein: ein Opfer, eine feministische Rächerin, ein Symbol des Widerstands? Zur Klärung fahren die vier Wiener Autorinnen, gespielt vom Ensemble des Stadttheaters, in die Schweiz. Nach einem ersten Stopp in Zürich landen sie im Rätischen Museum in Chur, wo der einzige Hinweis auf ein echtes Sennentuntschi liegt: eine vierzig Zentimeter grosse Frauenpuppe mit Echthaar, Brüsten aus Stoff, unbekleidetem Unterleib und einem Loch als Mund. In den Siebzigern wurde diese Puppe in Cauco im Calancatal auf einem Dachstock gefunden; wer sie gemacht hat, wann und warum, ist bis heute nicht geklärt. Nach Cauco fahren die Autorinnen auch, danach nach Bern – die Reise bildet die Rahmenhandlung des Stücks, dazwischen wird das Tuntschi höchst assoziativ nach dem Heute befragt.

Incels auf der Alp

Auf der Bühne in Bern ist das Tuntschi ein Mann. Es steckt in einer Art Fatsuit, über und über mit angehängten Körperteilen versehen, und es wird auf die Recherchereise mitgeschleppt. Es wird befragt und geplagt und am Ende kastriert, die Angelegenheit also gewissermassen umgedreht. Aber die Frauen probieren auch alle mal selber einen solchen Fatsuit an, um quasi von innen zu spüren, was es heisst, ein Tuntschi zu sein. Und die Männer aus der Sage? Die werden hier als Incels gedeutet, die sich in Internetforen gegenseitig in ihrem Hass auf Frauen bestätigen. Das ist naheliegend – denn auch die Incels sind ziemlich fixiert auf Sex (der ihnen, wie sie meinen, von den Frauen verweigert werde). Und wie die Sennen halten auch sie sich in einem mehr oder weniger abgeschlossenen Raum ausschliesslich unter Männern auf und kommen dabei auf krude Ideen.

Die Frauen überlegen sich derweil: Wie fühlt sich eine Häutung an? Leben Frauen, die nicht auf Männer stehen, länger? In Fragen wie diesen klingt auch Verena Stefan an, die Berner Autorin, die 1975 mit ihrem autobiografischen Buch «Häutungen» ein feministisches Grundlagenwerk veröffentlichte. Darin setzte sie sich mit der patriarchalen Gesellschaft und ihrer Rolle als Frau auseinander. Sich zu häuten, das hiess für sie, nach und nach das von Männern geprägte Denken abzulegen – auch in diesem übertragenen Sinne eine schmerzhafte, manchmal gewaltvolle Angelegenheit.

Gesang aus der Hölle

So gründlich jedoch wird an diesem Theaterabend nicht gearbeitet, so recht will das Stück nicht zum Fliegen kommen – auch deshalb, weil das Potenzial des Schauerlichen, das die Tuntschi-Sage birgt, immer wieder von zu viel Klamauk sabotiert wird, in der Sprunghaftigkeit des Stücks untergeht. Da kommt kaum Beklemmung auf, obwohl sich die Incel-Thematik und die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt doch sehr dafür anbieten würden und obwohl immer wieder gute Einfälle aufblitzen: «Nichts ist einfacher zu zerstören als die Nähe», heisst es einmal. Der Tuntschi-Mythos wird so als eine Art komplizierte, gewaltvolle (Liebes-)Beziehung gedeutet – wo im Übrigen immer noch ein Grossteil der sexuellen Übergriffe passiert. Und dann ist da zum Glück noch die Wiener Musikerin Jelena Poprzan, die auf über die Bühne gespannten Saiten trommelt und geigt, dazu jodelt, als käme dieser Gesang direkt aus der Hölle.

Am Schluss dann der Blutrausch: Eine der Frauen tänzelt betrunken durchs schicke Hotelzimmer und bringt den Zimmerservice um. Das macht Spass, auch als die vier Recherchereisenden dann besoffen in Bademänteln im Hotelzimmer herumliegen, kichernd, derbe Sprüche lallend und voller Blut. Da ist nicht viel Moral übrig, und das ist gut so und an diesem Abend auch die sympathischste Lektion: dass diese Frauen am Ende mitnichten feinfühliger, reflektierter oder ganz grundsätzlich besser sind als die Männer, mit denen sie sich auseinandersetzen.

«Tuntschi. Eine Häutung» in: Bern, Vidmar 1. Nächste Daten: So, 26. September 2021, 18 Uhr; Sa, 2. Oktober 2021, 19.30 Uhr; So, 3. Oktober 2021, 16 Uhr. Weitere Daten bis Ende Dezember siehe www.buehnenbern.ch.