Grossbritannien: Auf der Strasse haben die Sisters das Sagen

Nr. 47 –

Seit 2014 setzt sich eine Gruppe britischer Feminist:innen gegen staatliche Repression und für soziale Gerechtigkeit ein. Ein neues Gesetz, das der Polizei noch weitreichendere Befugnisse geben soll, könnte ihnen das Leben schwer machen.

Für die Gemeinschaft in Beschlag genommen: Aktivistinnen von Sisters Uncut auf dem besetzten Holloway-Gefängnis in London. Foto: Matthew Chattle, Getty Images

Am 30. September wurde Wayne Couzens – Vergewaltiger, Mörder, Polizist – im Londoner Strafgerichtshof Old Bailey zu lebenslanger Haft verurteilt. Er hatte im März die 33-jährige Sarah Everard entführt, als diese auf dem Nachhauseweg war. Couzens gab vor, sie zu verhaften, legte ihr Handschellen an, fuhr sie mehrere Stunden durch die Nacht aufs Land, wo er sie vergewaltigte und mit seinem Polizeigürtel erdrosselte. Der Fall schockierte ganz Grossbritannien und stürzte die Londoner Metropolitan Police in eine schwere Vertrauenskrise. Nach Couzens’ Verurteilung trat die Met-Chefin Cressida Dick vor dem Old Bailey an ein Podium und sagte, der Schuldige habe «Schande» über ihre Behörde gebracht. Seine Taten seien «ein tiefer Verrat an allem, wofür die Polizei steht».

Unweit der Kommissarin standen an jenem Tag etwa dreissig junge Frauen, die an diesen Worten zweifeln. Denn in ihren Augen hat die Polizei ein systematisches Gewaltproblem. «Met Police: Blut an euren Händen» hatten sie auf ein Spruchband geschrieben, und sie riefen: «We will not be silenced by police violence!» – Polizeigewalt wird uns nicht zum Schweigen bringen. Die Gruppe von feministischen Aktivistinnen kämpft unter dem Namen Sisters Uncut seit Jahren für die Sicherheit von Frauen in Grossbritannien, im öffentlichen Raum genauso wie zu Hause. Dabei ist die brave Demo vor dem Strafgericht noch eher untypisch: Die Sisters bevorzugen direkte Protestaktionen – oftmals originell, zuweilen erfolgreich.

Ein blutiger Brunnen

Ihren Ursprung haben die Sisters Uncut im Widerstand gegen den Sozialabbau, der auf die Finanzkrise von 2008 und 2009 folgte – «cut» kann im Englischen sowohl schneiden als auch einsparen bedeuten. Das drastische Sparprogramm zwang die Gemeinden, bei etlichen Sozialdiensten Abstriche zu machen, auch bei den Einrichtungen für Opfer häuslicher Gewalt. Die Beiträge wurden allein zwischen 2010 und 2012 um geschätzte 30 Prozent gekürzt, Dutzende Frauenhäuser mussten schliessen.

2014 taten sich die Sisters Uncut zusammen, um gegen diesen Kahlschlag zu protestieren. Über die Zahl der Mitglieder gibt es keine verlässlichen Angaben – der Gruppe fehlen feste Strukturen, ihre Aktionen umfassen manchmal eine Handvoll Frauen, manchmal Dutzende. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hatten die Sisters schnell. Sie besetzten das Dach von London Councils, der Organisation der Londoner Gemeindebehörden, um deren Rolle im Kürzungsprogramm anzuprangern. Dann schütteten sie blutrote Farbe in den ikonischen Brunnen auf dem Trafalgar Square – der Slogan der Gruppe lautet «They cut, we bleed» – sie kürzen, wir bluten. In einer anderen Aktion verbrannten sie Exemplare des rechten Revolverblatts «Daily Mail» vor dessen Redaktionsgebäude, weil die Zeitung immer wieder gegen Migrant:innen hetzt. Kurz nachdem das Londoner Gefängnis Holloway Prison 2017 geschlossen worden war, besetzten sie es und forderten, dass es in ein Frauenzentrum umfunktioniert wird.

Immer wieder sind ihre Aktionen solidarisch: Sie verbinden den Schutz von Frauen mit anderen Anliegen – den Rechten von Migrantinnen etwa oder dem Kampf für bezahlbaren Wohnraum. So stiess auch eine junge Frau zur Gruppe, die sich als Natalya Forde vorstellt. Sie ist 24 Jahre alt und arbeitet für eine Sozialstiftung in Ostlondon. 2016 war Forde unter den Besetzerinnen einer leer stehenden Gemeindewohnung im Stadtteil Homerton. «Wir wohnten dort für fast drei Monate und richteten in der Wohnung ein Sozialzentrum ein», erzählt sie. «Wir wollten die Gemeindebehörde von Hackney dazu bewegen, Opfern häuslicher Gewalt Wohnraum bereitzustellen. Viele Frauen waren gezwungen, mit gewalttätigen Partnern zusammenzuleben, weil die Gemeinde sagte, es gebe nicht genügend Wohnungen, um sie unterzubringen – dabei standen in Hackney damals über tausend Gemeindewohnungen leer.» Am Ende schafften es die Aktivistinnen tatsächlich, einigen betroffenen Familien eine Behausung zu beschaffen, erzählt Forde.

Im September war sie unter den Frauen, die vor dem Old Bailey protestierten. Die Polizeigewalt ist im Lauf des vergangenen Jahres zum Fokus von Sisters Uncut geworden. Viele ihrer Protestaktionen richten sich gegen eine drakonische Gesetzesvorlage, mit der das Innenministerium die Befugnisse der Polizei ausbauen will. Die «Policing Bill» wird beispielsweise Personenkontrollen erleichtern – die Polizei bräuchte nicht einmal einen Verdacht, dass jemand eine Straftat begangen hat, um die Person zu filzen. Zudem wird das Recht, sich frei zu bewegen, stark eingeschränkt: Wer sich ohne die Einwilligung des Besitzers auf einem Grundstück aufhält, macht sich strafbar – eine Regelung, die offensichtlich auf Fahrende und Roma abzielt.

Insbesondere nimmt das Innenministerium friedliche Demonstrationen ins Visier: Die Polizei kann laut dem neuen Gesetz genaue Anfangs- und Endzeiten für Proteste vorschreiben, und sie darf eine Demo verbieten, wenn sie zu viel Lärm macht oder als «störend» empfunden wird. Selbst manche konservative Abgeordnete halten dies für völlig überrissen: Ein überparteilicher Parlamentsausschuss hat gewarnt, dass das Gesetz unter Umständen gegen das Recht auf Protest verstösst – und damit einen Bruch der Menschenrechte darstellt.

«Kill the Bill» und «Fuck Boris»

Die Aktivistinnen von Sisters Uncut kämpfen an vorderster Front gegen die Vorlage, sie sind Teil der «Kill the Bill»-Koalition, die sich aus mehreren Protestgruppen zusammensetzt. «Mit dem neuen Gesetz kann die Polizei im Prinzip entscheiden, wann, wo und wie sich Bürgerinnen und Bürger zusammenfinden oder protestieren dürfen», sagt Forde. «Selbst eine laute Hausparty könnte verboten werden.» Dass solche Befürchtungen keineswegs unbegründet sind, belegen unzählige Vorfälle. Nach einer Black-Lives-Matter-Demo im Sommer 2020 zum Beispiel wurde eine Protestierende von einem Polizisten aufgefordert, ein T-Shirt mit der Aufschrift «Fuck Boris» zu verdecken – jemand könnte sich durch die Worte «belästigt» oder «verängstigt» fühlen, sagte der Beamte.

Unter dem Polizeigesetz hätten Sisters Uncut offensichtlich Mühe, ihre Protestaktionen durchzuziehen. Aber das Problem geht tiefer. Für die Aktivistinnen gibt es eine zwingende und alarmierende Logik: Je mehr Befugnisse die Polizei erhält, desto mehr Möglichkeiten hat sie, ihre Macht zu missbrauchen. Der Mord an Sarah Everard ist ein extremes und erschütterndes Beispiel für diesen Missbrauch. Aber anders als die staatlichen Behörden halten die Sisters das Verbrechen nicht für einen tragischen Einzelfall. «Die Polizei ist eine Institution, die auf Zwang und Gewalt gründet», sagt Natalya Forde. «Der Fall von Couzens war grauenhaft – aber auf der anderen Seite ist er keine Überraschung. Denn wir wissen aus Statistiken und aus unserer eigenen Erfahrung, dass die Polizei zu Gewalt neigt.»

Forde kennt die Zahlen auswendig. Zum Beispiel, dass in Grossbritannien seit 1990 fast 1800 Menschen in Polizeigewahrsam oder beim Kontakt mit der Polizei ums Leben gekommen sind. In zehn Fällen wurden Polizisten des Mordes oder Totschlags beschuldigt, aber keiner wurde verurteilt. «Manche dieser Todesfälle wurden sogar von Kameras erfasst – und trotzdem sind die Schuldigen auf freiem Fuss», sagt Forde. «Es ist zudem bekannt, dass männliche Polizisten auch zu Hause gewalttätig werden.» Das Bureau of Investigative Journalism hat aufgedeckt, dass zwischen 2015 und 2018 fast 700 Polizisten wegen häuslicher Gewalt angezeigt worden sind – aber in weniger als zehn Prozent der Fälle wurden die Beschuldigten entlassen oder zumindest verwarnt. Ein ehemaliger leitender Polizist sagte gegenüber dem Fernsehsender Channel 4, dass häusliche Gewalt durch Polizisten eine «Epidemie» darstelle.

Doch die polizeilichen Übergriffe spielen sich auch ausserhalb der eigenen vier Wände ab: 2015 und 2017 sind bei der Polizeiaufsichtsbehörde fast 400 Beamte angezeigt worden, weil sie ihre «Macht zur sexuellen Bereicherung missbrauchten» – die Vergehen reichen von flirtenden Textnachrichten bis zu körperlichem sexuellem Missbrauch. Besonders betroffen seien Sexarbeiterinnen und Drogenabhängige sowie Frauen, die sich wegen häuslicher Gewalt an die Polizei gewandt hätten, sagt Forde. «Wir sehen also, dass insbesondere marginalisierte Bevölkerungsgruppen von Polizeigewalt betroffen sind, weil die Beamten davon ausgehen, dass diesen sowieso niemand glauben wird.»

«Wir werden uns verweigern»

Zu diesen Gruppen gehören auch ethnische Minderheiten, die von der Strafjustiz besonders hart angegangen werden. Schwarze Männer werden von der Polizei neunmal häufiger gefilzt als weisse. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze wegen Drogenvergehen verhaftet werden, ist zehnmal so hoch wie bei Weissen. Natalya Forde, die selbst Schwarz ist, ist bestens vertraut mit dieser Diskriminierung: «In meiner Familie und in meinem Freundeskreis höre ich fast täglich, dass jemand von der Polizei angehalten und durchsucht worden ist.» Sie hat Angst, dass unter dem verschärften Polizeigesetz marginalisierte Gemeinschaften und ethnische Minderheiten noch stärker drangsaliert werden. «Mehr Befugnisse für die Polizei bieten uns keinen zusätzlichen Schutz, vielmehr geben sie der Polizei schlichtweg noch mehr Möglichkeiten, uns zu schikanieren.»

Sisters Uncut und die «Kill the Bill»-Koalition haben im vergangenen Jahr unzählige Proteste organisiert, in London, Bristol, Glasgow und vielen anderen Städten. Es hat alles nichts genutzt: Das Gesetz wird durchkommen, derzeit ist es in der Vernehmlassung im Oberhaus. Aber das wird nicht das Ende sein – dann geht es erst richtig los. Forde und ihre Mitstreiter:innen haben nicht vor, klein beizugeben und den Angriff auf ihre Rechte einfach hinzunehmen. Sie planen eine breite Kampagne des zivilen Ungehorsams. «Wir werden uns dem Gesetz verweigern», sagt Forde. Der Schlüssel dazu sei die Menschenmasse: Wenn eine Gruppe von Fahrenden von einem Stück Land vertrieben werden soll, dann stellt man sich zu Hunderten auf das Grundstück, um die Arbeit der Polizei zu erschweren. Wenn jemand grundlos gefilzt wird, gesellen sich die Umstehenden hinzu und stehen der Person bei. «Was können die Beamten tun, wenn auf einmal hundert Leute um sie herum stehen?», fragt Forde. Und wenn ein Protest verboten wird, geht man trotzdem hin.

Dass das funktionieren kann, demonstrierten die Londonerinnen im Frühling, als Sisters Uncut und andere Gruppen eine Mahnwache für die ermordete Sarah Everard ankündigten. Der Anlass wurde von der Met Police unter der Coronagesetzgebung untersagt. Dennoch fanden sich im Clapham Common, unweit der Stelle, wo Everard von ihrem Mörder entführt wurde, über tausend Menschen ein, vor allem Frauen. Am Musikpavillon, wo Hunderte Blumensträusse niedergelegt wurden, zogen Sisters Uncut ein Spruchband auf: «No killers, no cops, sisters run the block». Keine Mörder, keine Polizisten – auf der Strasse haben die Sisters das Sagen.