Commons: Kompliziert und unentbehrlich

Nr. 50 –

Allmende, Gemeingüter, Commons: Im Schweizer Alpenraum hat die kollektive Ressourcennutzung eine lange Geschichte. Viele Linke halten solche Organisationsformen für eine vielversprechende Alternative zum Kapitalismus – aber kennen die traditionellen Strukturen kaum. Gibt es aus den alpinen Erfahrungen etwas zu lernen?

  • Bis 1888 gab es in Uri keine administrative Trennung zwischen Kanton und Allmendgenossenschaft. Danach entstanden eigenständige Korporationen: Korporationsgemeinde auf dem Lehnplatz in Altdorf, um 1915. Foto: Staatsarchiv Uri / Signatur 111.19-BI-1266
  • Auf dem Urnerboden: Grünerlen verdrängen Gras und Blumen und produzieren das klimaschädliche Lachgas. Mit der Hilfe von Zivildienstleistenden versuchen die Älpler:innen, das Gestrüpp einzudämmen.
  • Aufräumarbeiten, sogenanntes Schönen, auf der Alp Ober Balm am Klausenpass, die der Korporation Uri gehört. Pro Kuh muss eine bestimmte Anzahl Stunden Fronarbeit geleistet werden.
  • Sepp Arnold aus Isenthal beim Wildheuen. Die Heuernte an hoch gelegenen, zum Weiden nicht geeigneten Steilhängen ist in Uri bis heute verbreitet. Das Heu wird in Netzen an Stahlseilen ins Tal transportiert.

Nur zehn Minuten dauert es zu Fuss vom Dorfzentrum Altdorf hinauf zum Forstwerkhof am Rand des steilen Schutzwaldes. Aber in diesen zehn Minuten muss Karl Marty dreimal stehen bleiben, um Bekannte zu grüssen. Marty ist ein drahtiger 66-Jähriger mit einem verblichenen Tattoo auf dem Arm, der gern auf Berge steigt. Aufgewachsen ist er auf einem Hof ganz in der Nähe, im Sommer ging die Familie auf den Urnerboden z Alp. Als junger Mann zog er dann mehr als zehn Jahre in der Welt herum, bevor er ins Urnerland zurückkam. Seit langem ist er aktiv in einer Institution, die manche «Staat im Staat» nennen: in der Korporation Uri, der grössten Landbesitzerin des Kantons. Er ist Schreiber der Korporationsbürgergemeinde Altdorf, die mit sechzehn anderen solchen Bürgergemeinden die Basis der Korporation ausmacht. Zwölf Jahre arbeitete er zudem als sogenannter Allmendaufseher der Korporation.

Knallgrün und fett wächst das Gras im topfebenen Reusstal, das hier längst mehr nach Agglo als nach «Urkanton» aussieht. In Flüelen steht ein sehr langer Containerzug. Der Urnersee leuchtet bleigrau, die steilen Hänge verschwinden in den Wolken. Der Transitverkehr und die unerbittliche Topografie prägen Uri seit Jahrhunderten. Ab dem Spätmittelalter orientierte sich die Landwirtschaft an Vieh und Käse für den Export, vor allem nach Norditalien. Die Strukturen, die dabei entstanden, wirken bis heute nach: Etwa siebzig Prozent der Landfläche des Kantons gehören den beiden Korporationen Uri und Ursern.

Spätes Frauenstimmrecht

Die Korporation Uri hat sechs Allmendaufseher, jeder mit seinem Territorium. Karl Marty war für den äussersten Nordosten des Kantons zuständig: Sisikon bis Altdorf. «Der Allmendaufseher muss jedes Jahr die ganze Allmend gesehen haben. Er muss wissen, was läuft», erklärt Marty. Ob Stallumbau auf der Alp oder Deponieplatz an der Autobahn: Alle Projekte auf Korporationsland müssen den Allmendaufsehern gemeldet werden. Diese bringen die Anliegen in den Engeren Rat, die Exekutive der Korporation. Zudem überwachen die Allmendaufseher die sogenannte Schönpflicht: Für jede Kuh, die auf die Alp kommt, müssen die Besitzer:innen drei Stunden Fronarbeit leisten, etwa Büsche zurückschneiden oder Lawinenschäden reparieren. Marty hat das Amt gefallen, obwohl es aufwendig ist. Oft sind Fussmärsche nötig. Als ein Älpler auf Rotenbalm, hoch über Riemenstalden, ein Wegprojekt besprechen wollte, verband Marty die Pflicht mit einer Bergtour und flog mit dem Gleitschirm heim.

Woher nimmt er die Motivation? Seinen engen Bezug zur Korporation beschreibt Marty als «familiär vorbelastet»: Schon als Kind hörte er zu, wenn der Grossvater mit dem Allmendaufseher politisierte. Sein Vater ersteigerte noch Bäume im Korporationswald und fuhr das Brennholz mit dem Hornschlitten ins Tal.

Eine Allmendaufseherin gab es in Uri noch nie. Der Engere Rat ist auch heute ein reines Männergremium. Erst seit 1991 haben Frauen in der Korporation das Stimmrecht. Davor hatte es mehrere Versuche in diese Richtung gegeben, doch Marty erinnert sich, wie vor allem Männer aus den Seitentälern an der Korporationsgemeinde das Thema blockierten. «Argumente hatten sie keine.»

Kollektiv bewirtschaftetes Land ist in der Schweiz weit verbreitet: Etwa ein Drittel der Wälder und Weiden gehört Korporationen oder Bürgergemeinden. Das schätzt Tobias Haller, Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bern. Exakte Zahlen gibt es nicht, auf jeden Fall sind die regionalen Unterschiede gross: Während in weiten Teilen der Romandie solche Strukturen schon lange abgeschafft wurden, gehören Korporationen und Bürgergemeinden in den Alpen vielerorts zu den grössten Landbesitzern. So wie in Uri. Die Schweiz sei ein regelrechtes «Commons-Labor», sagt Haller.

Ohne Regeln geht es nicht

Commons, Allmende, Gemeingüter: Alle drei Begriffe bezeichnen Ressourcen, die kollektiv und selbstorganisiert genutzt werden. Doch die Debatten sind komplex, die Missverständnisse zahlreich. Das wohl grösste Missverständnis geistert seit Jahrzehnten durch politökonomische Debatten: die «Tragik der Allmende» («tragedy of the commons»). Der US-amerikanische Ökologe Garrett Hardin schrieb 1968 einen Essay darüber. Seine Behauptung: Wenn eine Weide einem Kollektiv gehört, treiben die Nutzer:innen aus Eigennutz mehr Schafe darauf, als ihr guttut. Sie wird übernutzt oder sogar zerstört. Diese Behauptung ist alt und dient Liberalen seit langem als Argument dafür, dass Privateigentum das Beste sei.

Nur hat sie nicht viel mit Commons zu tun. Denn kollektiv genutztes Land zeichnet sich überall auf der Welt dadurch aus, dass eben nicht jede machen kann, was sie will: Es gibt Regeln. Die US-amerikanische Politologin Elinor Ostrom hat jahrelang Feldstudien zu Commons verglichen – von Fischbeständen in Kanada bis Alpweiden im Wallis – und diese Regeln definiert: Damit Commons-Nutzung gelingt, muss klar sein, wer nutzungsberechtigt ist; die Nutzer:innen sollten die Strukturen mitgestalten können; es braucht Instanzen, die Regelverstösse sanktionieren und Konflikte lösen; und übergeordnete politische Institutionen wie Staaten müssen die Commons-Organisation anerkennen.

Auch Karl Marty erwähnt Elinor Ostrom, zu diesem letzten Punkt: «Wenn der Kanton sagen würde, die Gesetze der Korporation sind für uns irrelevant, wäre es wohl vorbei.» Bis jetzt sei die Zusammenarbeit gut. Aber einen gewissen Bedeutungsverlust spüre man schon, gerade im Wald. Dort braucht es heute Projekte von Bund und Kanton, weil die Pflege des Schutzwaldes mehr kostet, als das Holz einbringt. «Seither sagen Bund und Kanton, was läuft im Wald.» Und auch in der Bevölkerung nehme der Bezug zur Korporation ab: «Manche sehen nur das Geld, das die Korporation mit Steinbrüchen, Deponien und Wasserkraft einnimmt, aber nicht die Arbeit, die sie leistet. Sie finden, das könnte doch alles der Kanton übernehmen.»

«Fragen, die uns alle betreffen»

Zeit für ein Treffen mit drei Forscher:innen. Rahel Wunderli ist Historikerin und arbeitet wie Haller an der Universität Bern, wo beide die Forschungsplattform «Die schweizerischen Commons im europäischen Kontext» mitbetreuen. Mit der Forschungsplattform vernetzt ist auch die Historikerin Salome Egloff, die an der Universität Zürich ihre Doktorarbeit zu Commons in der frühen Neuzeit schreibt.

WOZ: Warum sollen wir uns mit Commons beschäftigen?
Rahel Wunderli: Commons tragen Fragen in sich, die uns alle betreffen: In welchem Spannungsfeld stehen Kollektiv und Individuum? In welchem Bezug stehe ich zum grösseren Ganzen? Und auch eine Frage, die nicht in der Lebenswelt aller präsent, aber sehr wichtig ist: Wie bewirtschaften und regulieren wir Ressourcen, die uns gehören?

Salome Egloff: In der Zeit vor der Moderne war es normal, dass Ressourcen von Kollektiven verwaltet wurden. Es gab auch schon individuellen Besitz, aber immer verwoben mit kollektiven Ansprüchen. Ich glaube, das Thema wird immer aktueller, weil die Nachteile der privatwirtschaftlichen, kapitalistischen Organisationsformen von heute immer deutlicher werden. Was dazu führt, dass man kollektive Institutionen und Verwaltungspraktiken zum nachhaltigen und inklusiven Ideal stilisiert. Mir ist es wichtig, als Historikerin ein nicht idealisiertes, wissenschaftlich fundiertes Bild dieser Institutionen zu zeichnen.

Tobias Haller: Heute fragen alle: Was bringts für mich? Commons stellen dagegen die Frage, wie man gemeinsam etwas aufbauen und erhalten kann – und nach welchen Spielregeln. Commons-Diskussionen sind jetzt zwar ein bisschen en vogue, aber Regierungen und Organisationen haben das Thema überhaupt nicht auf dem Radar. In Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsdebatten muss man lange suchen, bis man einen Verweis zu Commons findet. Das sieht man in grossen Umweltregelwerken wie den Uno-Nachhaltigkeitszielen: Das Thema kommt einfach nicht vor, obwohl sich Leute auf der ganzen Welt in vielfältiger Form Gedanken gemacht haben, wie man Land und Ressourcen im Kollektiv managen kann. Man darf Commons nicht idealisieren, aber wenn man sieht, wie heute das individuelle Gewinnstreben überhandnimmt, sind sie doch eine Möglichkeit, gierige Individuen zurückzubinden. Da werden Fragen der Fairness gestellt: Wie viel dürfen die Einzelnen in der Gruppe haben? Auch Commons sind nicht per se fair, aber die Ressourcen werden doch viel breiter verteilt, als wenn Land privatisiert wird.

2009 bekam Commons-Forscherin Elinor Ostrom unerwartet den sogenannten Wirtschaftsnobelpreis (der kein Nobelpreis ist). Das machte sie bekannt – und trug vor allem in Deutschland zu einem Hype bei: Für viele Linke wurden Commons Utopie und Sehnsuchtsprojekt, eine Alternative «jenseits von Markt und Staat».

WOZ: Taugen Commons als Utopie?
Haller: Commons sind mit Ausschlussmechanismen verbunden. Sie sind eben nicht Open Access: Es gibt in den meisten Commons-Systemen weltweit eine Idee von Mitgliedschaft. Und die kann inklusiver oder ausschliessender sein, manchmal auch extrem hierarchisch.

Egloff: Mein Forschungsgebiet sind vormoderne Schweizer Commons. Für sie stimmt «jenseits von Staat und Markt» sicher nicht: Sie waren extrem eingebettet in herrschaftliche Strukturen. Darin gab es Abhängigkeit, Ungleichheit, Machtverhältnisse. Personen, die mehr Privatbesitz hatten, konnten meistens auch einen grösseren Anteil der kollektiven Ressourcen in Anspruch nehmen. Und viele waren benachteiligt oder ausgeschlossen: Frauen durften ihre Nutzungsrechte nur vererben, wenn sie einen Angehörigen der Korporation heirateten. Zugezogene waren oft ganz ausgeschlossen, genauso wie unehelich Geborene.

Wunderli: Ein Merkmal der Commons ist: Sie sind lokal begrenzt. Das hat viele Vorteile: Die Leute wissen genau, worauf sie bei der Bewirtschaftung eines Waldes oder einer Weide achten müssen – das «local knowledge» ist sehr ausgeprägt. Aber es ist eben auf das Lokale begrenzt, und da ist niemand, der regionenübergreifend das Ganze im Blick hat. Dazu ein Beispiel aus der Korporation Uri: Sie hat sich selten zu eidgenössischen Vorlagen geäussert – bis zu einer Abstimmung zum Gewässerschutzgesetz in den achtziger Jahren. Da schrieb der Korporationspräsident in einer lokalen Zeitung, das Gesetz sei klar abzulehnen. Die Korporation wisse selber am besten, wie sie ihre Gewässer schützen müsse. Der Wasserzins war und ist eine wichtige Einnahmequelle für die Korporation. Hier sieht man, dass es gerade bei Umweltschutzfragen ein grosses Spannungsfeld zwischen den Commons und dem Staat geben kann. Die Commons-Organisationen haben eine Nutzerperspektive: Du besitzt diese Ressourcen und willst mit ihnen etwas machen. Und freust dich gar nicht, wenn der Staat oder eine NGO kommt und sagt: «Moment, wir haben gesamtschweizerisch ein Problem mit Gewässern. Wir können nicht einfach überall Kraftwerke hinbauen.»

Dasselbe gilt für Alpstrassen?
Wunderli: Genau. Die Commons-Organisation findet: «Wenn wir eine Strasse bauen, ist die Chance höher, dass noch jemand die Alp bewirtschaftet und die Kulturlandschaft erhalten bleibt.» Die Naturschutzorganisation hingegen sagt: «Die Strasse ist ein Rieseneingriff und hat nachteilige Auswirkungen auf Fauna und Flora.» Ich verstehe beide Seiten. Wenn man eine Alp heute bewirtschaften will, geht es fast nicht mehr ohne Strasse. Nur schon das Personal für eine Alp ohne Strasse zu finden … Andererseits blenden Commons-Mitglieder häufig aus, wie sehr sich die Nutzung verändert hat. Wenn man früher einen Weg auf eine Alp baute, sind da nicht Autos und Lastwagen durchgebrettert.

Ahnengeister, Pflanzen, Tiere

Auch im «Commons-Labor» Schweiz weiss kaum jemand, wie verbreitet kollektive Landnutzung ist. Das «NZZ Folio» nimmt in seiner Novemberausgabe über «Grund und Boden» Garrett Hardin für bare Münze («Jeder Bauer dachte zuerst an sich und wollte das Maximum aus der Allmende herausholen»), zitiert immerhin auch Ostrom, erwähnt aber die heutige Bedeutung des Commons-Landes mit keinem Wort.

WOZ: Es gibt neben der Idealisierung auch ein negatives Bild von Commons-Organisationen, etwa von den reichen Korporationen im Kanton Schwyz oder von Burgergemeinden wie Bern. Von aussen hat man den Eindruck: Die verdienen Geld, ohne dass sie viel dafür tun müssen.
Egloff: Diese Diskussion gibt es schon seit Napoleon. Seit der Helvetik will man die Korporationen enteignen und das Geld beziehungsweise die Ressourcen den Einwohnergemeinden zur Verfügung stellen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das akut: Die Bevölkerung wuchs stark, die neuen Einwohnergemeinden mussten mehr öffentliche Aufgaben übernehmen, hatten aber Schwierigkeiten, diese wahrzunehmen, weil sie kein Geld hatten. Trotzdem blieb der Besitz der Bürgergemeinden fast überall gewahrt. Es stimmt, dass sie auch Beiträge für die Allgemeinheit leisten – aber diese Institutionen müssen sich kritischen Fragen stellen, wenn sie langfristig Legitimation haben wollen. In vielen Korporationen war es ein riesiger Kampf, endlich auch den Frauen die Weitergabe des Nutzungsrechts zuzugestehen.

Haller: Es ist fast nicht möglich, eine Burgergemeinde Bern oder eine Innerschweizer Korporation, die viele Liegenschaften besitzt, mit sehr ruralen Korporationen zu vergleichen. Die meisten dieser kleinen Korporationen kämpfen damit, die viele Arbeit und die Kosten, die die Bewirtschaftung mit sich bringt, tragen zu können. Die verteilen kein Geld, die verteilen Schulden!

Tobias Haller, Sie haben lange in Afrika geforscht und brauchen in diesem Kontext das Wort «Commons Grabbing». Sind Commons besonders anfällig für Land Grabbing?
Haller: Ja – und es geht nicht nur um Land, sondern um alle damit verbundenen Ressourcen. Auch die afrikanischen Commons waren früher extrem gut geregelt. Die ganzen Fragen von Ein- und Ausschluss, Überwachung und Koordination waren ein Thema, häufig eingebettet in eine ganz andere Weltsicht: Nicht nur die Menschen sind miteinander verknüpft, sondern auch die belebte und unbelebte Umwelt – Ahnengeister, Pflanzen, Tiere. Man hat die Commons von den Ahnen bekommen, auch nichtmenschliche Wesen haben einen Anteil an den Ressourcen und fordern den auch ein.

Und heute?
Mit dem Ende der Kolonialzeit gingen Land und Ressourcen in den meisten Ländern in Regierungshand über. Wenn die Regierung an einem Landstrich kein grosses Interesse hat, können die alten Systeme noch funktionieren. Wenn eine Region aber interessant wird, weil Konzerne Grossplantagen planen oder das Wasser umkämpft ist, bedeutet das meistens nichts Gutes für die Commons. Im schlimmsten Fall sind die Nutzungsrechte verloren, neue Jobs gibts aber auch nicht, und dann sind die Leute wirklich am Anschlag. Das haben meine Frau und ich in Sambia gesehen: Es hat keine Fische mehr, keinen Zugang zu Weiden wegen der Grossplantagen, man kann nicht mehr jagen gehen – oder nur noch als Wilderer … Alles bricht weg, was man noch hatte, und Geld hat man sowieso keins. Da muss man sich nicht wundern, wenn junge Leute nach Europa aufbrechen – oder sich, wie im Sahel, dem Dschihad anschliessen.

Haben Sie auch Leute getroffen, die sich für ihre Commons wehren?
Ja, zum Beispiel in Sierra Leone, wo Frauen wegen einer Grossplantage ihre kommunalen Wasserrechte verloren. Sie wehrten sich und bezogen noch eine NGO ein, die sich auf internationale Regelwerke bezüglich «Right to Food» stützte. Und in Sambia haben wir die Ausarbeitung eines Zusatzgesetzes über Fischerei begleitet. Das Resultat war positiv: Die Frauen bekamen wieder Zugang zu Fischereirechten, gewisse Fischarten kamen zurück, die Fische wurden grösser. Leider hatte ein Teil der Fischereibehörde gar keine Freude an dieser Neuverteilung, blockierte den Prozess, und das Gesetz wurde dann nicht ratifiziert.

«Es geht um alles!»

Die Forschungsplattform orientiert sich an Commons in Form von Land und natürlichen Ressourcen. Doch die linken Commons-Bewegungen gehen viel weiter: Sie zählen auch Wissen, freie Software oder Zeit zu den Commons. Damit vervielfachen sich die Möglichkeiten – aber auch die Missverständnisse. Denn nichtmaterielle, sogenannte nichtrivale Güter wie Bildung und Code sind potenziell unbegrenzt verfügbar. Sie verlieren nicht an Qualität, wenn mehr Menschen sie nutzen – im Gegenteil. Bei Wäldern, Weiden oder Fischgründen sieht es anders aus: Ihre Nutzung hat Grenzen, sonst gehen sie kaputt. Ist es sinnvoll, Güter mit so verschiedenen Eigenschaften unter dem gleichen Label zu fassen? Ein auf Deutsch erschienenes Buch mit Texten von Elinor Ostrom hat den Titel «Was mehr wird, wenn wir teilen» – dabei trifft genau das auf Ostroms Forschungsgegenstand nicht zu: Land und natürliche Ressourcen sind begrenzt.

Nachfrage bei Hans Widmer. Der Zürcher Autor, lange unter dem Pseudonym P. M. aktiv, denkt seit Jahrzehnten darüber nach, wie sich Commons-Prinzipien nutzen liessen, um postkapitalistische Gesellschaften zu gestalten. Vor fast vierzig Jahren entwarf er mit «bolo’bolo» einen verspielten kommunistischen Masterplan. Heute ist er 74 und veröffentlicht bald ein neues Buch über sein Lieblingsthema – das er inzwischen statt Commons lieber «öffentliches Gemeinwesen» nennt.

«Die verbliebenen alpinen Commons betreffen nur einen winzigen Teil unserer Wirtschaft», sagt Widmer. «Es geht heute nicht mehr nur um Alpweiden, sondern etwa um die Pharmaindustrie. Um alles! Wir müssen Commons viel weiter denken. Als Alternative zur gesamten kapitalistischen Ökonomie.» Er hält es für sinnvoll, den Begriff breit zu brauchen: «Auch nichtrivale immaterielle Güter haben eine materielle Basis. Freie Software braucht Computer, und die sind begrenzt, auch ökologisch.» Im Übrigen seien Commons «eine ziemlich harte Geschichte: mit einem Haufen Arbeit und Pflichten verbunden. Wie bei einem Verein muss man definieren, wer dazugehört.» Es sei wichtig, sie institutionell zu denken, nicht romantisch: vom Wohnhaus über das Quartier und die Wasserversorgung bis zu den Fabriken. Widmer nennt als gutes Beispiel die Kampagne «Deutsche Wohnen enteignen» in Berlin: «Wir wollen nicht, dass die Privaten über unsere Wohnungen bestimmen. Das kann man nicht mit ein paar Genossenschaften lösen. Dafür braucht es Politik. Erobern, nicht nur verteidigen! Damit wir parat sind für etwas anderes, wenn der Kapitalismus zusammenbricht.»

Karl Marty, Rahel Wunderli, Salome Egloff, Tobias Haller (von oben links nach unten rechts)

Kürzlich ist ein Buch über die Commons-Forschung im Schweizer Alpenraum erschienen, an dem Rahel Wunderli und Tobias Haller mitgearbeitet haben: «Balancing the Commons in Switzerland. Institutional Transformations and Sustainable Innovations». Routledge. London 2021.