Regenwald in Kolumbien: Immer mehr Löcher im grünen Teppich

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Seit dem Friedensvertrag zwischen Regierung und Farc-Guerilla schreitet das Abholzen des kolumbianischen Dschungels doppelt so schnell voran. Warum killt der Frieden Wald und Klima?

«Ich mache das, damit meine Kinder in die Schule gehen können»: Kokabauern wie José sind die Ersten, die in den Regenwald vordringen.

Der Weg zu José ist beschwerlich. Vom letzten Dorf irgendwo im Süden Kolumbiens ist es zunächst eine Stunde Fussmarsch auf einem geschotterten Weg, dann noch einmal eine Stunde auf einem schmalen Pfad. Er führt über Viehweiden und sanfte Hügel und durch kleine Rinnsale. Dann taucht man in den Regenwald des Amazonasbeckens ein, und es ist nicht mehr weit. Das kleine Holzhaus liegt versteckt unter einem Blätterdach, gut hundert Meter weiter sind drei Hektaren Wald freigeschlagen. José ist in Kolumbien ein Allerweltsname. Seinen Nachnamen will der grosse schweigsame Mann nicht nennen, und das ist besser so. Denn was José tut, ist illegal. Auf eineinhalb der drei Hektaren baut er Koka an und verarbeitet die Blätter in einem kleinen Labor zu Kokain – sechs Kilogramm im Jahr. Auf den anderen eineinhalb Hektar stehen Grundnahrungsmittel für ihn, seine Frau und seine drei Kinder: Maniok, Bohnen, Ananas und ein paar Bananenstauden. «Ich mache das so, damit ich es mir leisten kann, meine Kinder zur Schule zu schicken», sagt er.

José ist die Vorhut. Kokabäuer:innen sind die Ersten, die in den unberührten Regenwald vordringen. Ihnen folgen die Holzfäller, dann die Viehzüchter und, wenn es Gold oder andere Bodenschätze gibt, auch illegale Minenbetreiber. Man kann es sehen, wenn man mit dem Flugzeug über die Gegend fliegt. Der grüne Teppich des kolumbianischen Teils von Amazonien ist angefressen wie von Motten. Meist sind die Löcher in der Nähe von Flüssen, weil das den Abtransport von Hölzern, Rindern und Gold erleichtert. Nur Kokabäuer:innen sind oft tiefer im Wald. Sie brauchen nur schmale Pfade, um ihre Ware zu den Dealern ins nächste Dorf zu bringen.

Die Zahl dieser Löcher hat sprunghaft zugenommen, seit die Regierung Ende 2016 mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc), der damals grössten Guerillaorganisation des Landes, einen Friedensvertrag abgeschlossen hat. Die Geschwindigkeit, mit der Regenwald vernichtet wird, hat sich seither verdoppelt, in manchen Provinzen verschwinden pro Jahr bis zu zwei Prozent der Waldfläche. Das Abholzen hat so dramatische Ausmasse angenommen, dass Kolumbien die Versprechen nicht einhalten kann, die es beim Weltklimagipfel 2015 in Paris gemacht hat. Davon gehen die Konfliktforscher:innen der International Crisis Group (ICG) in einer jüngst veröffentlichten Studie aus.

Doppelt belastete Bilanz

Kolumbien hatte sich damals verpflichtet, das Abholzen des Regenwalds bis zum Jahr 2030 ganz einzustellen. Zudem wollte das Land bis dahin fünfzig Prozent weniger Treibhausgase in die Atmosphäre blasen. Die derzeitige Entwicklung widerspricht dem ersten dieser beiden Ziele, und eben deshalb ist das zweite nach dem ICG-Bericht unrealistisch. Zum einen wird durch die zunehmende Brandrodung immer mehr CO2 freigesetzt, zum anderen kann die dadurch abnehmende Waldfläche immer weniger CO2 aus der Atmosphäre absorbieren. Kolumbiens Treibhausgasbilanz wird durch den Waldfrevel doppelt belastet.

Isabela Sanroque, Ex-Guerillera

Die Farc waren alles andere als eine ökologische Vereinigung. Sie errichteten ihre Lager auch in Naturschutzgebieten und fällten dafür Bäume. Sie jagten, wenn es nichts anderes zu essen gab, Rotwild und Affen. Rotwild ist seither in vielen Gegenden Kolumbiens so gut wie ausgestorben. Die Farc unternahmen nichts gegen Kokapflanzungen und illegale Minen im Dschungel. Im Gegenteil: Sie schützten sie, weil sie von den Bäuer:innen und Bergleuten Kriegssteuern eintreiben konnten. Die schlimmere Umweltsünderin aber ist die andere, noch immer aktive Guerilla des Nationalen Befreiungsheers (ELN). Deren Hauptfeinde sind internationale Konzerne, die die Bodenschätze Kolumbiens ausbeuten. Sie sprengt deshalb bevorzugt Pipelines in die Luft; das auslaufende Öl verseucht Böden und Grundwasser.

Immerhin gab es vor dem Friedensvertrag in den von den Farc beherrschten Regenwaldgegenden so etwas wie ein Umweltgesetz. «In unseren Gebieten waren wir die Regierung, und es gab Regeln für den Umgang mit der Umwelt», erzählt Isabela Sanroque. Die 37-Jährige hat zwölf Jahre bei der Guerilla gekämpft. Sie sitzt heute in Bogotá in der Führung der zur Partei gewandelten Farc und in der Kommission zur Umsetzung des Friedensvertrags und ist dort für Gender- und Umweltfragen zuständig. Vor allem Manuel Marulanda, der 2008 verstorbene legendäre Gründervater der Farc, habe viel Wert auf Naturschutz gelegt, sagt sie. Er kam selbst aus kleinbäuerlichen Verhältnissen und sei, was den Wald angeht, «sehr sensibel» gewesen.

So war in einem Guerillahandbuch festgeschrieben, dass nicht nur das rentable Koka angebaut werden dürfe. «Für jede Hektare mit Koka mussten auf einer weiteren Hektare Lebensmittel angebaut werden.» Das erlaubte Ausmass der bebauten Fläche richtete sich nach der Grösse der Familie, die dort lebte. Das Fällen von Bäumen wurde auf den Hausbau begrenzt, jeder zu viel gefällte Baum kostete eine Million Pesos Strafe. Nach dem Wechselkurs von Ende 2016 waren das rund 350 Franken – für Kleinbäuer:innen eine enorme Summe. Quecksilber aus Goldminen und die Säure aus Kokainlaboren durften nicht einfach weggeschüttet werden, sondern mussten in einer Entfernung von mindestens fünfzig Metern vom nächsten Fluss vergraben werden. «Natürlich waren viele zunächst wütend», erinnert sich Sanroque. «Aber mit der Zeit haben sie sich daran gehalten; aus Respekt und vielleicht auch aus Angst.» Immerhin waren die Farc die bewaffnete Ordnungsmacht.

Das Blätterdach als Schutz

Sanroque gibt zu, dass es bei solchen Regeln nicht nur um die Umwelt ging, sondern dass die Farc damit auch «strategische Ziele» verfolgten: «Der Wald war unser Zuhause, unser Schutz und unser Operationsgebiet», sagt sie. Die Guerilla brauchte ein weitgehend geschlossenes Blätterdach, damit ihre Lager und ihre Truppenbewegungen nicht von den Spähern in den Aufklärungsflugzeugen der Armee entdeckt werden konnten.

Schon als die Farc 2014 einen Waffenstillstand ausriefen, konnten sie ihre Umweltregeln nicht mehr effektiv durchsetzen. Es fehlte die Überzeugungskraft der Waffen. Und nach dem Friedensvertrag von 2016 «haben wir uns aus unseren Gebieten zurückgezogen, die Paramilitärs rückten nach, und der Naturschutz wurde vergessen».

Diese rechten bewaffneten Gruppen bezahlen der Landbevölkerung zunächst Prämien für das Abholzen von Waldflächen. Ist der Boden dann bereitet, werden die Bäuer:innen oft mit Waffengewalt verjagt. Die Paramilitärs sind für 83 Prozent der Vertreibungen verantwortlich. Sie arbeiten häufig mit grossen Viehzüchtern zusammen, die dann ihre Herden auf die Freiflächen treiben. Sie gelten nach einem Regierungsbericht als die bei weitem grössten Waldvernichter. Ihr Geschäft ist im Prinzip legal, aber häufig mit illegalen Machenschaften verknüpft. Viehwirtschaft gilt nach dem Drogenhandel als das rentabelste Geschäft in Kolumbien. Man weiss, dass mit Rindern viel Drogengeld gewaschen wird und dass die Autodefensas Gaitanistas de Colombia, der grösste paramilitärische Verband, viel Geld in die Viehwirtschaft investiert haben. Auch anonyme Investor:innen und internationale Lebensmittelkonzerne vermehren in diesem Sektor ihr Kapital. Bei der kolumbianischen Staatsanwaltschaft ist eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren gegen solche undurchsichtigen Geschäftspraktiken anhängig. Ein Urteil aber gab es bislang noch nicht.

Fünf Millionen Vertriebene

Nach den Viehzüchtern sind nach diesem Regierungsbericht Palmölplantagen die zweitgrössten Waldvernichter. Ihnen folgen mit grossem Abstand die Kokabäuer:innen und die illegalen Minen. Denn von der Fläche her spielen diese kaum eine Rolle: Die der Kokaplantagen wird auf rund 150 000 Hektaren geschätzt, die der illegalen Minen auf knapp 70 000. Palmölplantagen und Viehweiden aber gibt es auf 6,5 bis 8 Millionen Hektaren ehemaliger Waldfläche. Das hauptsächliche Problem der Minen ist die Umweltverseuchung.

Mehr als fünf Millionen Menschen wurden im über fünfzig Jahre andauernden Bürgerkrieg vertrieben. Nach dem Friedensvertrag mit den Farc sollten diese Vertriebenen das Land, das sie einst bestellt hatten, zurückbekommen. Mehr als fünf Jahre später aber hat noch niemand seinen Boden zurückbekommen. Das liegt zum einen an rechtlichen Problemen: Kaum ein:e Vertriebene:r kann eine Besitzurkunde vorweisen. Es gibt kein flächendeckendes Kataster und nur für zehn Prozent der bebauten Fläche rechtlich einigermassen sichere Landtitel. Zum anderen fehlt der politische Wille. Die rechte Regierung unter Präsident Iván Duque hat kein Interesse an kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Sie fördert die Landwirtschaftsindustrie und ist selbst mit grossen Viehzüchtern verbandelt. Den vertriebenen Kleinbäuer:innen bleibt so nichts anderes übrig, als immer neue Flächen zu erschliessen, und die gibt es nur im Regenwald. Dass viele dort nicht nur Grundnahrungsmittel, sondern auch Koka anbauen, ist naheliegend: sie könnten sonst kaum überleben – und, wie José, die Kinder zur Schule schicken. Die Paramilitärs fördern das. Sie finanzieren sich im Wesentlichen mit dem Drogenhandel und brauchen den Rohstoff, den die Kleinbäuer:innen erzeugen. So haben sich in der Provinz Chocó die Anbauflächen für Koka seit dem Rückzug der Farc verdoppelt.

Die kleine Parlamentsfraktion der Farc fühlt sich vertriebenen Kleinbäuer:innen verpflichtet. Sie hat zusammen mit deren Vertreter:innen einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der Neuansiedlungen in geschützten Waldgebieten möglich machen soll. «Man muss das erlauben», sagt Isabela Sanroque, «sonst gehen sie nur noch tiefer in den Regenwald hinein.» Allerdings sollten die Siedler:innen dort nur nachhaltige und möglichst waldschonende Landwirtschaft betreiben dürfen – nach einem Regelwerk, das an das alte Guerillahandbuch zum Naturschutz angelehnt ist.

So ein Gesetz, sollte es verabschiedet werden, wird den Raubbau am Regenwald nur aufhalten, wenn die Siedler:innen nicht wieder vertrieben werden. Danach aber sieht es derzeit nicht aus. Die Regierung lässt die Paramilitärs weitgehend in Ruhe. Das kann sich nur ändern, wenn bei der Präsidentschaftswahl am 29. Mai kein rechter Politiker gewinnt, sondern der sich derzeit in durchaus aussichtsreicher Position befindende ehemalige Guerillero Gustavo Petro. Eine von ihm geführte Regierung könnte eine Trendwende bedeuten, auch wenn sie für die Pariser Klimaziele zu spät kommt.