«Uprising – Amerikas neue Linke»: Occupys widerständiges Erbe

Nr. 7 –

Rund ein Jahrzehnt ist vergangen, seit ein anarchistisches Experiment im New Yorker Zuccotti Park die Systemfrage stellte. Die Bewegung wurde zum Auftakt einer kämpferischen Ära. Doch was ist geblieben? Ein Vorabdruck aus dem neuen Buch von WOZ-Autor Lukas Hermsmeier.

Astra Taylor stellte sich auf eine Enttäuschung ein, als sie sich am Nachmittag des 17. September 2011 auf den Weg von Brooklyn ins Finanzviertel von Manhattan machte. Wieder nur das Übliche, vermutete die Filmemacherin und Autorin: einige linke Seelen, die durch die Strassenschluchten taumeln und brüllen, um irgendwann von der Polizei nach Hause geschickt zu werden. Im Zuccotti Park, einem kleinen, unscheinbaren Platz nordöstlich der Wall Street, fiel Taylor dann aber eine Sache sofort auf: Die Leute wollten reden. Und zwar mit einer Ernsthaftigkeit und einer Direktheit, die sie kaum für möglich gehalten hatte.

Das kanadische Independentmagazin «Adbusters» hatte ein paar Monate zuvor zur Besetzung der Wall Street aufgerufen. Die grössenwahnsinnige wie überfällige Idee war es, eine antikapitalistische Protestbewegung in Nordamerika auszulösen. Eine Gruppe von Anarchistinnen und Sozialisten traf sich fortan regelmässig in Lower Manhattan zur Planung. Die wortwörtliche Umsetzung von #OccupyWallStreet war zwar das vage Ziel, schien aber unrealistisch. Sie erstellten deshalb eine Liste von Ersatzorten, von denen am Tag selbst der Zuccotti Park gewählt wurde.

Drei Stunden lang diskutierte Taylor an jenem Nachmittag in einer von mehreren Gruppen, die sich auf den Park verteilt hatten. Darüber, warum sie heute gekommen waren, über die Massenverschuldung junger US-Amerikaner:innen durch Studiengebühren, horrende Krankenkassenbeiträge, das Wirtschaftssystem ganz grundsätzlich. Endlich, dachte Taylor, endlich ein Protest, der sich explizit mit dem Kapitalismus auseinandersetzt. Gegen 19 Uhr machte sich Taylor auf den Weg nach Hause, beeindruckt zwar, aber in der Annahme, dass das Ganze demnächst beendet sein würde.

Dass hier etwas Besonderes geschah, womöglich sogar etwas Historisches, begannen die rund 200 Leute, die geblieben waren, am nächsten Morgen zu ahnen. Warum die Polizei den Park trotz ausgesprochener Drohungen am Ende nicht räumte, weiss keiner so wirklich, bis heute nicht. Es heisst, die Beamt:innen hätten Angst davor gehabt, dass das Netzkollektiv Anonymous ihre Bankkonten hacken würde. Das Protestcamp existierte jedenfalls noch, als die Sonne aufging. Das Überstehen dieser ersten Nacht war laut den Besetzer:innen entscheidend gewesen. Nur so habe sich Occupy verbreiten können: als Methode und Anspruch, vom Zuccotti Park über die Stadtgrenzen hinaus, in über 1500 Städte weltweit.


Occupy fühlte sich revolutionär an, sagen die, die dabei waren. Doch das tun so manche Proteste, Aktionen und Ereignisse, die im Lauf der Geschichte dann eher aus dem Gedächtnis verschwinden. Das Besondere an Occupy ist vielmehr, dass der Bewegung auch ein gutes Jahrzehnt später noch so eine zentrale, nahezu mystische Bedeutung zugerechnet wird. Worin aber liegt diese Bedeutung genau? Wie erklärt es sich, dass Occupy zum Auftakt einer widerständigen Ära wurde, zum Initialmoment einer neuen politischen Generation?

Zunächst sollte man festhalten: Die Occupy-Bewegung kam nicht aus dem Nichts. Sie wurde durch den Arabischen Frühling inspiriert, durch die Indignados-Proteste in Spanien und Anti-Austeritäts-Demonstrationen in Grossbritannien angetrieben, war erklärbar nur durch den Geist der Zeit. Der Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise lag ein paar Jahre zurück, die Auswirkungen waren immer noch bitter spürbar. Millionen von US-Amerikaner:innen, die ihre Jobs, Ersparnisse oder Häuser verloren hatten, mussten dabei zusehen, wie die Banken und die Grosskonzerne von der Regierung mit Milliardenpaketen gerettet wurden und die CEOs bis auf wenige Ausnahmen so weitermachen durften wie zuvor.

Die Hoffnung auf einen progressiven Wandel durch Präsident Barack Obama war verschwunden. Parallel dazu hatte sich mit der Tea Party eine rechtspopulistische Bewegung entwickelt. Gerade wenn man diesen Kontext berücksichtigt, wird deutlich, dass da im September 2011 in New York doch etwas sehr Aussergewöhnliches seinen Anfang nahm.

Astra Taylor, Aktivistin und Filmemacherin

«Occupy Wall Street hat einen Blitz durch die amerikanische Gesellschaft und Politik gejagt, wie es seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen ist», stellte die damals noch eher unbekannte und inzwischen preisgekrönte Autorin Keeanga-Yamahtta Taylor im November 2011 fest. Die Proteste hätten die grossen Medien geradezu gezwungen, «über Armut, ökonomische Ungleichheit und Korruption zu berichten», schrieb sie. Der Soziologe und Autor Peter Frase liess ein paar Wochen später im «Jacobin», einem zu dem Zeitpunkt unbedeutenden Randmagazin, verlauten, dass Occupy es leichter mache, «sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen».

Vom Ende des Kapitalismus sind wir immer noch weit entfernt. Und gerade aus der Ferne betrachtet, konnte man in den vergangenen Jahren den Eindruck bekommen, dass die USA nur nach rechts gerückt seien. Donald Trump bestimmte die Schlagzeilen, viele der Entwicklungen und Ereignisse wirkten wie eine Warnung, dass noch Düstereres bevorstand. Stimmt alles. In diesem Land hat zeitgleich jedoch noch ein anderer Wandel stattgefunden, eine gesellschaftliche Verschiebung, von der seltener erzählt wird. Es haben sich in den USA neue politische Räume ergeben, vor allem jenseits der alten Institutionen und bekannten Figuren. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es wieder eine Linke. Und die wurde durch Occupy massgeblich geprägt.


Astra Taylor ist eine imposante Erscheinung, gross, markante Gesichtszüge, langes, dunkles Haar mit Pony. Sie strahlt eine behutsame Autorität aus, wenn sie spricht, vor allem dadurch, dass sie beim Reden nicht nur Wörter zusammensetzt, sondern auch immer wieder die eigenen Gedanken neu sortiert und hinterfragt. Sie nimmt Raum ein, ohne sich aufzudrängen. Interessant ist das auch deshalb, weil Occupy als «führungslose Bewegung» bekannt werden sollte, was insofern stimmt, als es keine vereinbarten Chefs gab, und insofern falsch ist, als es natürlich führende Figuren gab. Leute, die durch ihre Erfahrung, ihr Wissen, auch ihre Persönlichkeit vorangingen. Menschen wie Taylor.

In den Essays, die Taylor schreibt, den Filmen, die sie dreht, und in ihrer Arbeit als politische Organizerin geht es fast immer um Alternativen. Alternativen zum Bildungssystem, Alternativen zur Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, Alternativen dazu, wie wir politische Entscheidungen treffen. Occupy war für sie eine Öffnung. Nicht nur zu anderen Kapitalismusgegner:innen, sondern auch zu neuen Ideen und Fragen, zu «besseren Problemen», wie Taylor sagt. Was für Widersprüche und Spannungen ergeben sich, wenn wirklich alle herrschen sollen? Für welche liberalen Werte lohnt es sich zu kämpfen, welche funktionieren nur im Sinne einer Verwaltung des Status quo?

Auch ihr Dokumentationsfilm «What is Democracy?» hat seinen Ursprung im Zuccotti Park. Der Begriff «Demokratie» sei ihr vorher verstaubt vorgekommen, leer sogar, sagt sie. George W. Bush hatte den Irakkrieg damit verkauft, «Demokratie» in den Nahen Osten bringen zu wollen. Was war dieses Wort also wert? «Ich habe durch Occupy verstanden, dass Demokratie etwas sein sollte, was wir ständig machen», sagt sie.

Fragt man Taylor, die im kanadischen Winnipeg geboren wurde und in den USA aufgewachsen ist, nach ihrer Politisierung, hört man einen Entwicklungsverlauf, der für US-Linke ihrer Generation exemplarisch ist. Für viele von ihnen war die Alterglobalisierungsbewegung der neunziger Jahre prägend, insbesondere die massiven und militanten Proteste gegen die WTO-Ministerkonferenz in Seattle im November 1999. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 war die globalisierungskritische Bewegung jedoch erstickt. Die Folgen der Anschläge bestimmten die Politik der nuller Jahre in fast allen anderen Bereichen.

Der Patriot Act polsterte den von der Bush-Regierung angetriebenen Nationalismus. Proteste wurden noch schneller und noch repressiver von der Polizei unterdrückt als zuvor. Gelegentlich kamen zwar kapitalismuskritische Personen wie Naomi Klein, Michael Moore oder ein gewisser Bernie Sanders in den etablierten Medien zu Wort. So etwas wie eine linke Bewegung, sagt Taylor, die habe es in all diesen Jahren aber nicht gegeben. «Es gab regelrecht eine Allergie dagegen, Strukturen und Macht aufzubauen.» Sie habe sich isoliert gefühlt, «wie in einer Wüste». Bis Occupy anfing.


Es dauerte nur ein paar Tage, bis im Zuccotti Park ein kleines Dorf herangewachsen war. Die Occupyer:innen bauten eine Küche und eine Bibliothek auf. In einem Erste-Hilfe-Zelt, das rund um die Uhr besetzt war, konnte man sich ohne Krankenversicherung von Ärztinnen und Pflegern umsonst untersuchen lassen, was insbesondere obdachlosen Menschen half. Es gab ein «Welcome Center», eine Pressestelle, einen Kulturbereich und sogar eine Kinderbetreuung. Dass es diesen Platz gab, war für die Bewegung gerade zu Beginn entscheidend. Ein Ort – physisch, nicht nur gedanklich oder virtuell –, an dem Leute sich finden, widersprechen und ausprobieren konnten, ein Ort der präfigurativen Politik, ein Liveexperiment in Sachen direkter Demokratie – wie oft passiert so etwas schon?

Die Aktivist:innen teilten sich in verschiedene Arbeitsgruppen auf, zum Beispiel zu den Themen Lohnarbeit, Alternative Banking und Wohnpolitik. Fragen und Vorschläge wurden jeden Abend um 19 Uhr in die General Assembly eingebracht, eine Generalversammlung mit Konsensprinzip, an der oft mehrere Hundert Menschen teilnahmen. Die Idee war es, verschiedene Perspektiven und Haltungen miteinander zu vereinbaren, statt sie zu nivellieren. Ein brillantes Konzept, wie viele fanden. Und zuweilen quälend, wie sich herausstellte. Direkte Demokratie ist anstrengend, war eine der vielen Erkenntnisse dieses Herbstes. Unter anderem deshalb, weil man sie nicht gewohnt ist.

Es gibt zwei Vorwürfe, die den Occupyer:innen immer wieder gemacht wurden, von Medien genauso wie von der Politik. Zwei Vorwürfe, die in einer unfreiwilligen Dialektik die vielleicht einzig mögliche Essenz von Occupy ergeben: Einerseits habe es der Bewegung an konkreten Forderungen gemangelt, andererseits seien die Forderungen zu unrealistisch gewesen. Was nach einem Widerspruch klingt, war letztlich genau das, was viele selbst sagten: Unsere Forderungen sind zu gross, um sie in einen Zehnpunkteplan zu giessen.

«Occupy everything, demand nothing» lautete die Synthese. Alles besetzen, nichts fordern. Oder anders formuliert: Die visionärste Forderung liegt in der Aktion selbst. Mit dieser Parole sei jedoch nicht nur der anarchistische Anspruch verbalisiert, sondern auch ein Klassenargument gemacht worden, schrieb die Politikwissenschaftlerin Jodi Dean in einem Artikel für die ad hoc geschaffene Zeitung «Occupy! Gazette». «Occupy everything» verdeutliche, dass die Mehrheit der Menschen auch ein Recht auf die Mehrheit der Ressourcen dieser Welt habe, so Dean. «Wir besetzen alles, weil es uns bereits gemeinsam gehört.» Es war diese bewusste Überforderung, die Occupy vorantrieb.


Astra Taylor sagt, dass viele Menschen erst durch Occupy realisiert hätten, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Ein Thema, das sich dabei schnell für die ganze Bewegung als zentral herauskristallisierte, war jenes der Schulden. Schon das öffentliche, gemeinsame Sprechen über ihre Schulden habe für die Besetzer:innen des Zuccotti Park befreiend gewirkt, so Taylor.

Gerade aus europäischer Perspektive lässt es sich schwer fassen, in welchem Ausmass Verschuldung zum Leben in den USA gehört. Menschen entscheiden sich gegen Kinder, lassen von Berufswünschen ab, begehen Suizid, weil sie verschuldet sind oder wissen, dass sie es bald sein werden. Und zwar in Massen.

Die Zahl der Gesamtschulden aller amerikanischen Haushalte lag laut einem Report der Federal Reserve Bank of New York Ende 2021 bei über 15 Billionen (!) US-Dollar. 2019 kam eine Studie zum Schluss, dass sich rund 137 Millionen US-Amerikaner:innen innerhalb des zurückliegenden Jahres in einer durch medizinische Kosten bedingten finanziellen Notlage befanden. Die Gesamtsumme der Unischulden ist innerhalb von zwanzig Jahren um über 800 Prozent gestiegen: auf mehr als 1,7 Billionen Dollar.

Schulden seien eine Waffe, sagt Taylor. «Sie isolieren dich, machen Angst, kreieren Scham.» Wer Schulden hat, muss schuld sein, das ist Teil der Ideologie. Taylor spricht vom «Band, das die 99 Prozent zusammenhält», betont aber, dass längst nicht alle gleich betroffen sind. Wenn jemand wie sie Studiengebühren abzahlen müsse, sei das etwas anderes als beispielsweise bei einer Schwarzen alleinerziehenden Mutter. «Niemand sollte sich verschulden müssen, um sich ein Studium, Gesundheitsversorgung oder eine Wohnung leisten zu können», sagt Taylor. Schulden seien eine Waffe, die man nutzen müsse.

Kurz bevor Occupy seinen Lauf nahm, war ein Buch des Anthropologen und Anarchisten David Graeber erschienen, das sowohl die Bewegung als auch den Diskurs nachhaltig prägen sollte: In «Schulden. Die ersten 5000 Jahre» geht Graeber, der im September 2020 überraschend verstarb, der Frage nach, wie das Konzept der Schulden entstand und warum es heute in unserer Gesellschaft so bestimmend ist. Taylor und Graeber freundeten sich zu dieser Zeit an, über ihn landete sie im Frühjahr 2012 auch bei Strike Debt!, einem neu gegründeten Kollektiv, das noch im gleichen Jahr das «Debt Resistors’ Operations Manual» veröffentlichte, eine Art Leitfaden, in dem die Mechaniken des Systems erklärt und Wege des Widerstands präsentiert wurden.

Das wichtigste Projekt von Strike Debt! ist bis heute der «Rolling Jubilee», was so viel wie «laufendes Ablassjahr» heisst. Die Idee dahinter ist so sonderbar wie einfach. Auf dem Finanzmarkt werden Schuldenpakete gehandelt und verkauft, wodurch quasi jede zur Gläubigerin werden kann. Man kauft die Schulden anderer Menschen, aber nicht zum eigentlichen Wert, sondern oft nur für ein bis fünf Prozent, und kann sie dann durch Fremdfirmen eintreiben lassen – oder eben nicht. Die Aktivist:innen des Rolling Jubilee nutzen dieses perfide System, indem sie – durch Spenden finanziert – Pakete kaufen und sie dann erlassen.

Für Taylor war diese Art des «ökonomischen Ungehorsams» nur der Anfang. Zusammen mit anderen Occupy-Aktivist:innen gründete sie wenige Jahre später das Debt Collective, die erste Gewerkschaft für Schuldner:innen. Neben Bildungsarbeit, regelmässigen Versammlungen, Protesten und Streiks liegt der Fokus auf juristischer Arbeit. Das Kollektiv handelt die Finanzverträge seiner Mitglieder neu aus, sei es mit Unternehmen, Banken oder dem Staat. Und organisiert Sammelklagen, um illegitime Schuldenvereinbarungen zu widerrufen. Über 1,5 Milliarden US-Dollar hat die Organisation zwischen 2014 und 2020 auf diesem Weg gestrichen. Das Debt Collective spricht dabei bewusst nicht von «Schuldenvergebung», denn Vergebung, sagt Taylor, klinge so, als hätten die Personen etwas falsch gemacht. «Falsch ist das System, das Millionen von Menschen ins Minus zwingt.»

Organizing rund ums Thema Schulden hat neben den materiellen Gewinnen noch einen anderen bedeutenden Vorteil: die Zusammenführung von Menschen aus verschiedenen politischen Lagern. Zu den Treffen des Debt Collective kommen immer wieder auch republikanische Wähler:innen – Leute, die in ihrer eigenen Wahrnehmung weit entfernt von linker Politik stehen, die Occupy damals vermutlich sogar für eine Bedrohung hielten. Leute, die plötzlich neue Gemeinsamkeiten entdecken, vielleicht zum ersten Mal den Sinn hinter einer progressiven Politik sehen. Die Mitgliederzahl des Debt Collective liegt inzwischen bei über 10 000. «Wir wollen Koalitionen bilden, die es vorher nicht gab», so Taylor.


Was also war Occupy? Ein Erfolg? Ein Fehlschlag? Es kommt auf die Perspektive an. Die Bewegung führte weder zur Überwindung des Kapitalismus noch zum Aufbau eines neuen politischen Systems. Die Wall Street wurde nicht besetzt, das obere eine Prozent nicht enteignet, und am 15. November 2011 war nach zwei Monaten auch die Besetzung des Zuccotti Park vorbei. Wenn man so will, war Occupy eine Reihe von Versuchen und Irrtümern. Occupy wurde keine Partei, keine NGO, kein dauerhaftes Medium – zum Glück nicht. Weil es keine Mitgliederzahlen, Wahlergebnisse, Einschaltquoten oder Finanzbilanzen gibt, lässt sich aber auch schwerer messen, wie «erfolgreich» die Bewegung war.

Occupy öffnete in den USA einen neuen Horizont, und zwar diskursiv, machtpolitisch und strategisch. «We are the 99 percent»: In diesem Satz, der zum Slogan von Occupy wurde, drückte sich die Wut über die Verteilung von Vermögen, Macht und Ressourcen aus – und die grosse Sehnsucht nach neuer Politik. Die Idee der 99 Prozent nahm Jahre später auch Bernie Sanders in seinen Wahlkämpfen auf, denen sich zig Millionen US-Amerikaner:innen anschlossen. Viele von ihnen sind heute Teil der wiedererstarkten sozialistischen Bewegung. Angeschoben wurde Sanders’ erste Kampagne 2015 übrigens durch eine Gruppe von Zuccotti-Park-Besetzer:innen unter dem Namen «People for Bernie». Auch hier zeigt sich, welche Rolle Occupy für die Wiedergeburt der amerikanischen Linken spielte.

Der Blick zurück zu Occupy bedient mehr als nur das Bedürfnis nach Nostalgie. Man erkennt, dass es oft die radikalen Experimente sind, die entscheidende Impulse geben. Und dass sich diese Impulse selten direkt in politischen Wandel übersetzen, sondern meist mit Verzögerung und über Umwege.

Das Erbe Occupys ist zwar nicht ganz einfach zu greifen, aber es lässt sich beschreiben, unter anderem über das ausgeführte Thema Schulden. Einerseits erreichte die Bewegung eine radikale Erweiterung des Diskurses. Bildung und Gesundheitsversorgung müssen frei sein, fordern immer mehr US-Amerikaner:innen, wie Studien belegen – unterstützt durch den linken Flügel der Demokrat:innen. Andererseits zeigte Occupy Wege auf, diese Visionen konkret anzugehen, durch Widerstand, wie ihn das Debt Collective realisiert.

Dass die Streichung von Schulden mittlerweile sogar von der Regierung angegangen wird, ist nicht unwesentlich Organisationen wie dem Debt Collective zu verdanken. Zu Beginn seiner Amtszeit legte Joe Biden einen Plan vor, wonach das Community College in den USA kostenlos werden soll, finanziert durch eine erhöhte Einkommenssteuer für Reiche. Die Regierung stellt sich zwar noch immer gegen einen umfassenden Schuldenerlass, hat im ersten Halbjahr 2021 aber immerhin knapp 100 000 Menschen ihre Studienschulden gestrichen. Fortschritte, die zu Beginn der Occupy-Bewegung undenkbar schienen. Wie so vieles.

Lukas Hermsmeier berichtet für die WOZ aus den USA. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus seinem neuen Buch «Uprising. Amerikas neue Linke», das am 19. Februar 2022 im Klett-Cotta-Verlag erscheint.