Rap: Schlingern im Bewusstseinsstrom

Nr. 19 –

Nativ ist die auffälligste Stimme im politischen Schweizer Rap. Sein neues Album «Marathon» ist ein musikalisches Psychogramm mit unzähligen Gefühlslagen und Gedankenschlaufen.

Zwischen Konkurrenzgehabe und Selbstironie: Der Berner Nativ sucht die politsiche Konfrontation. Foto: Jojo Schulmeister

Vielleicht kommt glaubhafte Zuversicht ganz ohne Humor nicht aus. Auf jeden Fall kann man sich viel Utopisches hineindenken in die Lücke zwischen unserer Gegenwart und diesen lakonischen News aus einer nicht allzu fernen Zukunft: «Lise Zytig u d Martullo het ä Schwarze Mah, u d AOC isch d Presidentin vo dr USA.» «Lucid.» heisst die Ermutigungshymne am Ende von «Marathon», dem neuen Album des Berner Rappers Nativ. Und man hört hier, was ihn als politischen Mundartrapper auszeichnet: Gut zureden, aufmuntern, mobilisieren, ohne je flach oder befremdlich zu klingen, das können nicht viele.

Aber vor allem kommt diese Utopie nicht als Politprogramm daher, sondern als Liebeslied. «Lucid.» verweist beiläufig auf «Bound 2» von Kanye West, eine der schönsten Liebeserklärungen der jüngeren Popgeschichte. Ähnlich wie West lässt Nativ sich von einem euphorisch säuselnden Chor begleiten, und er lehnt sich an den Flow von West an, bis zum lustvollen Absetzen zwischen den Zeilen: «ah!» Solche Anspielungen – die mit Autotune belegten Gesangsfiguren in «Joy. (Baobab forever)» erinnern dann unmissverständlich an Drake – machen auch klar: Der Rap von Nativ stammt zwar aus einem kleinen Land, aber er ist gross gedacht.

Öffentliche Stimme des Protests

Dieses Selbstbewusstsein überrascht nicht. Während der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich 2020 von den USA ausgehend in weiten Teilen der Welt ausbreitete, wurde Nativ in der Schweiz zu einer öffentlichen Stimme des Protests, und er erzählte in Interviews von seinen Rassismuserfahrungen beim Aufwachsen als eines von wenigen Kindern mit Migrationsgeschichte in einem Vorort von Bern. Schon ein paar Jahre früher wurde Nativ mit S.O.S., einem Duo mit dem Rapper Dawill, als zentrale Figur einer neuen, migrantisch geprägten Generation im Schweizer Hip-Hop gefeiert. «Baobab», sein erstes Soloalbum von 2018, wurde nicht nur als eines der wichtigsten Schweizer Alben der letzten Jahre gelobt, ohne grosses Label im Rücken erzielte der Rapper damit auch einen gewissen kommerziellen Erfolg.

Auf «Marathon» nimmt Nativ die Rolle als Stimme einer antirassistischen Jugendrevolte wieder offensiv an, ohne dass man je das Gefühl hätte, da laste etwas auf seinen Schultern. In «Free Blanket.» weitet er mit einem wuchtigen Beat im Rücken lässig den Horizont: «Zuekunft wird nid übertreit uf SRF, mir si d Wält.» Die politische Konfrontation sucht er in «L.», einem Song über die Fremdenfeindlichkeit und die koloniale Profitwirtschaft Europas; oder in «Cancel Culture.», einer ambivalenten Abrechnung mit einer an Egozentrik leidenden politischen Kultur.

Aber der anklagende Tonfall dominiert das neue Album nicht, eher muss man sich dieses als ein musikalisches Psychogramm vorstellen. Das geht hinein bis in den Aufbau der Songtexte; die Raps von Nativ wirken weniger wie Gedichte, die bis in jedes Detail konstruiert und geschliffen wären, als wie ein schlingernder Bewusstseinsstrom durch unzählige Gefühlslagen und Gedankenschlaufen. Es hat wohl auch mit dieser mäandernden Qualität zu tun, dass seine Texte oft so dringlich wirken.

Reue und Provokation

Nativ ist nicht nur ein rhythmisch versierter Rapper, sondern vor allem auch ein musikalischer. Die psychischen Welten, durch die sich das Album bewegt, drücken sich in einer faszinierenden Vielzahl von Stimmlagen aus. In «Aeon.» rappt und singt er tief entspannt, aber auch nachdenklich von eigenen Fehlern und den Wellenbewegungen in einer Liebesbeziehung. In «Retrospect.» erzählt er zuerst vernebelt, dann aufgeputscht von zerstörerischen, verdrogten Partynächten. Schwermütig klingt er in «1932–2020.», einer Ballade über seinen kürzlich verstorbenen Grossvater; kein anderer Songtext auf dem Album enthält so viele Anglizismen, als wollte Nativ damit das Gespräch zwischen den Generationen sichtbar machen.

Doch trotz aller Verletzlichkeit und Selbstkritik, die hier immer wieder zum Vorschein kommt, ist das kein selbstmitleidiger Emorap. Scheinbar gezielt sucht Nativ den Widerspruch zwischen Reue und Provokation, wenn er in Interviews etwa der sexistischen Sprache abschwört und in «Free Blanket.» dann neckisch das Wort «Bitch» in die Nähe des Namens von Karin Keller-Sutter rückt. Oder er performt den Spagat zwischen Prahlerei und Gemeinschaftsgefühl. «Mortal.», der erste Song auf dem Album, hebt an wie ein Peitschenhieb. «I mues nüm ihcheckä, wöu mi Shit isch approved», rappt er mit angezogenem Tempo, bevor eine Fanfare den Beat einleitet. Nur ein paar Zeilen weiter aber weist er das Konkurrenzgehabe wieder von sich: «Ke Competition, hanä angeri Mission.»

Mit diesem Widerspruch spielte Nativ auch bei der Einleitung zu seinem diesjährigen Auftritt am Cypher, dem jährlichen Rap-Battle auf «SRF Virus». Der Beat und der Text, den er gleich vortragen werde, seien vorher schnell auf dem Weg hierher ins Studio entstanden, sagt Nativ. Als der johlende Moderator angebissen hat, fügt er an: «Das war dann übrigens ein Witz.»

Nativ: Marathon. Nativ.Vision. 2022