Parteiaustritt: Wenn die SP schweigt

Nr. 3 –

Der profilierte Genfer Sozialdemokrat Nils de Dardel tritt aus der SP aus, weil sie in wichtigen Fragen wie den Verträgen von Schengen und Dublin kritische Analyse durch wahltaktische Überlegungen ersetzt.


Nils de Dardel, am Wochenende sind Sie aus der SP ausgetreten. Was hat Sie dazu veranlasst?

Ich habe diesen Schritt gemacht, weil ich feststelle, dass sich die Positionen der SP aufweichen. Unter dem Druck der SVP sind alle Parteien nach rechts gerutscht - auch die SP.

Können Sie diesen Vorwurf konkretisieren?

Sicher: Als es um die Verwahrung von psychisch kranken Straftätern ging, gab es innerhalb der Fraktion eine Gruppe, die Positionen vertrat, die nicht weit von denjenigen der Verwahrungsinitiative entfernt waren. Diese Positionen standen im völligen Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

Oder es gab eine unsägliche Kampagne der Parteileitung zur Frage der Ausländerkriminalität mit Aussagen von Parteipräsidentin Christiane Brunner und anderen Parteiexponenten. Damals konnte ich diesen Aussagen entgegentreten - und dazu beitragen, die Kampagne zu stoppen. Heute gibt es niemanden mehr, der sich diesen Tendenzen in den Weg stellt oder der die Haltung von Parteileitung oder Parteiexponenten fundiert kritisiert.

Wo müsste denn diese Kritik ansetzen?

Typisches Beispiel ist Schengen. Die SP hat Schengen mit dem Rest der bilateralen Verträge geschluckt. Allerdings bestand dafür gar keine Notwendigkeit. Denn der Beitritt zu Schengen ist keine EU-Forderung, sondern ein Projekt des Bundesrates, der sich damit den Zugang zum Informationssystem SIS sichern will.

Heisst das, dass es innerhalb der SP keine ernsthaften Diskussionen gegeben hat?

Der Zugang der SP zu Schengen ist vollkommen unkritisch. Schengen hat einen einzigen positiven Aspekt: die offenen Grenzen. Aber das wird sofort korrigiert durch zusätzliche und zufällige Kontrollen im Landesinneren. Bislang war es so, dass Personenkontrollen nur bei einem konkreten Verdacht durchgeführt werden durften. Dieser rechtsstaatliche Grundsatz wird mit Schengen teilweise abgeschafft. Das Mindeste, was ich von der SP verlangt hätte, wäre gewesen, auf dieses Risiko hinzuweisen.

Hat die SP in diesen Fragen den kritischen Diskurs durch die Loyalität gegenüber ihrer Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ersetzt?

Das kann ich so nicht sagen. Sie hat aber sicher den kritischen Diskurs durch ein Schweigen ersetzt. Aber die Bundesratsbeteiligung wiegt sicher schwer.

Was mich zum Austritt bewogen hat, ist die Tatsache, dass es innerhalb der Partei niemanden mehr gibt, der gegen solche Entscheide protestiert. Dabei ist die SP doch eine grosse demokratische Partei, die sehr wohl mit unterschiedlichen Meinungen leben kann.

Wo stehen Sie in der EU-Diskussion?

Ich bin dafür, dass die Schweiz der EU beitritt. Ich finde es wichtig, dass wir die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf europäischer Ebene verteidigen können. Ich bin auch für die anderen Verträge der Bilateralen II - insbesondere für die Betrugsbekämpfung. Endlich ist es gelungen, ein Schlupfloch zur Steuerhinterziehung zu schliessen. Das Abkommen von Schengen/Dublin kann ich aber nur im Rahmen eines EU-Beitritts akzeptieren.

Sie kritisieren, dass die SP traditionell linke Themen wie die Verteidigung der Grundrechte und Kritik am Schnüffelstaat nicht mehr genügend abdeckt. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Die SP hat in den Mittelschichten viele WählerInnen, die für den Sicherheitsdiskurs besonders anfällig sind. Ich denke, es ist deshalb auch eine wahltaktische Entscheidung, diese Leute dort abzuholen.

Damit verabschiedet sich die Partei vom kritischen Diskurs. Denn wenn es ein Land gibt, in dem die Kriminalität objektiv kein grosses Problem ist, dann ist es die Schweiz. Das zeigen auch die generellen statistischen Tendenzen in den letzten zehn Jahren.

Diese Neupositionierung findet statt vor dem Hintergrund, dass der Sozialstaat immer mehr durch den repressiven Staat ersetzt wird. Drastisch ist diese Entwicklung in den USA, sie findet allerdings teilweise auch in Europa statt.

Macht die SP mit den Ängsten der Mittelschicht Politik?

Diese Ängste existieren auch in den Unterschichten. Ich stelle fest, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Ausrichtung auf potenzielle WählerInnen und einem Fehlen von mutigen Aussagen.

In den Jahren im Parlament habe ich festgestellt, dass die nationale Politik durchtränkt ist von Mythen, Lügen und fantastischen Interpretationen der Wirklichkeit. Es müsste eine Aufgabe der Linken sein, die Wirklichkeit möglichst objektiv und nahe an den sozialen Realitäten zu interpretieren. Es ist eine linke Aufgabe, Mythen aller Art zu bekämpfen.

Haben Sie sich nach Ihrer Demission aus dem Nationalrat noch kantonal oder lokal engagiert?

Bei Fragen, die mich interessieren, herrscht innerhalb der kantonalen Partei eine grosse Gleichgültigkeit. In Genf vermutlich noch etwas mehr als anderswo. Ich habe mich deshalb nie ausschliesslich auf die SP konzentriert.

Sie bezeichnen sich als einen Linken. Nun gibt es innerhalb der SP den so genannten Oltener Kreis linker SozialdemokratInnen. Ist das kein Diskussionsrahmen für Sie?

Offen gesagt, ich glaube nicht, dass das etwas wird. Erstens ist dieser Kreis wenig strukturiert, und zweitens orientiert er sich vor allem an französischen Linkssozialisten. Ich finde es für die gesamte politische Linke wichtiger, wenn es links der SP organisierte Gruppen gibt.

Davon gibt es gerade in Genf ja einige. Neben der SP die PdA, Solidarités und die Grünen - nicht zu vergessen die Bemühungen der Bewegung für den Sozialismus (BfS). Ist das nicht eher zu viel des Guten?

Tatsächlich ist die Vielfalt gross. PdA, Solidarités sowie die Unabhängigen um Christian Grobet sind immerhin in der Alliance de Gauche lose organisiert. Ich bin sehr dafür, dass die Alliance nicht nur ein Bündnis dieser drei Strukturen ist, sondern dass man ihr auch als Einzelmitglied angeschlossen sein kann. Das ist meine politische Familie, denn ich komme aus der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Tradition.

Für die Grünen habe ich viel Respekt, aber ich fühle mich ihnen nicht besonders verbunden. Sie sind sehr heterogen und haben auch bürgerliche Wurzeln.

Ihr Austritt aus der SP fällt zeitgleich mit dem Entscheid der Alliance de Gauche, das von der trotzkistischen Bewegung für den Sozialismus lancierte Referendum gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten zu unterstützen.

Es ist nicht die gesamte Alliance, die dieses Referendum unterstützt. Nur die PdA und die Unabhängigen unterstützen das Referendum - nicht jedoch Solidarités. Ich habe Verständnis für diejenigen, die das Referendum ergriffen haben. Persönlich habe ich in dieser Frage noch keine Position bezogen. Ich habe immer den freien Personenverkehr verteidigt als ein fundamentales Menschenrecht für alle Menschen - nicht nur für diejenigen aus Europa.

Die Frage ist allerdings, unter welchen Bedingungen der freie Personenverkehr eingeführt wird. Es braucht Massnahmen, um andere Rechte - betreffend Arbeit und soziale Sicherheit - zu schützen. Es ist also wichtig, herauszufinden, ob die vom Parlament beschlossenen flankierenden Massnahmen Wirkung zeigen. Hier ist noch vieles unklar. Die nun beschlossenen Massnahmen sind aber deutlich besser als die bisherigen: Die Schaffung von Arbeitsinspektoren zum Beispiel ist eine fundamentale Verbesserung. Oder die Bedingungen, unter denen Gesamtarbeitsverträge allgemein verbindlich erklärt werden können. Aber die Frage ist: Genügen diese Massnahmen?

Wenn von rechts und links gleichzeitig ein Referendum ergriffen wurde, war es in den letzten zehn Jahren für die Linke immer schwierig, sich verständlich zu machen ...

Das ist richtig. Aber man muss auch die besonderen Verhältnisse im Kanton Genf berücksichtigen. Die Zahl der Grenzgänger ist 2004 massiv gestiegen. Das schafft eine Stimmung, die die SVP bestens auszunützen versteht. Kommt dazu, dass die Arbeitslosigkeit mit 7,4 Prozent im Kanton Genf fast doppelt so hoch ist wie im schweizerischen Durchschnitt. Zwischen diesen beiden Zahlen keinen Bezug herstellen zu wollen, wäre ein Fehler. Deshalb ist es hier ein Thema.

Ich bin in dieser Frage gespalten und stelle mir die Frage, ob ein derartiges Referendum die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz erhöht.

Nils de Dardel ist Jurist und arbeitet als Generalsekretär bei der für Verkehr und Infrastruktur zuständigen Direktion der Stadt Genf. Er sass zwölf Jahre für die SP im Nationalrat. In dieser Zeit beschäftigte er sich vor allem mit Grundrechts- und Menschenrechtsfragen. Er war aber auch engagiert bei der Revision des Strafrechts und beim Kampf gegen die Rassendiskriminierung. Prägende politische Ereignisse waren für ihn der Fichenskandal von 1990 und die Aufarbeitung der jüngeren Schweizer Geschichte wegen der Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen in der Mitte der neunziger Jahre.