Streitgespräch: «Lieber Schlange stehen»

Für Nils de Dardel ist es eine komplette Illusion zu glauben, Schengen/Dublin verbessere die Situation der AusländerInnen in der Schweiz. Für Ueli Leuenberger ist das Abkommen eine notwendige Etappe auf dem Weg in die EU.

WOZ: Nils de Dardel, sind Sie überrascht, dass die Grünen Ja zu Schengen/Dublin sagen?
Nils de Dardel: Ich bin überrascht und bedauere diesen Entscheid. Weder bei den Grünen noch innerhalb der SP hat eine vertiefte Diskussion zum Thema stattgefunden.

Ueli Leuenberger, haben Sie erwartet, dass Nils de Dardel die SP we­gen ihrer Haltung zu Schengen/Dublin verlässt?
Ueli Leuenberger: Nein, ich glaube aber nicht, dass es nur an Schengen/Dublin lag. Zur Debatte muss ich sagen, dass wir bei den Grünen sehr intensiv dis­kutiert haben.

Monsieur de Dardel, haben Sie die Diskussion bei den Grünen einfach verschlafen?
De Dardel: Nein. Linke und Grünen nehmen nicht zur Kenntnis, dass der Bundesrat Schengen/Dublin anstrebt und nicht den Beitritt zur Europäischen Union. Vor einigen Jahren war die EU noch grundsätzlich gegen eine Schengen-Mitgliedschaft der Schweiz, weil die Schweiz auf Ausnahmeregelungen pochte. Die Schweiz hat diese Ausnahmeregelungen erhalten, und darob sind weite Kreise in der EU verärgert. Ein besonderes Ärgernis ist für viele, dass eine Klausel das schweizerische Bankgeheimnis in Fällen von Steuerhinterziehung schützt. Die Schweiz hat etwas ausgehandelt, das vor allem dem Bankenplatz Schweiz nützt. SP und Grüne folgen dieser Linie, ohne sich darüber klar zu sein.

Leuenberger: Wir laufen natürlich nicht den Bankiers hinterher. Ich teile in vielen Punkten die Analyse von Nils de Dardel, aber wir müssen die Abstimmungsvorlagen in einem grösseren Zusammenhang sehen. Die Abstimmung dreht sich um die Frage, ob wir die Schweiz öffnen oder abschotten wollen. Ein Nein zu Schengen/Dublin würde als Nein der reaktionärsten Kräfte des Landes interpretiert werden. Als überzeugter Europäer will ich so schnell wie möglich in die EU – und sie verändern, wie wir auch die Schweiz verändern müssen. Deshalb braucht es ein Ja.

De Dardel: Die EU nähme es der Schweiz nicht übel, falls Schengen/Dublin abgelehnt würde. Man kann für die Bilateralen II sein und gleichzeitig gegen Schengen. Wir haben die Wahl, denn es gibt eine separate Abstimmung, deren Ausgang keine Auswirkung auf die anderen Dossiers der Bilateralen II hat.

Schengen ist eine falsche Öffnung. Zwar werden die Grenzen geöffnet, aber gleichzeitig die Kontrollen im Hinterland vervielfacht. Zufällige Kontrollen ohne Verdacht kann man weder als So­zialist noch als Grüner einfach akzep­tieren. Ausserdem werden die Aussengrenzen des Schengen-Raumes mit modernsten technologischen Mitteln komplett abgeriegelt. Schengen be­deutet auch die berühmt-berüchtigte Datenbank SIS (Schengener Informationssystem). Diese Datenbank ist eine gigantische Fichiermaschine. Nur rund 1,5 Prozent der dort gespeicherten Personen sind wegen eines schweren Delikts ausgeschrieben. Alle anderen sind wegen Bagatelldelikten gespeichert oder aus administrativen Gründen – etwa weil sie sich illegal im Schengen-Raum aufhalten.

Leuenberger: Sie vergessen, dass die Schweiz innerhalb Europas selber eine gigantische Festung ist. Man unterschätzt die entsprechenden Bemühungen der Schweiz, auch in Zusammenarbeit mit anderen Staaten.

Ich denke, dass der Beitritt zu Schengen/Dublin keine weitere Verschlechterung der Situation in der Schweiz bringt. Im Gegenteil: für 500 000 legal ansässige MigrantInnen, die nicht aus dem Schengen-Raum stammen, gibt es sogar wesentliche Erleichterungen wie das gemeinsame Schengen-Visum. Sie müssen sich in Zukunft nicht mehr mit den Konsulaten herumschlagen, nur weil sie eine Tante oder einen Bruder auf der anderen Seite der Grenze besuchen oder in ihr Herkunftsland reisen wollen.
Als Linker und Grüner muss ich auch klar sagen, dass der demokratische Staat berechtigt ist, sich zu schützen. Wir konnten nicht verhindern, dass das ­Fichenwesen in der Schweiz wieder ­zunimmt. Ein Teil der im SIS gespeicherten Daten betrifft aber tatsächlich Kriminelle, und ich habe kein Interesse daran, dass sich Mafia und Banditenwesen verbreiten und allmählich einen Teil der Wirtschaft und der Politik kontrollieren. In diesem Sinn bin ich für eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität, wie sie von Zugs links-grünem Polizeidirektor Hanspeter Uster betrieben wird.

Monsieur De Dardel, eine halbe Million Menschen in der Schweiz könnte direkt von den Schengen-Visa profitieren. Reicht das nicht, um Ja zu sagen?
De Dardel: Diese Erleichterungen sind ein Grund, warum der Gewerkschaftsbund Schengen/Dublin unterstützt. Aber das ist ein administratives Argument. Man schützt diese Leute – und auch die SchweizerInnen – besser, wenn man die Möglichkeiten zu verdachtsunabhängigen Kontrollen und Polizeiwillkür einschränkt.

Leuenberger: Es ist nicht nur eine administrative Angelegenheit, wenn die Leute vor den Konsulaten Schlange stehen müssen.

De Dardel: Ja, das kann mühsam sein. Aber lieber einige Stunden Schlange stehen vor einem Konsulat, als stundenlang auf einem Polizeiposten zu sitzen.

In der Schweiz verschlechtert sich die Situation für AusländerInnen seit vielen Jahren. Aber anzunehmen, dass Schengen/Dublin diesen Prozess stoppen könn­te, scheint mir eine komplette Illusion. Denn auch in europäischen Ländern werden die Rechte für Asylsuchende gering geachtet. Italien hat tausende von Flüchtlingen von der Insel Lampedusa nach Afrika zurückgeschafft, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, ein Asylgesuch zu stellen. Deutschland und andere Länder verlangen die Installation von Flüchtlingslagern ausserhalb des Schengen-Raumes. Dublin bringt für die Flüchtlinge keine Verbesserungen. Im Gegenteil, dieses System schränkt ihre Möglichkeiten massiv ein, sich ihr potenzielles Aufnahmeland selber auszusuchen.

Leuenberger: Ich glaube nicht, dass Dublin die Situation der Asylsuchenden in der Schweiz verschärft. Vielleicht sind sogar einige kleine Verbesserungen möglich.
Schlussendlich hängt aber alles vom Kräfteverhältnis in der Schweiz ab. Acht oder neun Asylgesetzrevisionen führten in den letzten zwanzig Jahren dazu, dass heute Dinge als selbstverständlich akzeptiert werden, die vor einigen Jahren noch völlig unvorstellbar waren und den entschiedenen Widerstand breiter politischer Kreise ausgelöst hätten.
De Dardel: Ich teile die Verzweiflung von Ueli Leuenberger, was die Entwick­lung im Asylbereich betrifft. Es geht nicht um Schengen/Dublin allein. Das ist eine Zivilisationsfrage. Geht es einfach weiter mit der Verschlechterung der Rechte der Personen, insbesondere der schwachen Personen? Wird der Sozialstaat allmählich durch einen Repressions- und Polizeistaat ersetzt? Diese Tendenz gibt es in den USA seit längerer Zeit, und in der EU gibt es eine ähnliche Entwicklung.

Einfach über Europa zu säuseln und zu erklären, die Leute würden eine ablehnende Haltung nicht verstehen, reicht nicht aus. Und einfach das Gegenteil von dem zu machen, was die SVP macht, ist überhaupt ein schlechtes Argument.

Leuenberger: Da bin ich überhaupt nicht einverstanden. Es ist zuerst einmal ein helvetisches Problem. Für die Verschärfungen in der Asylpolitik gibt es in der Schweiz genügend Kräfte. Ausserdem ist Europa kein homogenes Gebilde. Es gibt verschiedene Praktiken in verschiedenen Ländern.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man den Leuten einreden kann, ein Nein zu Schengen/Dublin sei kein Nein zu Europa. Mit einer derartigen Haltung wird man in der Schweiz keinen Schritt vorwärts kommen, denn ein Nein wird interpretiert werden als Entscheid der Schweizer Bevölkerung gegen die Öffnung, und die SVP und ihre Gefolgsleute könnten einmal mehr triumphieren.
De Dardel: Schengen und Dublin sind kein Grund, nicht der EU beizutreten. Ich wäre bereit, diesen Preis im Falle eines EU-Beitritts zu bezahlen. Es geht aber nur um Schengen/Dublin, und man kann das gut ablehnen …

Leuenberger: … und damit den Beitritt auf die lange Bank schieben …

De Dardel: … nein, das glaube ich nicht. Ich teile eher die Haltung der französischen Senatoren, die es gefährlich finden, dass man der Schweiz so viele Ausnahmebestimmungen durchgehen lässt. Vor allem beim Bankgeheimnis. Das sei Schengen à la carte. So werde die Schweiz nie der EU beitreten müssen …

Leuenberger: … wir werden das Bankgeheimnis im Moment nicht abschaffen können. Wir sind nicht in der Lage, die Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen.
De Dardel: Dann soll man nicht die Schweiz mystifizieren beispielsweise in Bezug auf die Entwicklung im Asylbereich. Die anderen Staaten kennen genau die gleichen Tendenzen. Das zeigt sich vielleicht nicht so spektakulär, weil es dort keine regelmässigen Volksabstimmungen gibt. In anderen Staaten müssen gar keine Gesetze geändert werden. Da reicht es, neue Verordnungen herauszugeben oder die Regierung auszuwechseln. Und da unterscheiden wir uns vermutlich: Sie betonen immer wieder den ausserordentlichen Charakter der Schweiz, ich halte sie im Vergleich zu den anderen Staaten Europas für völlig durchschnittlich.

Leuenberger: Die Herausforderung der kommenden Monate wird es sein, gegen die Verschärfung des Asylgesetzes das Referendum ergreifen zu können – um die Leute vor Ort zu unterstützen und auch um gegenüber den Asylsuchenden ein Zeichen zu setzen.

De Dardel: Ich bin sehr froh, dass wir uns in einigen Monaten wieder auf der gleichen Seite der politischen Auseinandersetzung treffen werden.

Willkür

«Das Schengen-Abkommen liegt auf der Linie der Bestrebungen, einen lückenlosen Kontrollstaat aufzubauen. Es führt die flächendeckende Schleierfahndung ein, also die verdachtsfreie Kontrolle beliebiger Personen mit ihrer Folge von Diskriminierung, Einschüchterung und Willkür. Sein Informationssystem, das SIS, erlaubt die europaweite Erfassung von Personen und ihrer politischen Tätigkeiten unter dem Vorwand von Ordnung und Sicherheit. Einen effektiven Datenschutz kennt es gerade bei diesen schwersten Grundrechtseingriffen nicht. Es ist die europäische Form des Polizei- und Überwachungsstaates.»
Daniele Jenni, Rechtsanwalt, Stadtrat Grüne Partei Bern