Schengen/Dublin: «Ein Nein wäre Selbstmord»

Nr. 6 –

Sind die EU-Abkommen von Schengen und Dublin wirklich harmlos? SP-Parteipräsident Hans-Jürg Fehr bezieht Stellung zu den Vorwürfen von alt Nationalrat Nils de Dardel.

WOZ: Der langjährige Genfer Nationalrat Nils de Dardel trat Mitte Januar aus der SP aus. Als wichtigsten Grund für diesen Schritt nannte er die Positionierung der SP in Bezug auf die beiden EU-Abkommen von Schengen (Polizei) und Dublin (Asyl). Er hätte sich in diesen grundrechtlich heiklen Bereichen mehr kritische Distanz von der Partei gewünscht (siehe WOZ Nr. 3/05). Er sei enttäuscht darüber, dass die Partei nun einfach schweige.

Hans-Jürg Fehr: Wir schweigen überhaupt nicht. Wir setzen uns für Schengen/Dublin ein und werden eine entsprechende Kampagne machen. Selten haben wir innerhalb der SP-Fraktion so lange um eine gemeinsame Position gerungen und schliesslich eine so geschlossene Haltung eingenommen.

Um welche Positionen mussten Sie denn ringen?

Es ging bei Schengen um den Datenschutzbereich und um eine staatspolitische Einschätzung des Abkommens. Nur weil es den Fichenskandal gab - der nichts mit Europa zu tun hatte -, können wir doch nicht jede Form von polizeilicher Verbrechensbekämpfung im internationalen Kontext zurückweisen!

De Dardel lobt die SP ausdrücklich wegen ihrer Haltung im Fichenskandal. Er wirft ihr aber vor, sie habe seither ihre Kritik an polizeistaatlichen Auswüchsen zugunsten eines unbedingten Wunsches nach einem Beitritt zur EU gestoppt.

Ich bin froh, dass wir bei der Aufdeckung des Fichenskandals an vorderster Front standen. Wir konnten zeigen, in welch gigantischem Ausmass die eigene unbescholtene Bevölkerung bespitzelt wurde. Da hatte sich ein Schnüffelstaat entwickelt, der entschieden bekämpft werden musste. Aus dieser Geschichte kann man aber nicht ein Nein gegen Schengen ableiten. Schengen ist kein Vertrag zur Bespitzelung der europäischen Völker, sondern ein Vertrag zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität.

Ein Vertrag gegen die grenzüberschreitende Kriminalität? Dabei sind doch im Schengener Informationssystem (SIS) nur 1,5 Prozent der Personen wegen krimineller Delikte ausgeschrieben. Der grosse Rest entfällt auf Personen, die sich fremden- und grenzpolizeilicher Vergehen schuldig gemacht haben. Da frage ich mich, ob wir vom gleichen System Schengen reden?

Die 1,5-Prozent-Behauptung ist irreführend. Es gibt heute rund zwölf Millionen Einträge. Weit über die Hälfte dieser Einträge betrifft Sachen und nicht Personen. So werden gestohlene Fahrzeuge, vor allem Autos, registriert. Der organisierte Autodiebstahl ist zurückgegangen, weil mehr Fahrzeuge wieder gefunden werden. Personen werden nur registriert, wenn gegen sie ein offensichtlicher Verdacht oder eine Einreisesperre besteht. Auch entlaufene Jugendliche werden im SIS ausgeschrieben. Das ist materiell nichts anderes als Ausschreibungen innerhalb eines einzelnen Staates, aber es erhöht die Chancen, gesuchte Personen in Europa zu finden.

Aber wenn nun ein Grossteil der Einträge wegen fremdenpolizeilicher Vergehen gespeichert wird, dann dient das doch nicht der Verbrechensbekämpfung, wie die SP behauptet?

Doch, das ist auch Verbrechensbekämpfung. Grenzüberschreitende kriminelle Aktivitäten - wir reden von Menschenhandel, Drogenhandel, Terrorismus - müssen nicht zwangsläufig mit einer grossen Zahl von Personen verbunden sein. Und trotzdem ist eine Bekämpfung von Menschenhandel in einem grösser werdenden Europa auch in unserem Interesse.

1,5 Prozent - das ist nur eine kleine Zahl von Personen, die Ihren Kategorien entspricht. Besteht nicht die Gefahr, dass unüberschaubar grosse Datenmengen gesammelt und missbräuchlich verwendet werden? Müssten Sie nicht angesichts der Erfahrungen mit dem Fichenstaat kritischer sein?

Man muss immer kritisch sein in diesem Bereich. Gemessen am Umfang unserer eigenen schweizerischen Dateien bewegen wir uns mit Schengen nicht in einer anderen Dimension. Aber Schengen ist eine andere Dimension im Bezug auf die Wirksamkeit bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität.

Offensichtlich betrachten Sie das SIS nicht als grosses Risiko. Gibt es denn noch andere Gründe, die für Schengen sprechen?

Schengen ist qualitativ anders gelagert als alle anderen bilateralen Abkommen. Diese haben vor allem ökonomischen Charakter. Schengen hingegen betrifft einen Kernbereich der staatlichen Tätigkeit, und deswegen hat es auch eine andere Qualität bezüglich Öffnung: Das ist für die SP wichtig, weil die SP für den Beitritt zur EU ist.

Nun gibt es von SVP und Auns ein Referendum. Auch von links gibt es weiterhin Kritik, allerdings kein Referendum. Ein Argument lautet: Schengen ist nicht unser Anliegen: Wir können und müssen das Abkommen akzeptieren, wenn wir Vollmitglied der EU werden. Aber bis dahin gibt es keine Notwendigkeit für diesen Schritt, und es entsteht auch keine gefährliche Situation für die laufende Integration, denn ein Scheitern von Schengen hat keine Auswirkungen auf die anderen bilateralen Verträge.

Wir haben überhaupt keinen Grund, das Spiel der nationalistischen Rechten mitzuspielen. Warum laufen die denn Sturm gegen Schengen? Denen geht es doch gar nicht um Sicherheit. Sie sehen vielmehr, dass Schengen einen Öffnungsgehalt hat, der das Verhältnis zwischen der Schweiz und Europa ändert. Vor dieser Öffnung haben sie Angst. Für uns hingegen passt Schengen in unsere Strategie mit dem Ziel eines EU-Beitrittes. Es wäre politisch selbstmörderisch gewesen, zu diesem Vertrag in dieser Konstellation einfach Nein zu sagen.

Unter dem Eindruck der EWR-Abstimmung von 1992 haben es kritische Positionen innerhalb der Linken bei Öffnungsfragen schwer, weil verhindert werden muss, dass man sich zur Komplizin der SVP macht.

Unsere Beweggründe wurzeln in unseren eigenen europapolitischen Überzeugungen. Wir schauen nicht erst, was die SVP macht, bevor wir unsere Position festlegen. Wir haben Schengen nie separat gefordert, aber wir wollen schon sehr lange den Beitritt zur EU, und da gehört die kriminalpolizeiliche Zusammenarbeit einfach dazu.

Es geht um den Preis. Ein Teil der Linken kommt offensichtlich zum Schluss, dass ein Beitritt zu Schengen wegen des Informationssystems SIS nicht richtig ist?

Bedenken wegen polizeilicher Schnüffeleien sind immer angebracht. Aber sie können kein Nein zu diesem Vertrag begründen. Die Datenschutznormen in der EU sind mindestens gleich gut wie in der Schweiz.

Genau da gibt es ein Problem. In den heiklen Feldern von Polizei und Geheimdiensten gelten die EU-Datenschutzrichtlinien nicht.

Wir haben uns intensiv mit dem Datenschutzbeauftragten Hanspeter Thür unterhalten. Er hat uns gesagt, dass aus seiner Sicht Schengen nicht zu beanstanden sei, worauf wir Entwarnung geben konnten.

Kriminologieprofessor Martin Kilias propagierte Massen-DNA-Tests und forderte, hart gegen Sprayer vorzugehen. Die SP wollte vor den letzten Wahlen darüber diskutieren. Möchte sich die SP beim Mittelstand beliebt machen?

Nein, aber es ist ein schwieriges Thema für die Partei. Einerseits bewegen wir uns in einem sehr polizeikritischen Zusammenhang, da unsere Parteimitglieder historisch oft das Opfer überrissener Polizeieinsätze geworden sind, andererseits sind wir eine Partei, die die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse von Otto und Ottilie Normalverbraucher ernst nimmt.

De Dardel hat diese Ausrichtung auf die Sicherheitspolitik als Wahltaktik bezeichnet, um Teile der Mittelklasse zu gewinnen.

Dieses Argument weise ich strikt zurück. Unsere Sicherheitspolitik ist nach wie vor in allererster Linie eine Politik der sozialen Sicherheit. Unsicherheitsgefühle wurzeln in Angst vor Arbeitslosigkeit, Rentenabbau, vor einer Zukunft ohne guten Beruf. Darum setzen wir uns ein für Vollbeschäftigung, sichere Renten und Lehrstellen für alle Jugendlichen. Wir sind der arbeitenden Bevölkerung verpflichtet, unabhängig ob diese nun der Unter- oder der Mittelschicht angehört.

Kommen wir noch zu Dublin. Der Beitritt der Schweiz zum Abkommen von Dublin scheint darauf hinauszulaufen, dass die Schweiz die Abschottungsstrategie übernimmt und sich vollständig in die «Festung Europa» integriert.

Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Beitritt zum Erstasylabkommen von Dublin können wir eher die Verschärfungstendenzen in der Schweiz bremsen. Dublin ist in Verbindung mit der Fingerabdruck-Datenbank Eurodac zwar eine Lösung, die nur ein Asylgesuch in Europa zulässt, aber dazu stellt die EU auch Minimalstandards auf. Diese sind in einigen Punkten besser als in der Schweiz, wie die Flüchtlingshilfe feststellt. Diesen Standards wird sich die Schweiz nicht entziehen können.

Statistiken zeigen, dass die Zahl der Asylgesuche auch ohne Beitritt zum Abkommen von Dublin sinkt.

Der Rückgang hat mit der EU, mit Dublin und mit der schweizerischen Asylpolitik tatsächlich wenig bis nichts zu tun. Er hängt vielmehr davon ab, dass sich die Situation in Staaten, aus denen viele Flüchtlinge stammen, verbessert hat. Im Übrigen glaube ich, dass der Begriff «Festung Europa» nicht stimmt. Ich halte ihn für eine ungerechte Verunglimpfung dessen, was die europäischen Länder im Asylbereich betreiben. Wenn der Asylbegriff einen Sinn haben soll, dann braucht es auch Verfahren, die dazu führen können, dass man einen Antrag ablehnt. Noch einmal: Dublin verpflichtet die Staaten zu einem humanitären Verfahren. Die Länder können mit den AsylbewerberInnen nicht einfach umgehen, wie es ihnen passt.

Hans-Jürg Fehr

Der 57-jährige Schaffhauser ist seit März 2004 Präsident der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Der Nationalrat, Journalist und AZ-Verleger trat vor gut einem Jahr die Nachfolge von Christiane Brunner an.



Schengen-Dublin

• Das Schengener Übereinkommen wurde 1985 zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg geschlossen; inzwischen sind die meisten alten EU-Staaten beigetreten.

• Schengen sieht vor, dass es zwischen den Mitgliedsländern keine Grenzkontrollen mehr geben soll.

• Schengen beinhaltet verstärkte Kontrollen im Landesinneren; die Polizei kann willkürlich Personen überprüfen, ohne dass gegen sie ein Verdacht vorliegt.

• Die Polizeien der Länder arbeiten intensiver zusammen, besonders mittels eines grenzüberschreitenden Schengener Informationssystems (SIS).

• Die EU setzte das Dubliner Übereinkommen - auch Erstasylabkommen genannt - 1997 in Kraft.

• Es legt fest, dass Flüchtlinge nur in einem EU-Land ein Asylgesuch stellen dürfen.

• Die Fingerabdrücke der Flüchtlinge werden in einer zentralen Datenbank (Eurodac) registriert. Die Mitgliedsländer haben darauf Zugriff und können überprüfen, ob ein Flüchtling schon in einem anderen Land war.

• Das Übereinkommen enthält keine Standards, die den Flüchtlingen Schutz garantieren.

www.schengen.ch