Zahntourismus: Für die Brücke über die Grenze
Zähne sind in der Schweiz nicht krankenversichert. Wer ihre Pflege vernachlässigt, muss für die zum Teil horrenden Folgekosten selbst aufkommen. Darum weichen selbst Menschen mit gutem Einkommen in günstigere Länder aus. Der Zahntourismus blüht. Was läuft falsch?
Kurt Spirig aka Kuspi ist Künstler, sein Budget ist knapp. Als der Rheintaler vor zehn Jahren fünf Zähne ersetzen lassen musste, holte er eine Offerte bei einem Schweizer Zahnarzt ein. Die gesamte Behandlung inklusive Implantate hätte ihn 23 000 Franken gekostet. Ein für ihn unerschwinglicher Luxus. Also suchte er nach bezahlbaren Alternativen. Ein in Thailand lebender Freund empfahl ihm eine Zahnklinik in Bangkok. Spirig buchte Flug und Hotel. Die erste Konsultation nahm eine Woche in Anspruch – anschliessend genoss er Ferien an der Wärme. Drei Monate später kehrte er für den Feinschliff nach Thailand zurück.
Der Künstler erinnert sich: «Der Zahnarzt fragte mich, welches Implantat ich möchte. Ich wählte das Spitzenprodukt.» Auch nach zehn Jahren sei er komplikationsfrei und zufrieden mit der Qualität der Arbeit. Das gesamte Paket inklusive Ferien und Flüge habe ihn 7000 Franken gekostet. Wie Kurt Spirig fahren viele MedizintouristInnen nach Thailand – ob für eine Herzoperation oder eben eine Zahnbehandlung. 2017 waren es 3,3 Millionen Menschen aus aller Welt. Die Regierung stützt die Entwicklung des Landes zu einem internationalen «Hub of Wellness and Medical Services».
«Etwas stimmt nicht mehr»
Doch es muss nicht Thailand sein. SchweizerInnen, die sich eine – auch ästhetisch befriedigende – Sanierung ihres Gebisses in der Schweiz nicht leisten können oder wollen, zieht es nach Ungarn, Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich und selbst nach Serbien, Bulgarien oder in die Türkei. In manchen dieser Länder sind die Preise fünfzig bis achtzig Prozent tiefer als in der Schweiz. Zahntourismus ist kein neues Phänomen. Aber mittlerweile nehmen selbst Menschen mit gutem Einkommen diese Gelegenheit wahr. Die verlockenden Angebote sind nur ein paar Klicks entfernt.
Im Netz stösst man etwa auf Novacorpus International Healthcare. Gegründet hat das Unternehmen vor dreizehn Jahren der Schweizer Arzt Stéphane von Büren. Nach seiner Ausbildung arbeitete er für ein Jahr als Internist und Kinderarzt im Wallis – und wechselte schliesslich für einige Jahre in die Pharmaindustrie. Ehe er sein eigenes Unternehmen gründete, war er zuletzt als Direktor für Marketing und Verkauf bei der Unilabs-Gruppe tätig, einem europäischen Marktführer für Diagnostik. Von Bürens kleines Unternehmen vermittelt medizinische Dienstleistungen im Ausland – neben Zahnbehandlungen auch Schönheitschirurgie und Augenlasern. Für die Nachsorge in der Schweiz arbeitet Novacorpus mit einem Schweizer ÄrztInnennetzwerk zusammen.
Es ist ein aufwendiges und heikles Geschäft. Alles hängt vom guten Ruf ab. Von Büren sagt: «Ehe wir Patienten vermitteln, prüfen wir die Arztpraxen auf Herz und Nieren. Bis wir mit jemandem zusammenarbeiten, können bis zu drei Jahre vergehen. Die Nachfrage ist gross.» Exzellente Leistungen seien die Lebensversicherung in diesem Geschäft. Novacorpus hat über 3000 PatientInnen betreut. «Wären wir unseriös und bloss aufs schnelle Geld aus, wären wir längst vom Markt verschwunden.» Von Büren verspricht seinen KundInnen zwischen vierzig und achtzig Prozent günstigere Preise. Die zahnärztlichen Eingriffe sind versichert – bis zu zehn Jahre oder gar lebenslang. Selbst für Prothesen gelte eine Garantie von zwei bis fünf Jahren. «In der Schweiz gibt es solche Garantien nicht», sagt von Büren. Komme es nach einem von Novacorpus vermittelten Eingriff zu Komplikationen, müssten PatientInnen nicht dafür aufkommen.
Risiken und Nebenwirkungen
Im Vermittlungsgeschäft ist von Bürens Arbeitsweise wohl eher nicht Standard. Eine Zahnbehandlung im Ausland kann riskant sein und schlimme Folgen zeitigen. Christoph Asper, ein sozial gesinnter Zahnarzt, praktiziert in Zürich an der Langstrasse. Er sagt: «Ich sehe Grauenhaftes. Gerade behandle ich einen Patienten, der sich in Rom fünf Implantate und eine fix aufgeschraubte Prothese hat machen lassen. Eine Katastrophe!» Er habe auch schon PatientInnen behandelt, die von Sozialhilfe lebten und sich aus ästhetischen Gründen Implantate leisten wollten. «Am Ende haben sie wegen einer Fehlbehandlung eine Prothese im Mund. Die Folgekosten solcher Auslandaufenthalte können enorm sein.»
Asper hat schon PatientInnen mit gesunden Zähnen angetroffen, die gar nicht hätten behandelt werden müssen. Solche Überbehandlungen seien ihm vor allem aus Deutschland bekannt. «Da geht es dann nur noch ums Geschäft.» Zahnbehandlungen seien eine Frage des Vertrauens. Die seriöse Planung und Ausführung einer Sanierung benötige viel Zeit: «Der Patient sollte nicht unter Druck entscheiden. Lässt man sich im Ausland behandeln, muss es rasch gehen, oft werden in wenigen Tagen komplexe Eingriffe durchgeführt. Das ist nicht seriös und kann hochriskant sein, mal ganz abgesehen von der fehlenden Nachbehandlung.» Ausserdem gebe es auch in der Schweiz Zahnärzte, die günstig und seriös arbeiteten, «aber auch hier ist leider nicht alles Gold, was glänzt».
Die Leidensgeschichte von Lukas P. * bestätigt das Grauen, das Christoph Asper mitunter in seiner Praxis zu Gesicht bekommt. Vor gut zwei Jahren wollte er die chronischen Zahnschmerzen loswerden und seine Backenzähne flicken lassen. Der Vierzigjährige stiess auf die Anzeige eines Vermittlers, eigentlich ein Reiseunternehmer. Am Firmensitz begutachtete dieser Lukas P.s Zahnschäden. Die Offerte für Zähne ziehen, Löcher flicken und drei Brücken war günstig, am Ende bezahlte er 4500 Franken. «Ich hatte einen guten Eindruck, auch weil es ein Jahr Garantie gibt.»
Lukas P. reist zusammen mit einer Kollegin nach Györ, eine Stadt unweit von Budapest, und bezieht für eine Woche ein Hotelzimmer. Der erste Eingriff ist eine vierstündige Operation unter Narkose. «Zurück im Hotelzimmer fühlte ich mich sterbenskrank, überall Blut, es war, als wäre ich gerade von der Schlachtbank gekommen. Ich habe drei Tage das Zimmer nicht verlassen, nichts gegessen und bloss etwas Wasser getrunken.» Nachdem er beim Zahnarzt nach Antibiotika und Schmerzmitteln nachgesucht hat, klingen die Schmerzen ab. Dann montiert der ungarische Arzt die Brücken und setzt die Kronen auf. «Teure Produkte», sagt Lukas P. Alles scheint gut. Doch zwei Jahre nach den Eingriffen plagen Lukas P. Entzündungen, die immer heftiger werden.
Zwei Brücken müssen schliesslich bei einem Zahnarzt in der Schweiz herausgebrochen werden, ausser den Vorderzähnen hat Lukas P. keine eigenen Zähne mehr. Er soll nun zwei Implantate und zwei neue Brücken bekommen. Aber das braucht Zeit. «Wie gesagt, ich hatte trotz aller Schmerzen eigentlich keine Zweifel an der Qualität des Eingriffs. Allerdings hatte ich den Eindruck, dieser ungarische Zahnarzt arbeite im Akkord, jedenfalls hatte er keine Zeit, auf mich einzugehen. Aber es war mein Entscheid, ich habe das Risiko auf mich genommen und bin für die Folgen selbst verantwortlich», resümiert Lukas P.
Prophylaxe über alles
Die teure Zahnmedizin in der Schweiz – sie soll die teuerste der Welt sein – hat Folgen. Kurt Spirig und Lukas P. sind zwei Beispiele von vielen. Eine Erhebung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2016 ergab, dass 3,4 Prozent der SchweizerInnen aus Kostengründen auf eine notwendige Zahnbehandlung verzichten mussten. In den unteren Einkommensklassen waren es sogar 7,8 Prozent. Die Erhebung «International Health Policy Survey» der Stiftung Commonwealth Fund kam zum Schluss, dass im selben Jahr sogar 20,7 Prozent der Bevölkerung aus Angst vor den Kosten auf Zahnbehandlungen oder -kontrollen verzichteten. Oder sie wichen eben in andere Länder aus. Das bestätigt eine Umfrage der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO). Demnach haben sich mehr als ein Fünftel der Befragten schon einmal im Ausland behandeln lassen.
Die Schweiz setzt in der Zahnmedizin ganz im Sinne der SSO auf Prophylaxe und Eigenverantwortung. Wer seine Zähne – aus welchen Gründen auch immer – nicht pflegt, muss für die Folgen geradestehen. Wer die Kosten nicht zu stemmen vermag, hat im schlechtesten Fall mit der Billiglösung, einem herausnehmbaren Gebiss, vorliebzunehmen. Nach dem Motto: Zeig mir deine Zähne, und ich sage dir, zu welcher Schicht du gehörst.
Allerdings stimmt das nur bedingt. Wer Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen bezieht, bekommt vom Staat eine rudimentäre Behandlung bezahlt. Implantate gehören nicht dazu, es geht allein um den Erhalt der Kaufähigkeit. Im Prinzip ist der Zahn in der Schweiz ein exklusiver Körperteil, der von der allgemeinen Krankenversicherung ausgenommen ist. Ganz anders etwa die Lungen: Wer raucht und an Lungenkrebs erkrankt, muss trotz sträflicher Vernachlässigung der Prophylaxe die Therapie nicht selbst bezahlen. Auch wer sich beispielsweise falsch ernährt, masslos isst und an den Folgen von Übergewicht erkrankt, kann auf die Krankenversicherung zählen.
In der Schweiz gab es immer wieder Versuche, die Zähne versicherungstechnisch in den Körper zu integrieren. Nationale Initiativen in den siebziger, achtziger und zuletzt Anfang der neunziger Jahre kämpften für eine obligatorische Zahnversicherung – damit grundlegende Zahnbehandlungen und Vorsorgeuntersuchungen wie in Deutschland oder Frankreich bezahlt würden (vgl. «Furcht vor steigenden Prämien» im Anschluss an diesen Text). Die SP hat das Thema in der lateinischen Schweiz wieder aufgegriffen und im Wallis, in Neuenburg, im Tessin, in der Waadt und in Genf Initiativen für eine Pflichtversicherung auf den Weg gebracht. Allerdings scheiterte 2019 ein Versuch im Kanton Genf an der Urne, wie zuvor schon einer in der Waadt. Das ist ganz im Sinne der organisierten ZahnärztInnen. Jede Pflichtversicherung, so ihr Argument, verhindere bloss individuelle Prophylaxe, schwäche also die Eigenverantwortung.
Die Sicht der Zahnärzte-Gesellschaft
Die SSO hält den Ansatz von Prophylaxe und Eigenverantwortung für erfolgreicher als obligatorische Zahnversicherungen. SSO-Mediensprecher Marco Tackenberg sagt zu den Kosten: «Die Preise sind Ausdruck des allgemeinen Preisniveaus in der Schweiz.» Mieten und Löhne seien höher, die Ausbildung der ZahnärztInnen in der Schweiz dauere länger als im übrigen Europa. Auch die hohen Qualitätsstandards beeinflussten den Preis. Die Zahnarztkosten in der Schweiz belaufen sich gegenwärtig auf 4,4 Milliarden Franken im Jahr – 80 Prozent bezahlen die PatientInnen aus der eigenen Tasche. Die SSO rechnet vor: Das sind pro Kopf der Bevölkerung 43 Franken monatlich, 0,9 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltsbudgets, weniger als die Ausgaben für Alkohol und Tabak. Ausserdem könne jeder mit einer gründlichen und regelmässigen Zahn- und Mundpflege sowie jährlichen Kontrollen diese Kosten gering halten.
Eine Pflichtversicherung sei keine Garantie für eine bessere Mundgesundheit. Die Schweiz stehe diesbezüglich im Vergleich mit Staaten, die eine obligatorische Zahnversicherung hätten, besser da. So litten Jugendliche und Erwachsene deutlich weniger an Karies als in den Vergleichsstaaten, die Zahl der Menschen mit einer Zahnprothese sei in der Schweiz nur halb so hoch. Das Beispiel Frankreich zeige, weshalb dem so sei, sagt Tackenberg: «Schwerere invasive Eingriffe sind dort durch das System besser bezahlt als die Grundversorgung und prophylaktische Behandlungen.» Das sei genau das Gegenteil von «minimalinvasiver» Zahnmedizin, wie sie heute in der Schweiz gelehrt werde. Tackenberg: «Das zeigt exemplarisch, welche gefährlichen Anreize das Versicherungsmodell in sich birgt, egal wie komplex es ausformuliert ist.»
Mittelschicht unter Druck
Unter Druck wegen Zahnarztkosten stehen gemäss SSO nicht SozialhilfebezügerInnen und Menschen mit Ergänzungsleistungen. Deren Behandlung bezahle der Staat. «Unter Druck stehen eher Leute aus der unteren Mittelschicht, weil sie alles selber bezahlen müssen», sagt Marco Tackenberg. Armutsgefährdete Personen hingegen könnten finanzielle Hilfe beantragen, unabhängig davon, ob sie bereits Sozialhilfe in Anspruch nähmen. Tackenberg sagt, Zahnbehandlungen gehörten zur medizinischen Grundversorgung: Fürsorge- und Sozialdienste sowie die AHV/IV-Stellen unterstützten PatientInnen in schwierigen finanziellen Verhältnissen. «Sie übernehmen die Kosten, wenn die Behandlung zahnmedizinisch nötig sowie wirtschaftlich und zweckmässig ist.» Er erwähnt Hilfswerke wie Pro Infirmis, Pro Senectute, die Winterhilfe und Fonds von Wohngemeinden. «Will man diese Bevölkerungsgruppe zusätzlich unterstützen, wären gezielte Projekte zielführender als eine obligatorische Zahnversicherung, die nach dem Giesskannenprinzip funktioniert.»
Vor Zahntourismus warnt die SSO. Es fehle die Rechtssicherheit. Für PatientInnen sei es nur sehr schwer möglich, ihre Rechte einzufordern. Da zudem umfangreiche Therapien oft in kurzer Zeit durchgeführt würden, fehle die Zeit für den natürlichen Heilungsprozess.
Stéphane von Büren kennt die Argumente der SSO. In einem Punkt stimmt er mit ihr überein: Zur Behandlung ins Ausland reisen nicht die Ärmsten. «Unsere Klientinnen und Klienten kommen vor allem aus der Mittelschicht. Darunter sind auch Ärzte und Spitalpersonal, die aus eigener Anschauung wissen, dass die Qualität ausländischer Medizinfachleute gut ist.» Auch in der Schweiz praktizieren viele ausländische ZahnärztInnen. Gemäss dem Bundesamt für Gesundheit haben von 627 Zahnärztinnen und Zahnärzten, die im Jahr 2019 eine Berufsausübungsbewilligung erhalten haben, mehr als die Hälfte ein anerkanntes ausländisches Diplom.
Dass der Zahntourismus blühe, sagt von Büren, zeige, dass etwas an diesem System nicht mehr funktioniere. Die Zahnmedizin in der Schweiz sei zu teuer. Ihn erstaune die Skepsis vieler ZahnärztInnen gegenüber ihren ausländischen KollegInnen nicht. «Zu ihnen kommen eben nur jene Patientinnen und Patienten, die schlechte Erfahrungen gemacht haben. Aber es kommt nicht auf das Land an, sondern auf die Qualität der Zahnärzte.» Wie viele ihr Heil im Ausland suchen, wie es um die Qualität steht, darüber gibt es allerdings keine exakten Erhebungen.
Von schlechten Schweizer Zahnärzten
Die WOZ hat acht SchweizerInnen befragt, die sich im Ausland behandeln lassen. Sechs berichten über gute Erfahrungen. Zu ihnen zählen auch der Psychologe Patrick B. * und seine betagte Mutter. Sie nimmt die Dienste einer ungarischen Zahnklinik seit zwanzig Jahren in Anspruch, hat sich Implantate einsetzen lassen und ist zufrieden. Auch ihr Sohn lässt sich mittlerweile in derselben Klinik in Budapest behandeln. «Ich kann nichts Negatives sagen. Gewöhnungsbedürftig ist bloss, dass die Zahnärzte fabrikmässig wie am Fliessband arbeiten, gleichzeitig liegt dort hinter Vorhängen ein knappes Dutzend auf den Stühlen. Mit mir hat ausser dem Chefarzt nie einer geredet», sagt der Psychologe.
Ehe der Lastwagenchauffeur Roger M. vor sechzehn Jahren nach Ungarn auswich, erlebte er eine lange Leidensgeschichte in Liechtenstein und der Schweiz. Mit Zahnärzten, die sich weigerten, eine Notfallbehandlung vorzunehmen und nur Antibiotika verabreichten, die horrende Rechnungen für das Ziehen eines Zahnes stellten. Als er auf Weltreise war und heftige Zahnschmerzen verspürte – wie sich herausstellte wegen einer unsachgemässen Wurzelbehandlung –, fand er in Sydney eine deutsche Zahnärztin. Sie befreite ihn von den Schmerzen. Und sagte dann: «Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf – wechseln Sie Ihren Zahnarzt.»
Als er zurück war von der Reise, folgte er dem Rat. Und fand eine Zahnarztpraxis im ungarischen Sárvár, gleich hinter der österreichischen Grenze, nicht weit von Wien. Seither gehören die ständigen Scherereien, die er in der Schweiz hatte, der Vergangenheit an. Seine Frau, sein Bruder und seine Kollegen lassen sich dort ebenfalls behandeln. «In der Schweiz habe ich Tausende Franken ausgegeben – wofür? Mal abgesehen von den schlechten Erfahrungen – wer kann sich einen Schweizer Zahnarzt überhaupt leisten? Leute mit einem normalen Einkommen jedenfalls nicht.»
* Name der Redaktion bekannt.
Die Krux mit der Versicherung : Furcht vor steigenden Prämien
Dass die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) eine obligatorische Zahnversicherung bekämpft, liegt auf der Hand. Sie sieht ZahnärztInnen als UnternehmerInnen – ein Obligatorium würde ihre unternehmerische Freiheit einschränken und damit wohl ihre Einkünfte mindern. Es gibt allerdings durchaus Argumente gegen eine umfassende obligatorische Abdeckung zahnmedizinischer Leistungen. Und die sind ebenfalls finanzieller Natur. Die Krankenkassenprämien würden um bis zu 18 Prozent steigen. Das ist ein starkes Argument, insbesondere für Menschen mit geringerem Einkommen und Familien, die seit langem unter der steigenden Prämienlast leiden.
Die Angst vor steigenden Prämien ist wohl einer der Hauptgründe, weshalb bislang alle Initiativen für eine obligatorische Zahnversicherung an der Urne scheiterten. Ausserdem gilt die Zahngesundheit in der Schweiz als eine der besten weltweit. Weshalb also etwas am Grundsatz «Prophylaxe und Eigenverantwortung» ändern? Ein erster Schritt Richtung Obligatorium könnte es sein, den jährlichen Kontrolluntersuch beim Zahnarzt obligatorisch zu versichern. Das stärkte die Prophylaxe und wäre für die Krankenkassen verkraftbar.
Pflichtversicherungen bedeuten allerdings nicht automatisch umfassend abgedeckte Zahnbehandlungen. Der Gesundheitsökonom Willy Oggier hat dazu 2019 eine Studie publiziert. Er vergleicht darin die zahnmedizinische Versorgung der Schweiz mit jener Deutschlands, Frankreichs und Österreichs. Diese haben eine obligatorische Zahnversicherung. Bei genauerer Betrachtung, so Oggier, gälten diese Versicherungen nur für einen sehr eingeschränkten Bereich. Gerade sozial vulnerable Gruppen stünden auch in diesen Ländern nicht besser da als in der Schweiz. Hinzu komme, dass die Versicherten in der Regel auch für die abgedeckten Leistungen zum Teil hohe zusätzliche Zahlungen leisten müssten. Anstelle einer obligatorischen Versicherung für die gesamte Bevölkerung sehen GesundheitsökonomInnen wie Oggier einen mit der Prämienverbilligung vergleichbaren Weg. Davon würden Menschen profitieren, die es nachweislich nötig hätten.
Übrigens hat auch die Zahnärzte-Gesellschaft davon Kenntnis genommen, dass Menschen aus Angst vor hohen Kosten auf den Gang zur Zahnärztin verzichten. Daher prüfe die SSO Wege, das bestehende System zu verbessern. Dazu ist ein Pilotprojekt im Kanton Freiburg geplant. Angesprochen sind Menschen, die Sozialhilfe beziehungsweise Ergänzungsleistungen beziehen oder in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen leben. Unter anderem sollen sie besser über ihre Rechtsansprüche und Hilfsangebote informiert werden.
Andreas Fagetti