Atomkraftwerk Leibstadt: Schlamperei mit System

Nr. 18 –

Das AKW Leibstadt steht wegen eines defekten Generators still. Man könnte sagen Pech - doch die Pannen häufen sich Besorgnis erregend.

Was ist los mit Leibstadt? Das AKW ist das jüngste und das teuerste der Schweiz - und sorgt seit Jahren mehr als alle andern für Schlagzeilen.

Vergangene Woche wurde bekannt, dass man beim Austauschen der Brennelemente vergessen hatte, zwei Steuerstäbe einzuschieben. Diese Steuerstäbe sind dazu da, um eine spontane Kettenreaktion zu verhindern. Wäre es zu einer solchen gekommen, wären Angestellte verstrahlt worden.

· Ende März musste der Reaktor vom Netz genommen werden, weil der Generator kaputt ist. Am 22. April wurde dann bekannt, dass die Reparatur ein halbes Jahr dauert.

· Vor einem Jahr missachteten Operateure gleich mehrere Vorschriften. Der Reaktor erhitzte sich übermässig und wurde stärker unter Druck gesetzt als erlaubt; danach unterliessen es die Techniker, zu überprüfen, ob der Reaktor dadurch beschädigt wurde.

· Vor rund drei Jahren wurde bekannt, dass Operateure bei der jährlichen Routinekontrolle gewisse Arbeiten nicht ausgeführt hatten - und danach die Protokolle fälschten.

· Mitte der neunziger Jahre kam es während der Revisionsarbeiten zu einer Explosion, zwei Arbeiter erlitten Verbrennungen dritten Grades.

Das sind Einzelereignisse, die aber System haben. Das AKW wurde Mitte der sechziger Jahre geplant. Früh formierte sich dagegen Widerstand. Bundesrat Roger Bonvin reiste 1972 extra nach Leibstadt, um die Bevölkerung zu besänftigen: «Wenn nicht noch in diesem Jahr mit dem Bau eines Kernkraftwerkes begonnen wird, ist spätestens 1977 mit einer Energiekrise zu rechnen. Bei schlechter Wasserführung der Flüsse sogar vorher.»

Dass dem nicht so ist, beweist zurzeit Leibstadt. Das AKW kann problemlos ein halbes Jahr vom Netz genommen werden, ohne dass die Energiekrise zu befürchten wäre. Der Kernkraftwerk Leibstadt AG (KKL) erwachsen daraus nicht einmal ökonomische Probleme.

Die Aktiengesellschaft ist ein einmaliges Konstrukt - ein so genanntes Partnerwerk, das keine Verluste machen kann. Die regionalen, staatlich kontrollierten Elektrizitätswerke hatten es gemeinsam gebaut. Noch heute gehört es unter anderem den Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK, die zur Axpo gehört), den Centralschweizerischen Kraftwerken (CKW) und der S.A. L'Energie de l'Ouest-Suisse (EOS).

Diese Partnerwerke kommen gemeinsam für die Betriebskosten von Leibstadt auf. Im Gegenzug gehört der Strom von Leibstadt nicht der KKL AG, sondern den Partnerwerken. Deshalb macht die Aktiengesellschaft, auch wenn sie nicht produktiv ist, keine Verluste. Die 200 Millionen Franken, die der Stillstand kosten dürfte, werden die Energieunternehmen beziehungsweise die StrombezügerInnen berappen, die an ihr Elektrizitätswerk gebunden sind. Übrigens nichts Neues: Der Bau des AKW hat 5,1 Milliarden Franken gekostet - fast dreimal mehr als ursprünglich geplant. Deshalb kostete 1984, als die Anlage den Betrieb aufnahm, eine Kilowattstunde (KWh) Leibstadt-Strom elf Rappen - erhofft hatte man sich aber Gestehungskosten von höchstens zwei Rappen pro KWh. An der Eröffnungsveranstaltung bekannte Alex Niederberger, Direktor der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg, die damals das AKW betrieb: «Diese Gestehungskosten sind unbestritten hoch. Sie werden unweigerlich zu Tariferhöhungen führen», doch da die Partner eine Mischrechnung machen könnten, sei die Tariferhöhung nicht so gravierend: Die StromkonsumentInnen subventionierten so jahrelang Leibstadt .

Ende der neunziger Jahre wollte Leibstadt die Leistung erhöhen und mehr Strom produzieren. Schon damals warnten AKW-Experten vor einer Leistungserhöhung - weil mehr Leistung auch die Gefahr erhöht: Das Unfallrisiko steigt, die Sicherheitsreserven werden geringer, und wenn etwas passiert, sind die Unfallfolgen gravierender. Das AKW hatte zu jener Zeit permanent Probleme mit den Brennstäben. Die Hüllen der Brennstäbe «rosteten», wodurch Radionuklide austraten und das Kühlwasser im Reaktor übermässig verseuchten. Die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) stellte deshalb die geplante Leistungserhöhung zurück. Die Brennelemente wurden ausgetauscht, und 2001 erhöhte das AKW seine Leistung um fast fünfzehn Prozent.

Leo Scherer, Atomkampagnenleiter von Greenpeace, wirft die Frage auf, ob die Probleme mit dem Generator vielleicht mit der Leistungserhöhung zusammenhängen könnten. Kein Mensch weiss es, möglich wäre es aber. Zudem könnte die Leistungserhöhung auch andere zentrale Bestandteile im Reaktor übermässig belastet haben. Man weiss, dass Reaktordruckgefässe mit der Zeit brüchig werden, da die Behälter durch die Kernspaltung ständig mit Neutronen beschossen werden. Ein Reaktorgefäss muss jedoch, wie ein Dampfkochtopf, beachtlichen Druck und hohe Temperaturen aushalten. Bei einer Schnellabschaltung würde er blitzartig mit kaltem Wasser geflutet. Dieser thermische Schock könnte das Gefäss bersten lassen. Ein Problem, das in allen alternden Reaktoren (also auch in Beznau oder Mühleberg) auftreten kann.

Im radioaktiven Teil einer Anlage lassen sich Versprödungen nur schwer feststellen. Beim Generator, der nicht mit Radioaktivität in Kontakt kommt, hätte man die gravierenden Probleme allerdings früher erkennen können - sah sie aber auch erst, als der Generator schon darnieder lag. Hängt der Schaden am Generator wirklich mit der Leistungserhöhung zusammen, hat sich das ganze Prozedere nicht gelohnt: Leo Scherer schätzt, dass Leibstadt durch die erhöhte Leistung seit 2001 rund 5,5 Milliarden Kilowattstunden (KWh) zusätzlich produziert - was etwa der halben Jahresproduktion entspricht, die sie jetzt einbüsst.

Wichtiger als der ökonomische Aspekt ist die Frage der Betriebskultur. Die HSK liess in den letzten Tagen verlauten, Leibstadt stehe nun auf der «Watch List»: Das Werk müsse jetzt zeigen, welche Massnahmen getroffen würden, um die Sicherheitskultur zu erhöhen.

Allerdings hätte die HSK Leibstadt schon längst auf die Watch List setzen können: 1994 besuchte eine Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA - eine so genannte OSART- Delegation, der atomfreundliche Experten angehören - das AKW Leibstadt. In ihrem Schlussbericht verlangten die OSART-Leute eine «mehr hinterfragende, selbstkritischere Haltung bezüglich der Betriebssicherheit», und zwar nicht nur für die gewöhnlichen Angestellten, sondern «auf allen Ebenen der Organisation». Der OSART-Bericht enthielt dreizehn «Recommendations» (Empfehlungen), was die schärfste Kritik ist, die OSART-Delegationen überhaupt aussprechen. Die Kritik hat aber offensichtlich bislang wenig gefruchtet.

«Die Zeit für eine Stilllegung von Leibstadt ist gekommen - aber mindestens müsste die Anlage stillgelegt werden, bis die Mängel in der Sicherheitskultur tatsächlich behoben sind», sagt Atomexperte Scherer.