Polen: EU-reif oder tot

Nr. 20 –

Seit über einem Jahr ist das Agrarland Mitglied der EU. Die Folgen für die Landbevölkerung sind beträchtlich - in Warschau will dies niemand zur Kenntnis nehmen.

Andrzej Gleizer steht neben seinem Traktor und lacht. «Sie wollen mit mir über die Zukunft der polnischen Landwirtschaft reden? Da gibt es nichts zu Reden. Da gibt es keine Zukunft.» Noch immer keine Zukunft? Hat nicht unlängst die «Financial Times» geschrieben, dass nach dem EU-Beitritt das Einkommen der Ostbauern um bis zu hundert Prozent gestiegen ist? Lügen denn alle polnischen Zeitungen, die Woche für Woche teils begeistert, teils neidisch von einem Geldregen aus Brüssel schreiben, der sich über die Landwirte ergiesst?

Auf die Förderzahlungen angesprochen, immerhin 118 Euro pro Jahr und Hektar, lacht Gleizer immer noch: «Ja, seit dem Beitritt gibt es mehr Zuschüsse als früher. Doch was sie dir in die eine Tasche stecken, nehmen sie dir aus der anderen wieder raus. Den guten Onkel, der dir einfach etwas schenkt, den gibt es nicht.» Dann hört der Fünfzigjährige zu lachen auf und zählt auf, was alles seit dem EU-Beitritt teurer geworden ist: Dünger auf mehr als das Doppelte, Landwirtschaftsmaschinen, auf die früher keine Mehrwertsteuer eingehoben wurde, um ein Viertel und Diesel, den die Bauern vor dem Beitritt verbilligt beziehen durften, sowieso.

«Tatsächlich sind solche Preissteigerungen die negativen Begleiterscheinungen des polnischen EU-Beitritts», gibt auch Jerzy Plewa zu, der Mann, der für Polen die Landwirtschaftsagenda mit der EU verhandelt hat. Andrzej Gleizer findet deutlichere Worte: «Unterm Strich haben wir heute weniger als früher. Deshalb bin ich auch nicht mehr ein so grosser EU-Fan.»

Museumsreife Anbaumethoden

Dabei ist Gleizer eigentlich einer jener Bauern, denen es nach Brüsseler Ankündigungen stetig besser gehen müsste. Mit rund vierzig Milchkühen und dreissig Hektar Grund gilt sein Hof für polnische Verhältnisse als mindestens mittelgross. Gleizer zählt nicht zu den unzähligen polnischen Kleinbauern und -bäuerinnen, die zwei, drei Kühe besitzen, nur für sich selbst wirtschaften und bei denen der Überschuss bestenfalls für eine Flasche Wodka aus dem nächstgelegenen Geschäft reicht.

Dennoch macht sich der stets fröhliche Landwirt keine Illusionen: «Verhungern werden wir nicht. Für meine Frau und mich reicht es, aber schauen Sie sich unsere Kinder an: Alle drei haben studiert. Arbeit hat bis heute keines von ihnen.» Sein Ältester ist inzwischen in Finnland. «Dort hilft er auf einem Bauernhof und bekommt dort mehr, als er hier in Polen je bekommen könnte. Ich glaube, immer mehr Leute werden die Landwirtschaft aufgeben. Doch wovon sollen die Leute leben, wenn es hier einmal weder Bauernhöfe noch Arbeit gibt?»

Und doch ist die Lage um den polnisch-tschechischen Grenzort Cieszyn, wo Gleizer wirtschaftet, noch relativ gut: Die Höfe sind vergleichsweise modern, die im Umfeld von hundert Kilometer gelegenen Grossstädte Kattowitz und Krakau bieten für die Jugend zumindest eine leise Hoffnung auf ein Erwerbsleben nach dem grossen Bauernsterben.

Drei Stunden Autofahrt weiter, im Herzen der südostpolnischen Karpaten, sieht die Lage trister aus. Hier sind die Höfe alt, die Ackerflächen klein, karg und zersplittert. Mit Traktor sät hier fast niemand, überall pflügen Pferde die Ackerflächen: ein Freilichtmuseum, das lediglich den Fehler hat, kein Museum, sondern die Gegenwart zu sein.

Wie viele der polnischen Bauern und Bäuerinnen den vom EU-Beitritt erzwungenen Modernisierungsschub überleben werden, ist ungewiss. Von optimistischen dreissig bis herunter zu pessimistischen zehn Prozent reichen die Schätzungen. Doch selbst wenn die OptimistInnen Recht behalten sollten, wird das Bauernsterben gross sein: Noch gibt es in Polen rund 1,4 Millionen Bauernhöfe, selbst wenn ein Drittel davon tatsächlich die nächsten Jahre überlebt, bedeutet das immer noch den Tod von fast einer Million Landwirtschaftsbetrieben. Irland hat diesen Weg schon vor langer Zeit vorgemacht: Vor dem EU-Beitritt des Landes betrug der Anteil der Bauern und Bäuerinnen an der erwerbstätigen Bevölkerung, ähnlich wie in Polen, 26 Prozent. Nun liegt er bei 8 Prozent.

Von solchen Zahlenspielen weiss Janusz Borek, der bei Krosno gerade sein Feld mit einem Ackergaul pflügt, nichts. Um festzustellen, dass es um seine Zukunftschancen nicht zum Besten steht, braucht er auch keine Prozentsätze. Er zeigt auf durch Hecken geteilte, unbestellte Felder am gegenüberliegenden Hang: «Da drüben wurde früher alles bebaut, jetzt ist es Brachland. Zahlt sich nicht mehr aus. Ich war zum Glück bei der Bahn. Wenn ich meine Eisenbahnerrente nicht hätte - von der Landwirtschaft könnte ich nicht leben.» Warum er das Land dennoch bebaut? Weil das schon immer so war. Und weil er dafür rund 700 Euro im Jahr bekommt. Nicht viel, aber immerhin eine kleine Aufbesserung der Rente.

Die Zuschüsse für die Bauern sind derzeit nicht von der Art der Produktion abhängig, sondern werden pauschal pro Hektar bebautes Land berechnet. Das Geld, so die Überlegung, sollen die Landwirte für die Modernisierung ihrer Höfe verwenden. Doch real werden zwischen sechzig und achtzig Prozent der Beihilfen statt für Modernisierung für den aktuellen Konsum verwendet. Die kleinen Bauern verbrauchen ihre Beihilfen meist vollständig, um akute Finanzlöcher zu stopfen.

Das grosse Los

Was auch nicht verwundert: Während die allgemeinen Lebenshaltungskosten in ganz Polen mehr oder minder gleich schnell steigen, ist das verfügbare Einkommen äusserst unterschiedlich verteilt. So hat in der Hauptstadt Warschau die durchschnittliche Kaufkraft der Bevölkerung bereits siebzig Prozent des EU-Schnitts erreicht, in den landwirtschaftlich dominierten Regionen des Ostens und Südostens liegt sie gerade bei dreissig Prozent. Und während im gesamtpolnischen Schnitt jedeR Fünfte aus Geldnot schon einmal im Geschäft anschreiben liess, so trifft das am Dorf auf jedeN Zweiten zu.

Eine Reduktion der Landwirtschaft, die offensichtlich nicht mehr imstande ist, die Menschen zu ernähren, bleibt im Kampf gegen die Armut dennoch bestenfalls die halbe Lösung. Denn gerade dort, wo in den nächsten Jahren die meisten Höfe aufgegeben werden müssen, ist es um Ersatzarbeitsplätze am schlechtesten bestellt. 18,1 Prozent beträgt gegenwärtig die polnische Arbeitslosigkeit, und sie ist ähnlich ungleich verteilt wie der Reichtum: Während in Warschau nahezu jedeR früher oder später einen Job findet, ist in der Provinz schon ein Platz am Fliessband in der Verpackungshalle der nächstgelegenen Fabrik gleichbedeutend mit dem grossen Los. Wer Arbeit braucht, versucht daher zu fliehen: «Das blaue Haus unten - der Mann arbeitet irgendwo in Österreich. Das braune Haus da drüben am Dorfrand - die beiden Söhne sind in Deutschland, beim Bau», sagt Janusz Borek. Und dann fügt er etwas hilflos hinzu: «Aber es können doch nicht alle auswandern!»

Das urbane Polen der Medien und der Politik versucht die prekäre Lage auf dem Land zu verdrängen. «Die negativen Szenarien haben sich nicht erfüllt. Der polnische EU-Beitritt ist in jeder Hinsicht eindeutig positiv zu bilanzieren», urteilt etwa Jan Truszczynski, Chefverhandler während der polnischen Beitrittsgespräche. Polens Zeitungen wiederum werden nicht müde, den EU-Beitritt und die damit verbundenen Geldleistungen aus Brüssel immer wieder als die grosse Chance für die Bauern darzustellen. Gern werden Reportagen ins Blatt gerückt, die Landwirte porträtieren, denen es dank EU-Subventionen gelang, ihre Höfe zu modernisieren. Die Propaganda funktioniert tadellos: Wie eine Untersuchung des Warschauer Meinungsforschungsinstituts SMG/KRC vom April zeigt, gelten in Polen die Bauern und Bäuerinnen als die grössten NutzniesserInnen des EU-Beitritts - nur die PolitikerInnen haben in der öffentlichen Meinung noch mehr profitiert.

Viel Bürokratie, wenig Verträge

Tadeusz und Anna Sikora gehören ohne Zweifel zu jenen, deren Hof dem medial vermittelten Bild vom erfolgreichen, EU-reifen Landwirtschaftsbetrieb recht nahe kommt. Mit 64 Milchkühen und 61 Stück Jungvieh sowie 90 Hektar Land gehören sie im Umland der Grenzstadt Cieszyn zu den Erfolgreichsten. Sie haben schon Anfang der neunziger Jahre alle EU-Normen erfüllt und konnten daher bald schon den polnischen Ableger des Grosskonzerns Danone mit Milch beliefern.

Auf die Vorzüge der EU angesprochen, reagiert Tadeusz Sikora dennoch zurückhaltend: «Ein Jahr ist viel zu kurz, um etwas sagen zu können. Bislang hatten wir Glück, nach dem Beitritt sind die Milchpreise tatsächlich etwas in die Höhe gegangen. Davon haben wir profitiert. Doch mit den Subventionen ist nicht alles so rosig, wie es uns versprochen wurde. Aber ich muss jetzt aufs Feld, fragen Sie meine Frau, die ist drüben im Stall.» Auf die Frage, was denn faul sei an den EU-Subventionen, hat Anna Sikora gleich mehrere Antworten parat - die Bürokratie, die verspäteten Auszahlungen und schliesslich etwas, das sie ganz besonders ärgert: «Wir haben dreissig Hektar eigenes Land und sechzig Hektar in Pacht. EU-Geld gibt es aber nur für unsere dreissig Hektar, für den Rest kassieren die Besitzer, obwohl die nicht einen einzigen Tag im Feld arbeiten.» Wegen dieser Regelung will kaum ein Grundstückseigner einen offiziellen Pachtvertrag abschliessen, denn dann gingen die Subventionen an den Pächter. Im Fall der Sikoras wären das immerhin fast 5500 Euro im Jahr.

Das Problem mit den Subventionen, die an Leute ausbezahlt werden, die gar nicht von der Landwirtschaft leben, kennt natürlich auch der zuständige Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, Jerzy Pilarczyk. Um die Gesetzeslage zu rechtfertigen, greift der Sozialdemokrat zum geflügelten Wort vom «heiligen Recht auf Eigentum» und ergänzt: «Aber natürlich weiss ich, dass das für viele ein unbefriedigender Zustand ist.» Er ist es in der Tat. «Wir haben ja versucht, die Pacht schriftlich zu regeln», sagt Anna Sikora, «aber das hat nur zu Streit und Gerede im Dorf geführt.»

Wo bleibt das versprochene Geld?

Trotzdem: Schwarz malen will Anna nicht. Und für die Verspätungen bei der Auszahlung der EU-Beihilfen macht sie auch nicht die Union verantwortlich: «Dass die Subventionen mit solcher Verspätung ausbezahlt werden, das liegt nicht an Brüssel, sondern an unseren Politikern, die sind einfach unfähig, das flott zu organisieren.» Um die Bauern und Bäuerinnen zu einem Ja bei der Abstimmung über den EU-Beitritt zu überzeugen, hatte Polens Regierung versprochen, dass die Agrarsubventionen in Zukunft mindestens 55 Prozent dessen ausmachen würden, was in der «alten EU» derzeit pro Hektar an die Landwirte überwiesen wird. Da Brüssel aber vorläufig nur 25 Prozent zahlen wollte, einigte man sich letztlich darauf, dass die Differenz aus dem polnischen Staatshaushalt kommen soll. Nun hat der Finanzminister erhebliche Mühe, das grosszügig versprochene Geld auch rechtzeitig flüssig zu machen.

Anders als die BesitzerInnen von kleinen und mittleren Höfen sind Anna und Tadeusz Sikora überzeugt, dass sie auch in Zukunft von ihrer Landwirtschaft leben können. «Später sollen die Kinder den Hof übernehmen», sagt Anna optimistisch. Es ist allerdings ein Optimismus mit Einschränkungen: «Der Jüngere lernt gut. Vielleicht sollte er einmal Tierarzt werden. Dann hat er mit Landwirtschaft zu tun und doch einen sicheren Beruf.»

Gab es eine Alternative?

Rund eine Million polnischer Bauernhöfe sind in ihrer Existenz bedroht. Versuche, Gegenkonzepte zur fraglosen Übernahme von EU-Regelungen zu entwickeln, wurden bislang stets mit dem Hinweis weggewischt, sie würden das übergeordnete Ziel der europäischen Integration gefährden. Dabei wären gerade in Polen die Voraussetzungen für einen grossflächigen Umstieg auf biologische und nachhaltige Landwirtschaft sehr gut: Noch ist die Struktur der polnischen Landwirtschaft von bäuerlicher, nicht-industrieller Produktion dominiert.

Um Polen zu einem Vorreiter in regionaler und ökologischer Versorgung mit Lebensmitteln zu machen, hätte Polens Regierung allerdings härter mit Brüssel verhandeln und auch das derzeitige Beihilfenmodell in Frage stellen müssen. Zur Zeit profitiert davon nämlich vor allem die Agrarindustrie: Weniger als zwanzig Prozent der ProduzentInnen kassieren in der EU mehr als achtzig Prozent der Beihilfen. Ebenso fragwürdig sind die von Brüssel festgelegten Produktionsobergrenzen, die den Konzentrationsprozess weiter beschleunigen. Gewiss, der Aufbau von ökologischen Strukturen hätte zumindest vorübergehend Geld und einen Schutz der heimischen Produktion (etwa durch Einfuhrzölle) erfordert, aber er wäre denkbar gewesen. Dass ein solches Programm nicht mehrheitsfähig wurde, liegt auch daran, dass die Linke die Prosteste gegen die EU-Agrarpolitik fast gänzlich national-konservativen Gruppen überlassen hat. Und die propagierten vor allem das Bewahren des Bestehenden.

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