Die Fichenaffäre: Vorsichtshalber verdächtigt
Wie war das mit der politischen Polizei in der Schweiz? Die Spurensuche mit Catherine Weber dokumentiert die Dynamik einer Bewegung und die Folgen willkürlicher Überwachung.
900 000 potenzielle GedankenverbrecherInnen – als vor 25 Jahren aufflog, dass die Schweizer Bundespolizei inflationär und illegal Menschen aufgrund ihres sozialen und politischen Engagements überwacht und registriert hatte, war ich sechsjährig. Später konnte ich die Empörung zwar nachvollziehen, fand sie aber leicht heuchlerisch: Schliesslich entstanden zwischenzeitlich Hooligan-Datenbanken, Telefonregister von MigrantInnen und Listen von Wef-DemonstrantInnen. Wo blieb da der kollektive Aufschrei? Ruhig blieb es auch jüngst angesichts neuer Fichen, geplanter Verschärfungen am Nachrichtendienstgesetz oder publik gewordener NSA-Skandale. Protestiert wird leise, gerne in sozialen Netzwerken – jenem Ort, wo alle ihre eigene kleine Fiche anlegen können.
Was hat sich verändert? Wieso zerfiel der Protest? Und wer hat damals gekämpft, gelitten und gewonnen? Zeit für etwas Nachhilfe aus erster Hand, gefunden bei Catherine Weber. Die Gewerkschafterin war vom Anfang bis zum bitteren Ende Sekretärin des Initiativkomitees Schluss mit dem Schnüffelstaat, das 1990 als Antwort auf den Fichenskandal ins Leben gerufen wurde. Noch heute analysiert sie Fichen und Hintergründe, schreibt Artikel und beschäftigt sich mit Grundrechten. In ihrem Berner Büro von grundrechte.ch stapeln sich Aktenberge, Archivschachteln und natürlich sämtliche Ausgaben des «Fichen-Fritz», des analogen «Newsletters» von damals.
In der Mitte wartet eine «Aufstellung der geheimen Dossiernummern» samt Namen, erarbeitet von Komiteemitglied und WOZ-Journalist Jürg Frischknecht. Vor mir das totalitäre Bild einer Behörde mit beängstigenden Sehstörungen auf dem rechten Auge. Das Erschreckendste: der Vermerk «V» für Verdächtige neben den Namen von politisch als «gefährlich» eingestuften Menschen, die im Krisen- oder Kriegsfall hätten interniert werden sollen.
Dunkle Wolken über der Demo
Mit den Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zur bundespolizeilichen «Sammelwut» 1989 rollte eine Welle der Solidarität und Empörung über die Schweiz. «Viele haben es geahnt, doch als es schwarz auf weiss auf dem Tisch lag, sind die Ausmasse erschreckend klar geworden», sagt Weber. Der «Fichen-Fritz» rief zur Demo auf, und 35 000 Leute kamen und kämpften am 3. März 1990 für die Abschaffung der Schnüffelpolizei, das Recht auf Akteneinsicht und eine zweite PUK. «Ein unglaubliches Erlebnis», erinnert sich Weber. «Wohl eine der grössten und kreativsten Demos, die Bern je gesehen hat.»
Etwa tausend Personen mieden den friedlichen Protest und nahmen stattdessen die Fensterscheiben, Büros und Aktenschränke der Bundesanwaltschaft ins Visier – am Ende brannten Autos. «Aus Sicherheitsgründen mussten wir abbrechen», sagt Weber. «Franz Hohler übernahm das anstelle seiner Rede.» Ein schlimmer Moment für die AktivistInnen und ihr Anliegen: Rauchwolken am Horizont, die «Tagesschau» habe von «Zuständen wie in Beirut» gesprochen. Mein Eindruck: Entweder war es bürgerkriegsähnlich krass, oder das Schweizer Fernsehen ist braver geworden. Nach dem «Standortfucktor»-Desaster (siehe WOZ Nr. 39/13 ) titelte jedenfalls niemand «Winterthur: der Gezipark der Schweiz».
Ernüchterung nach neun Jahren
Von 1990 bis 1998 erschienen insgesamt 33 «Fichen-Fritze», das wichtigste Kampagnenorgan zur «S.o.S.-Initiative» – Schweiz ohne Schnüffelpolizei. Die Auflage schrumpfte jedoch von anfangs 300 000 auf zuletzt 8000 Exemplare. Viele kapitulierten, Weber nicht. Das Ende der Zeitung mit dem schlapphütigen Maskottchen Schnüffi auf der Frontseite kam mit der verlorenen Abstimmung, die zuvor vom Parlament sieben Jahre lang verschleppt worden war. Seither ist die staatliche Überwachung «demokratisch legitimiert».
Entsprechend bitter liest sich die letzte Ausgabe: «Der Abstimmungssonntag vom 7. Juni zeigt den höchsten Grad von Unwissenheit und Ignoranz in unserer Gesellschaft», sagt etwa die Zürcher Schriftstellerin Isolde Schaad in der Umfrage. Und Barbara Gysi, damalige Parteisekretärin der SP St. Gallen und mittlerweile für selbige im Nationalrat, kommentiert resigniert: «Einmal mehr zeigt sich das kurze Gedächtnis der SchweizerInnen – der Fichenskandal war bereits wieder vergessen und verdrängt.»
Auf der Titelseite – ebenfalls mit Vorwürfen, allerdings an die eigenen Reihen – wirft Paul Rechsteiner, PUK-Mitinitiant, Komiteemitglied und damals noch Nationalrat, einen Blick zurück: «Die Partei, der ich selber angehöre, unternahm zwar noch am meisten, doch sie war beispielsweise nicht einmal imstande, im Zusammenhang mit dem später an 200 bis 300 Unterschriften gescheiterten Referendum gegen das Staatsschutzgesetz (…) auch nur einen Versand an die eigenen Mitglieder durchzuführen.» Wie er wohl heute denkt, wenn die SP die Verschärfungen des neuen Nachrichtendienstgesetzes durchwinkt?
Den Boykott des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft durch Kulturschaffende (1991) habe ich auch verpasst. Erst mit vierzehn hörte ich 1998 von der Fichenaffäre. Kein Wort über die Tragweite der Präventivüberwachung oder den Kampf für Grundrechte. Stattdessen beschäftigten uns im Unterricht die «Stasi-Nachbarn» in der ehemaligen DDR. Das sagt einiges darüber aus, wie schnell die helvetische Empörung damals verpufft ist. Weber erklärt das mit der «Belanglosigkeit». Viele Fichen hätten sich unspektakulär gelesen, auch ihre eigene. Überrascht und erschüttert sei sie dennoch gewesen. Einerseits ob der Willkür des Gesammelten, andererseits über das Ausmass der Schnüffelei. «Ich fands das Hinterletzte!», schimpft sie und blättert in den Kopien ihrer Fichen der Stadt Zürich und des Bundes. Dort steht zum Beispiel «22. 8. 86, WoZ Nr. 34: Kurzinterview mit ihr betr. Asylgesetz-Referendumskomitee. Sie ist Koordinatorin des nationalen Sekretariats der Referendumskomitees, eigene Mappe, ziegelrot.»
Die Schreibmaschinenprotokolle gespickt mit schwarzen Balken, darunter die Namen von InformantInnen, ProtokollantInnen oder anderen Überwachten. Realsatire an manchen Stellen. Eine normale Reaktion, bestätigt Weber. «Alles halb so schlimm, dachten auch viele Fichierte.» Tragisch daran: Die Bewertung von «schlimm» oder «halb so schlimm» übernahmen fremde Richter. Und für manche ergab einiges plötzlich Sinn: verlorene oder gar nicht erst gefundene Arbeitsplätze, Misstrauen, kaltgestellte Freundschaften oder absurde Anschuldigungen – typische Folgen willkürlicher Überwachung. Weber kennt die Opfer, beispielsweise den reiselustigen Übersetzer, der nie befördert wurde und den Grund dafür in seiner Fiche fand: Ein Verwandter hatte ihn aufgrund seiner Chinareise angeschwärzt.
Linke Fichen-Credibility?
Und die Kehrseite? Schliesslich gab es ja durchaus Fichierte, die den Skandal für sich zu nutzen wussten. «Ich habe zwar nicht klassisch Karriere gemacht, doch mein Engagement wirkte sich schon positiv aus», bekennt Weber. «Allerdings hätte ich den Bekanntheitsgrad politisch wohl besser nutzen können.» Anderen gelang das beispielhaft, scheint es. Oder hätte es ohne PUK einen Bundesrat Moritz Leuenberger gegeben? Wären Paul Rechsteiner, Georg Kreis, Hanspeter Thür, Alexander Tschäppät oder Susanne Leutenegger Oberholzer heute dieselben? Oder zugespitzt: Waren Fichen eigentlich Statussymbole in linken Kreisen?
Gelächter. «Natürlich gab es Unfichierte, die darüber enttäuscht waren», sagt Weber. «Es zeigt jedoch, wie unsystematisch die Bundespolizei vorgegangen ist. Wenigstens haben wir dank dem nun eine etwas willkürliche Chronik der sozialen Bewegungen ab 1900.» Aber ja; die Frage «Und wie viele Kilogramm hast du?» habe sich in gewissen Kreisen zu einer Art Running Gag entwickelt. Fragwürdige Ironie in Webers Augen. Wie auch das Bonmot «trinkt abends gern ein Bier» aus Nationalrätin Menga Danusers Akte. «Das ist pure Verharmlosung und zieht die politische Überwachung ins Lächerliche.» Für Weber ein weiterer Grund für den Zusammenbruch der Bewegung.
Hoffen auf weitere Enthüllungen
«Mitverantwortlich für die Abstimmungsniederlage 1998 ist auch die SP», kritisiert Weber. «Damals war sie zwar noch weniger zahm, dennoch hat sie es versäumt, die Basis zu mobilisieren.» Dabei sei diese tendenziell progressiver eingestellt als ihre GenossInnen in politischen Ämtern und sehr wohl zu bewegen. Davon ist sie überzeugt.
Mit der Digitalisierung wird auch das Schnüffeln bequemer. Weber schätzt die Lage zunehmend bedrohlicher ein. Infrastrukturen und Vernetzung seien massiv besser und tilgten die Willkür. «Eigentlich unglaublich», klagt sie. «Wie gross muss eine Gefahr für die Demokratie werden, bis sich jemand wehrt?» Selbst Snowdens Enthüllungen hätten vergleichsweise wenig Aufruhr verursacht. Fragen, die sich mir ebenfalls stellen. Auch weil «wir Digital Natives» Lösungen liefern könnten. Blöd nur, dass wir «virtuelle ExhibitionistInnen» sind. Oder auf dem Weg dorthin. Akzeptieren wir, dass «youglebook» (Youtube, Google, Facebook) mehr über uns weiss als wir selbst? Braucht es eine Katastrophe, damit über Grundrechte diskutiert wird? Weber winkt ab. «Hoffentlich lässt Snowden noch die eine oder andere Bombe platzen. Ich bin überzeugt, dass auch soziale Bewegungen wie Greenpeace oder Attac überwacht werden. Sollte das rauskommen, würde es die Leute aufrütteln. Wer weiss, was dann passiert.»
Gute Frage … Heute organisiert man sich nicht mehr via «Fichen-Fritz», sondern auf Facebook. Die Skandale und AktivistInnen von gestern sind schnell vergessen, die Halbwertszeit von Occupy kaum länger als ein paar Mausklicks. Nur überwacht wird noch fleissig. Tuts nicht der Staat, dann bestimmt eine App.
Verschleppen und verdrängen
Am 28. November 1989 präsentierte eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK), geleitet vom damaligen Nationalrat Moritz Leuenberger, ihre Resultate zur Fichierung in der Schweiz. Fazit: Die Bundespolizei hatte ohne gesetzliche Grundlage über Jahrzehnte Hunderttausende von BürgerInnen bespitzelt und über zehn Prozent der Gesamtbevölkerung fichiert.
Am 3. März 1990 demonstrierten 35 000 Menschen vor dem Bundeshaus für ihr Recht auf Akteneinsicht. Wer ein Gesuch einreichte, erhielt schliesslich Kopien seiner Fichen, auf denen die Namen von Drittpersonen abgedeckt wurden, um die Identität der InformantInnen geheim zu halten. Registriert wurden Linke, Alternative, Grüne, Drittwelt- und Friedensbewegte, Frauenbewegungen, FremdarbeiterInnen und Anti-AKW-Bewegungen; es gab auch ein «Zigeunerarchiv».
Eine Woche nach der Grossdemonstration beschloss das Parlament eine zweite PUK zum Militärdepartement, nachdem bekannt geworden war, dass der militärische Nachrichtendienst (UNA) ebenfalls eine Fichenkartei führte. Im November 1990 präsentierte die PUK-EMD ihre Erkenntnisse über die Geheimarmee P26 und den geheimen Nachrichtendienst P27 – militärische Strukturen, die mit der europäischen Geheimorganisation Gladio in Kontakt standen. Als Reaktion auf die Fichenaffäre rief die WOZ 1990 zusammen mit der Gruppe Olten die Kulturschaffenden auf, die 700-Jahr-Feier der Schweiz zu boykottieren.
Im März 1997 verabschiedete das Parlament das Staatsschutzgesetz. Das Referendum scheiterte, nachdem eine Nachzählung ergeben hatte, dass von den nötigen 50 000 Unterschriften 249 fehlten. Nachdem das Parlament sie sieben Jahre verschleppt hatte, wurde die Volksinitiative «S.o.S – Schweiz ohne Schnüffelpolizei» bei der Abstimmung am 7. Juni 1998 mit 75,4 Prozent Nein-Stimmen verworfen.
Ruth Wysseier