Susanne Leutenegger Oberholzer : Eine gegen alle

Nr. 26 –

Keine Parlamentarierin steht so weit links wie Susanne Leutenegger Oberholzer. 2015 wird sie die einflussreichste Wirtschaftspolitikerin des Landes sein. Mit ihrer Hartnäckigkeit und Radikalität polarisiert sie wie kaum eine andere. Doch zuweilen steht ihr ihr Eigensinn im Weg.

Man sagt, sie sei politikversessen: Aber kann man einer Politikerin vorwerfen, sie mache zu viel Politik?

Als ihr Name über die Lautsprecher tönt, geht ein Raunen durch den Saal. Der Nationalratspräsident schwingt die Klingel. Ruhe im Saal! Niemand mag hören, was sie sagt. Und verlieren wird sie auch. Das weiss sie, aber es ist ihr egal. «Wer ans Verlieren denkt», sagt Susanne Leutenegger Oberholzer, «der ist in der Politik am falschen Ort». Die Buhrufe treiben sie an. Das ist nach ihrem Geschmack: Alle gegen eine, eine gegen alle – endlich mal ein bisschen Zoff in diesem Laden.

In der Politik gibt es zwei Typen: jene, die den Kompromiss suchen, selbst wenn es ihnen nicht ganz passt; sie fallen der Integrationskraft des Bundeshauses zum Opfer und beginnen irgendwann beim Ausgleich, noch bevor sie eine Auseinandersetzung hatten; sie sind die Harmoniesüchtigen, die Wohlfühljunkies. Und dann gibt es Susanne Leutenegger Oberholzer.

Seit bald zwanzig Jahren sitzt die 66-jährige gebürtige Churerin im Nationalrat: von 1987 bis 1991 für die Progressiven Organisationen (Poch) und seit 1999 für die SP. Mit ihrer kompromisslosen Art gehört Susanne Leutenegger Oberholzer zu den aussergewöhnlichsten Politikerinnen in Bern. Sie ist hartnäckig wie kaum eine andere. Und sie hat sich, der Konsensmaschine Bundeshaus zum Trotz, nicht korrumpieren lassen. Wenn sie einen Knochen zwischen den Zähnen hat, lässt sie nicht mehr los.

Politik sei das Bohren dicker Bretter, heisst es. Susanne Leutenegger Oberholzer sucht sich immer die dicksten aus: Als Landrätin im Baselbiet setzte sie sich für die Gleichstellung von Mann und Frau ein, als Anti-AKW-Aktivistin forderte sie die Stilllegung der Atomkraftwerke, als GSoA-Mitglied die Abschaffung der Armee. Mitte der neunziger Jahre wetterte sie bereits gegen den «Casino-Kapitalismus», lange vor New-Economy-Blase und Hypothekenboom in den USA. Als Nationalrätin kämpft sie gegen Abzocker und das Steuerhinterziehungsgeheimnis.

Sie übt Kritik, an allem und jedem, nicht zuletzt auch an sich selbst und dem, was sie repräsentiert: Die SP? Zu wenig konfliktfreudig. Die Gewerkschaften? Zu strukturkonservativ. Die Frauen? Zu brav.

Peter Bodenmann, der ehemalige Parteipräsident und ihr enger Weggefährte, sagt über sie: «Die gute Susanne ist so etwas wie ein Echo aus der Vergangenheit» – als die Sozialdemokratie vitaler war, streitlustiger, mutiger, meint er damit – «oder vielleicht auch ein Echo aus der Zukunft.»

2015 wird Susanne Leutenegger Oberholzers Karriere als Politikerin eine Krönung erfahren, wenn alles klappt: Bestätigt sie die basellandschaftliche Stimmbevölkerung als Nationalrätin, übernimmt sie nächstes Jahr das Präsidium der prestigeträchtigen Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Es wäre eine politisch symbolhafte Ernennung zur obersten Wirtschaftspolitikerin des Landes: Auf Ruedi Noser, den freisinnigen Bankgeheimnisverteidiger und Antisozialpartner, würde die mit Abstand linkste Nationalrätin, die Antiabzockerin, der Schrecken des Finanzplatzes folgen. Danach könnte sie sich aus dem Nationalrat verabschieden, einer jüngeren Frau noch während der Legislaturperiode ihren Platz überlassen. Ein guter Plan, ein würdiges Ende einer langen Politkarriere.

Doch beinahe wäre alles schiefgegangen.

Politik, was sonst?

Susanne Leutenegger Oberholzer wäre es am liebsten, dieser Text würde nie geschrieben. Porträts sind ihr ein Gräuel. «Wie Striptease», sagt sie, als wir einmal im Zug von Bern nach Liestal fahren. Im Gepäck hat sie einen Stapel Akten und Studien: Steuerstrafrecht, Geldwäschereibekämpfung – ihre Lektüre für Pfingsten. Während die meisten ParlamentarierInnen am langen freien Wochenende die Sonne geniessen, wälzt sie Gesetzestexte und verfasst Papiere. Manchmal fürchtet Susanne Leutenegger Oberholzer, die Kontrolle zu verlieren. «Ich habe das Gefühl, dass man gewisse Sachen nicht in den Griff kriegt. Dass man gar nicht mehr nachkommt mit der Politik. Wir rennen der Aktualität ständig hinterher. Und dann kommt mir nachts plötzlich in den Sinn: Edward Snowden! Was machen wir da?»

Ihre FraktionskollegInnen sind längst beim Essen. Aber Susanne Leutenegger Oberholzer schreibt in der Wandelhalle an ihrem Sessionsbericht.

Ihr Rezept dagegen ist das Verfassen von Papieren. Schreiben, sagt sie, zwinge einen, die Gedanken zu ordnen. «Sonst bleibt alles beliebig.»

Frau Leutenegger Oberholzer, wer sind Sie? Roger Schawinski hat sie schon mehrfach für ein Interview in seiner Sendung angefragt. Sie hat immer abgesagt. Auch bei «Giacobbo/Müller» war sie nie. Leutenegger Oberholzer mag es nicht, wenn ihre Person im Vordergrund steht. Sie spricht nicht gern über sich, das sollen andere tun. Es gibt den Menschen hinter der Politikerin: Sie unternimmt viel mit ihrer Schwester, ihrer engsten Vertrauten. Sie reist gern; nach ihrer politischen Karriere will sie nach Osteuropa und nach Südamerika, im VW-Bus, campend. Aber sie weiss das Private gut zu schützen, wahrt die Distanz. Lieber redet sie über Politik. Was sonst?

Wir treffen uns auf Zugfahrten, im Bundeshaus, in ihrem Büro – und obwohl sie sehr darauf bedacht ist, sich Zeit für Gespräche zu nehmen, ist ihr die Sache nicht geheuer. Die Artikel, die über sie erscheinen, liest sie in der Regel nicht. Sagt sie zumindest. Den medialen Auftritt sucht sie nur, wenn es um Sachfragen geht. Die TechnokratInnen sind ihr am liebsten, gesellschaftlichen Anlässen geht sie aus dem Weg.

Wer ist diese Frau, der man nachsagt, sie sei politikversessen? Wobei in diesem Wort etwas Seltsames mitschwingt: Kann man einer Politikerin vorwerfen, sie mache zu viel Politik? Woran soll man sie sonst messen? An ihrer Qualität als Unterhalterin? An der Anzahl Freunde?

Als Susanne Leutenegger Oberholzer noch im Nebenamt Kantonsrichterin war, hatte sie ein einfaches Rezept, um Fälle zu lösen: Sie erstellte eine Chronologie. «Eine geordnete Reihenfolge der Ereignisse ist die halbe Falllösung», sagt sie.

Chronologie Leutenegger Oberholzer also: 1948 geboren in Chur, aufgewachsen in einem gewerblichen Elternhaus, die Mutter, politisches Vorbild, führt einen Kleiderladen, in dem Leutenegger Oberholzer schon früh aushilft und die Buchhaltung übernimmt. Bereits in der Bündner Kantonsschule Vorträge über das (fehlende) Frauenstimmrecht, 68er-Bewegung, Proteste gegen den US-Krieg in Vietnam. Studium der Volkswirtschaft in Basel. Eintritt in die Poch. Nach dem Lizenziat: wissenschaftliche Mitarbeit bei Coop Schweiz, Wirtschaftsredaktorin der «National-Zeitung», Konsumentenpolitik bei Coop. Lokal- und Kantonalpolitik im Baselbiet. 1987 Wahl zur Nationalrätin für die Poch. Nach vier Jahren Ausstieg aus der nationalen Politik. Zweites Studium als über Vierzigjährige: Jus, mit anschliessender Anwaltsprüfung, im ersten Anlauf bestanden. 1999 Wiedereintritt in die nationale Politik.

Niemals nachgeben

Politisch geprägt hat Susanne Leutenegger Oberholzer die Rückständigkeit der Schweiz. Ihr Vater versuchte, sie am Besuch der Kanti zu hindern. Als sie 1968 volljährig wurde, blieb sie als Frau ohne Stimmrecht. Sie wehrte sich gegen die Fremdbestimmung und landete in der Politik. Ihr Freiheitsdrang formte die staatskritische Haltung, ihre Empörung über soziale Ungerechtigkeit machte sie zur Anti-Establishment-Politikerin. Sie komme aus einer Kultur der Minderheit, sagt Leutenegger Oberholzer: «Aber man kann gewinnen, wenn man kämpft. Verliert man, muss man nachdoppeln. Sonst hätten wir heute keine Mutterschaftsversicherung, kein Frauenstimmrecht. Im Parlament ist es wie mit einem Punchingball: Man schlägt darauf ein, aber er schwingt wieder zurück. Sie dürfen nur nie nachgeben. Das Kapital gibt auch nicht nach.»

Von Hans Magnus Enzensberger stammt der Satz «Der Eintritt in die Politik ist der Abschied vom Leben, der Kuss des Todes». Das tönt sehr absolut, besonders in der Schweiz, wo der Mythos des Milizsystems hochgehalten wird und das Wort «Berufspolitiker» etwa so beliebt ist wie ein EU-Beitrittsgesuch.

Für Susanne Leutenegger Oberholzer trifft er ein Stück weit zu. Wenn sie mit leiser Stimme von ihrem Leben erzählt, klingt das wie eine Aneinanderreihung politischer Ereignisse: Ihren Exmann lernte sie in den siebziger Jahren auf den Anti-AKW-Demonstrationen gegen Kaiseraugst und Gösgen kennen. In die SP trat sie ein, als Ruth Dreifuss am 10. März 1993 zur ersten sozialdemokratischen Bundesrätin gewählt wurde. Ihre Kinderlosigkeit verbindet sie mit der politischen Debatte über die Präimplantationsdiagnostik. Als sei es gestern gewesen, ist ihr das Grounding der Swissair 2001 in Erinnerung, als der Bundesrat in den Ferien war, während sie die Versammlungen des Kabinenpersonals besuchte. Damals hat sie gelernt: Man muss mit den Leuten im Betrieb reden, nicht mit den PolitikerInnen.

Die «Vorstoss-Königin»

Susanne Leutenegger Oberholzer ist ein «animal politique»: Politik ist ihr Leben, ihr Leben ist Politik. Schon immer. Als sie 1987 zum ersten Mal in den Nationalrat gewählt wurde, war die Wandelhalle noch nebelverhangen vom blauen Dunst der qualmenden ParlamentarierInnen. Sie selbst rauchte eineinhalb Schachteln am Tag, sass für die Poch im Nationalrat, eine Reihe vor den sozialdemokratischen Schwergewichten Peter Bodenmann und Paul Rechsteiner, die ihr über die Schultern sahen und «blöde Sprüche» machten. «Zwei Supermachos», sagt sie heute, Nichtraucherin seit zwei Jahren und mittlerweile selbst Urgestein der SP. Die meisten ihrer MitstreiterInnen von damals sind längst aus der Politik ausgeschieden, mit 66 Jahren gehört sie zu den älteren Semestern im Parlament. Aber das merkt man ihr nicht an.

Sie ist ständig unterwegs, arbeitet so viel wie kaum jemand in ihrer Fraktion, reicht Vorstoss um Vorstoss ein, unbändig wie eh, kein bisschen abgeschliffen oder eingeseift von Jahren der Kumpanei und der gelegentlichen Schulreiseatmosphäre im Berner Bundeshaus. Für soziale Anlässe und parlamentarische Veranstaltungen hat sie wenig übrig – es sei denn, sie dienten der Arbeit. Die vier Sessionen im Jahr erinnern bisweilen an Klassenzusammenkünfte: Man trifft sich, trinkt und plaudert und drückt zwischendurch auf den grünen oder roten Knopf. Für Leutenegger Oberholzer aber sind die Sessionen ein Knochenjob. Oft ist sie unansprechbar; ein Nachtessen unter KollegInnen liegt selten drin.

Stolz zählt sie sich zu den «Vorstoss-Königinnen». Seit 1987 hat sie 549 Vorstösse eingereicht, so viele wie kaum jemand. Zum Vergleich: 1991, als Leutenegger Oberholzer ihre erste Legislaturperiode hinter sich hatte, reichte das Parlament insgesamt 593 Vorstösse ein. Zehn Jahre später waren es 1031, letztes Jahr 1431.

Natürlich, Susanne Leutenegger Oberholzer ist vor allem bekannt als Finanz- und Wirtschaftspolitikerin. Thomas Minders Abzockerinitiative unterstützte sie von Beginn weg, entgegen der Meinung vieler Linker, die in der Stärkung der Aktionärsrechte kein linkes Ansinnen erkennen konnten. «Es steht ausser Frage, dass die Initiative kapitalistisch angelegt war», sagt Leutenegger Oberholzer. Aber sie habe die Abzockerei seit jeher bekämpft. Da wäre es «völlig falsch» gewesen, gegen die Initiative anzutreten. Erst mit Minders Initiative sei das Thema in der breiten Gesellschaft angekommen und werde auch zukünftig diskutiert. Das sei wichtig für die Diskussion um die immer ungerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen.

Aber Leutenegger Oberholzer lässt sich nicht auf ein Dossier festlegen: In ihren Anfängen in Bundesbern war ihr der Umweltschutz ein Herzensanliegen. Heute treibt sie neben dem Finanzplatz vor allem die zunehmende Überwachung um. Auch hier die Parallele zwischen Biografie und Politik: Die Fichenaffäre damals, NSA-Überwachung heute. «Ich erinnere mich noch genau, wie wir an die Taubenstrasse in Bern gingen, um unsere Fichen einzusehen. Das hat mich tief erschüttert.» Die Akten, die die Staatsschützer über sie angelegt hatten, waren allerdings stümperhaft, wie bei den meisten. «Da stand nur Schmarren drin», sagt Leutenegger Oberholzer. Da waren etwa Abschriften von Telefongesprächen mit einem Zürcher Anwalt. Aber dass Leutenegger Oberholzer in den achtziger Jahren fünf Monate in Kuba war, bei einem «solidarischen Arbeitseinsatz», davon war nichts vermerkt. Auch ihr Engagement in der Anti-AKW-Bewegung war den Schlapphüten keine Zeile wert. «Das hätten sie ja wohl aufschreiben müssen, nicht?»

Immer an die Grenze

Unter SozialdemokratInnen erzählt man sich: Wenn das Telefon frühmorgens oder spätnachts noch klingelt, dann ist es mit Sicherheit Susanne Leutenegger Oberholzer, oder «SLO», wie sie sich selbst abkürzt. Wenn sie etwas will, dann ist sie unerbittlich. Sie ruft an, bis man rangeht. Ist der eine Sekretär nicht da, versucht sie es beim nächsten. So lange, bis sie hat, was sie braucht. Wenn sie mitten in einem Thema steckt, kann sie an einem Sonntagnachmittag einen Parteikollegen anrufen und ist dann völlig erstaunt, dass dieser in der Badi sitzt.

Sie ringt lange mit sich selbst, bis sie sich festlegt. Jeder Entscheidung gehen zahlreiche Gespräche voraus, teilweise sehr zum Ärger ihrer KollegInnen.

«Manchmal entsteht der Eindruck, sie versinke im Chaos», sagt der Waadtländer SP-Nationalrat Jean Christophe Schwaab, der ihr an ihrem festen Arbeitsplatz in der Wandelhalle gegenübersitzt. «Aber am Ende bringt sie alles auf den Punkt. Sie kennt die Geschichte, hat ein unglaubliches Gedächtnis und weiss fast alles.»

Als Schwaab 2011 in den Nationalrat gewählt wurde, traf er sich bald mit Leutenegger Oberholzer zum Abendessen. Die beiden bewegen sich in ähnlichen Themenfeldern rund um den Finanzplatz, er für die Romandie, sie für die Deutschschweiz. «Ich dachte, wir würden etwas essen und ein wenig über Politik plaudern. Stattdessen brachte sie einen riesigen Stapel Dossiers mit, über die wir dann diskutierten.»

Leutenegger Oberholzer quält sich und andere mit endlosen Fragekatalogen. Sie erkundigt sich an der Quelle der Information, bestellt sich Berge von Dokumenten, spricht mit Spitzenbeamtinnen und Verwaltungsangestellten, mit Leuten in den Betrieben und an der Basis. Sie versichert sich lieber einmal zu viel, wälzt bis tief in die Nacht Akten.

Auf den ersten Blick wirkt das wie Unsicherheit, aber das wäre ein Missverständnis. In Wahrheit ist es Akribie, Perfektionismus. Und wenn sie sich einmal festgelegt hat, dann überfährt sie jedes Gegenargument wie eine Dampfwalze.

So auch vor einem Jahr, als der Nationalrat die sogenannte Lex USA verhandelte, das Sondergesetz, das den Steuerstreit mit den USA hätte beilegen sollen. Tagelang wägte sie ab, nachts lag sie wach im Bett und kam einfach nicht zu einer Entscheidung. Die SP spielte das Zünglein an der Waage: Sie konnte die Vorlage retten oder versenken.

Susanne Leutenegger Oberholzer sagt, sie komme oft an ihre Grenze, intellektuell und physisch. Aber nur selten stand sie so unter Druck wie letzten Sommer. «Eveline Widmer-Schlumpf bedrohte uns regelrecht. Wir befürchteten, die Banken in ihrer Existenz zu treffen, wenn wir Nein sagten.» Erst nach einem Gespräch mit einem Spitzenbeamten war für sie klar: Das Gesetz war abzulehnen. Sie setzte ihre Meinung gegen alle Widerstände in der SP durch, obwohl sie dafür viel Kritik erntete. Bis zum bitteren Ende: Nach der Abstimmung klappte sie zusammen. Schwächeanfall.

Im Haifischbecken

Ihre Hartnäckigkeit und Vehemenz machen Leutenegger Oberholzer nicht nur beliebt. Sie gilt als kompetent, präzise und äusserst wertvoll für die Partei. Aber ihre Ungeduld, ihre Schroffheit, die manchmal autistisch anmutenden Züge befremden die ParteikollegInnen. Erwischt man sie in einem ruhigen Moment, ist sie sehr zuvorkommend und freundlich. Doch diese Momente sind rar.

So sehr Leutenegger Oberholzer andere beansprucht, wenn sie etwas will, so wenig ist sie ansprechbar, wenn sie um eine klare Position ringt. Wer sie in solchen Phasen von der Seite angeht, wird blitzschnell abgewatscht; dann wirkt sie gehetzt, Anrufe klemmt sie ab, SMS schreibt sie, als wäre jeder überflüssige Buchstabe ein Diebstahl ihrer wertvollen Zeit. Sie selber bestreitet das – dieser Ruf hafte ihr bloss an.

Bei Susanne Leutenegger Oberholzer gibt es kein Dazwischen: Man schätzt sie – oder man erträgt sie kaum. Wobei die meisten erst einmal die Hände verwerfen, wenn man sie auf sie anspricht.

Sie sagt: «Es geht um Konkurrenz. Das Bundeshaus ist ein Haifischbecken. Entweder man frisst – oder man wird gefressen. Glauben Sie mir, ich habe schon viele Leute untergehen sehen. Im Bundeshaus herrscht ein völlig unnatürliches Klima. Jeder muss sich beweisen, steht unter ständiger Beobachtung von Dutzenden Journalistinnen, Lobbyisten und Besuchergruppen. Das ist ein mediales Biotop, das nur unter ganz seltsamen, kontrollierten Bedingungen funktioniert. Ich glaube nicht, dass dieses Klima das Gute im Menschen fördert.»

Letztes Jahr im November hätten Leutenegger Oberholzer die Haie beinahe zerfetzt. Bei der fraktionsinternen Ausmarchung für das WAK-Präsidium, das die SP turnusgemäss 2015 übernimmt, wollte sie ein Teil der SozialdemokratInnen ausbooten. Neben Leutenegger Oberholzer hatten die Fraktionsneulinge Corrado Pardini und Prisca Birrer-Heimo ein Auge auf das Amt geworfen. Fraktionschef Andy Tschümperlin versuchte, die Konsumentenschützerin Birrer-Heimo durchzusetzen. Ein eigentlicher Putschversuch, der für den linken, gewerkschaftsnahen Parteiflügel eine herbe Niederlage bedeutet hätte. Pardini rief Leutenegger Oberholzer an, sagte ihr, er würde sich zurückziehen, wenn sie das Präsidium 2015 übernähme. Leutenegger Oberholzer zögerte. Sie war gekränkt, dass man sie übergehen wollte.

«Sie wollte erst nicht ins Rennen gehen», erzählt Pardini. Er versprach ihr, sie der Fraktion vorzuschlagen. Im Hintergrund nahm er Rücksprache mit ParteikollegInnen. Die Drähte liefen heiss. Am Ende hatte Pardini mehr als zwanzig Namen auf einem Blatt und versicherte Leutenegger Oberholzer, sie werde gewinnen. «Pardini hatte auch Angst vor der entscheidenden Abstimmung», sagt Leutenegger Oberholzer. «Niemand wusste, wie es ausgehen würde. Am Ende war es ein Links-Rechts-Entscheid.»

Mit 26 zu 22 Stimmen setzte sich Leutenegger Oberholzer schliesslich in der Kampfabstimmung durch. Sie war sichtlich gerührt, als sie in der Fraktion eine Dankesrede hielt. «Corrado hat ein Meisterwerk vollbracht», sagt sie rückblickend. Hat sie die Geschichte verletzt, womöglich gar misstrauisch gemacht? «Ich bin nicht nachtragend», sagt Leutenegger Oberholzer, «aber das hat Spuren hinterlassen.» Wichtiger sei aber die symbolische Wirkung der Wahl. Für sie ist es die Bestätigung ihrer klaren politischen Linie: «Ein SVPler sagte mir neulich: Sie sind ganz charmant im Umgang, aber politisch sind Sie eine Katastrophe!»

Eine eigene Tradition

Letzte Woche kam die Fraktion der SP noch einmal zusammen, bevor sie sich in die Sommerferien verabschiedete. Man trifft sich jenseits von Motionen, Postulaten und Interpellationen und geniesst ein gemeinsames Abendessen. Die SozialdemokratInnen machen das nach jeder Session, immer am Donnerstagabend der dritten Woche. Dieses Mal fand das Essen im Restaurant Ringgerberg in Bern statt. Es gab Gazpacho zur Vorspeise, grillierte Lammhuft als Hauptgang (mit Ricotta gefüllte Ravioli an einer Salbeibuttersauce für die VegetarierInnen) und Himbeercharlotte mit Quark zum Dessert.

Eine fehlt – wie immer. Susanne Leutenegger Oberholzer sitzt vor ihrem Computer und geht ihrer eigenen Tradition nach: Sie schreibt am Sessionsbericht, wie sie das seit sechs Jahren immer macht – eine dreiseitige Zusammenfassung der vergangenen drei Wochen Bundeshaus, eine Art Rechenschaft über ihre politische Arbeit.

Am Freitagmorgen muss alles fertig sein. Der Bericht wird 600-mal kopiert, eingepackt und verschickt. Weitere 600 Exemplare verschickt sie per E-Mail. Am Samstag muss der Bericht bei den Leuten im Briefkasten sein. Sie sei es ihren Wählerinnen und Wählern schuldig, sagt Susanne Leutenegger Oberholzer. Vor allem aber auch sich selber.

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