Ein neuer CS-Verwaltungsrat: Der loyale Politmechaniker aus Bundesbern

Nr. 17 –

Jean-Daniel Gerber war 38 Jahre lang im Staatsdienst, davon acht Jahre lang im Wirtschaftsdepartement des Bundes. Jetzt wird er Verwaltungsrat der Credit Suisse. Mutiert der Staatsdiener damit zum Bankenlobbyisten?

Es war der 24. November 2002, drei Uhr nachmittags. Jean-Daniel Gerber, damals 56 Jahre alt, seit fünf Jahren Direktor des damaligen Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF) und schon dreissig Jahre im Staatsdienst, las in seinem Haus am Dorfrand von Jegenstorf bei Bern seiner Familie sein Kündigungsschreiben vor. Es war ein Abstimmungssonntag, und zum ersten Mal in seiner Karriere schien es, als würde der Spitzenbeamte Gerber gegen das Volk verlieren: Bei der Initiative «gegen Asylmissbrauch» der SVP zeichnete sich eine Zustimmung ab. Es war die Zeit, als auf Plakaten überall im Land ein Mann mit schwarzem Bürstenschnitt und dunkler Sonnenbrille durch eine aufgerissene Schweizer Fahne trat.

Gerber, der von sich gerne als «Commis de l’état», als «Gehilfen des Staates» sprach und seine persönliche Meinung stets dem Dienst am Staat unterordnete, ging das zu weit: «Die Initiative hätte faktisch die Abschaffung des Asylrechts bedeutet», sagt er heute, «das konnte und wollte ich nicht umsetzen.» Und da es für einen Staatsgehilfen nach Gerbers Definition in einer solchen Lage nur eines gibt, nämlich den Rücktritt, setzte sich Gerber ins Auto und fuhr ins nahe Bern. Noch am Abstimmungstag wollte er bei seiner damaligen Chefin, der CVP-Bundesrätin Ruth Metzler, seine Demission platzieren.

Protestant unter Katholiken

Als er das Bundeshaus-West betrat, war plötzlich wieder alles anders: Der Kanton Zürich hatte in letzter Sekunde das Resultat gekehrt: 50,1 Prozent Nein, 49,9 Prozent Ja. Gerber fuhr wieder nach Hause. «Die Erleichterung war schon riesengross.» Nie wieder brachte das Volk Gerber bei einer Vorlage, für die er zuständig war, an den Rand einer Niederlage. Ein Jahr später wurde einer der Tätschmeister der Initiative allerdings Gerbers Chef: Die Bundesversammlung wählte Christoph Blocher in den Bundesrat, der übernahm das Justiz- und Polizeidepartement und kündigte grundlegende Reformen im Asylwesen an. Drei Monate später wechselte Gerber, der früher bei der WTO und der Weltbank gearbeitet hatte, ins Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Geht es um Blocher, wird Gerber wortkarg: «Wir sind sehr unterschiedliche Charaktere», sagte er einmal dem Magazin des «Tages-Anzeigers».

Der Einstieg beim Seco gelang Gerber dann nicht nach Wunsch: Als der sonst diskrete Verhandler 2004 mitten im Aufschwung öffentlich einen «Reformstau» in der Schweiz beklagte, von «mangelnder Wettbewerbsfähigkeit» sprach und vor «Verarmung» warnte, die «uns langfristig zum Schlusslicht Europas machen kann», war die Aufregung gross. Für einen Moment schien es, als mache sich Gerber zum Sprachrohr eines Ideologen: Aymo Brunetti, damals schon Chefökonom des Bundes und ein neoliberaler Vordenker, sass im gleichen Amt wie Gerber. «Man hat Gerber dann die Kappe gewaschen», sagt einer aus Bundesbern.

Vierzehn Jahre lang diente der parteilose Protestant unter CVPlerInnen: Neben Ruth Metzler auch unter Arnold Koller, Joseph Deiss und Doris Leuthard. Kurz vor der Pensionierung begrüsste er noch den Freisinnigen Johann Schneider-Ammann im Volkswirtschaftsdepartement. Über seine Chefs verlor er nie ein böses Wort. Loyalität ist ihm wichtig: Im Frühling vor einem Jahr sagte er Radio DRS anlässlich seiner Pensionierung: «Loyalität heisst, dem Chef immer die Wahrheit zu sagen. Sagen, wie man die Situation beurteilt, sagen, welche Lösung man unter verschiedenen bevorzugt, und wenn der Chef eine andere Lösung bevorzugt, heisst es, diese nach bestem Wissen und Gewissen durchzuziehen.» Erscheint einem das völlig falsch: Wiedererwägungsgesuch beim Chef. Entscheidet der Chef wieder gleich und bringt man es trotzdem nicht übers Herz, die Sache durchzuziehen: Rücktritt.

Grossbank mag frühere Chefbeamte

Gerber, bald 66, studierter Volkswirtschaftler, Dr. rer. pol. honoris causa der Universität Bern, gross, schmächtig, Sohn eines Täufers aus dem Jura, seit vierzig Jahren verheiratet mit einer Lehrerin, zwei Kinder und Opernliebhaber, war im heiss drehenden politischen Räderwerk des Bundeshauses ein kühler Mechaniker des Interessenausgleichs. Auch wenn er aufbrausend sein konnte, wie ehemalige MitarbeiterInnen von ihm sagen.

Jetzt wird er morgen Freitag zum Verwaltungsrat der Credit Suisse (CS) gewählt. Die Grossbank mag ehemalige Chefbeamte: Schon Gerbers Vorgänger David W. Syz wechselte 2004 direkt vom Seco in den CS-Verwaltungsrat. Ein Jahr nach Gerbers Pensionierung wäre es schon sein sechstes Mandat: Er präsidiert die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), die auch das Rütli verwaltet. Er steht dem Verein Reintegration ins Heimatland vor, der abgewiesenen Asysuchenden den Wiedereinstieg im Herkunftsland erleichtern will und vom japanischen Tabakkonzern Japan Tobacco International finanziert wird. Er präsidiert den von der Eidgenossenschaft finanzierten Swiss Investment Fund for Emerging Markets, der langfristige Kapitalinvestitionen in Schwellenländern fördert, er sitzt auch noch im Patronatskomitee des Forums christlicher Führungskräfte und im Verwaltungsrat der Schweizer Pharmazulieferfirma Lonza.

Credit Suisse statt Rotes Kreuz

Vom Paradeplatz bis aufs Rütli, von Pharma bis Entwicklungshilfe: Legte man Schweizer Machtverhältnisse auf eine Waage, Jean-Daniel Gerber würde an ihrem Zünglein sitzen. Ruedi Noser, FDP-Nationalrat, Zürcher Finanzplatzfreund und als solcher glücklich über Gerbers Eintritt in die Credit Suisse, sagt: «Ich hatte nie das Gefühl, dass Jean-Daniel Gerber im Bundeshaus rechts oder links von mir sass.» Dann vielleicht über ihm?

Wenn man nachhakt, sagt Gerber oft Sätze wie «Sie können daraus Ihre eigenen Schlüsse ziehen» oder «Es geht mir um Lösungen, nicht um Ideologie». Was will so einer im Verwaltungsrat einer Grossbank? Ist es nicht viel angenehmer, die politische Unbeflecktheit der Nationalwiese zu hüten als mit Walter B. Kielholz (Swiss Re), Peter Brabeck (Nestlé) und dem jungen Jassim Bin Hamad J. J. Al Thani, Vertreter des Emirats Qatar (dem grössten CS-Aktionär) über all die Finanzplatzprobleme zu diskutieren? Der Bank mit über 50 000 MitarbeiterInnen weltweit und einer Bilanzsumme von einer Billion Franken droht nach wie vor eine existenzbedrohende Klage aus den USA. Ob die sogenannte Weissgeldstrategie funktionieren kann, weiss auch niemand so genau. Überall dräut der automatische Informationsaustausch.

«Herr Gerber, wollen Sie jetzt ein zweiter Kaspar Villiger werden?» Er antwortet nur: «Es ist einfacher, dorthin zu gehen, wo das Image gut ist, ins Rote Kreuz etwa oder zur Heilsarmee. Da gehen Sie kein hohes Reputationsrisiko ein. – Aber man müsste jetzt zu Glencore gehen! Dort könnten Sie etwas verbessern!» Um Geld gehe es ihm nicht: «Aber wenn ich Ihnen sage, dass ich die VR-Honorare nach Steuern spende, dann heisst es, jetzt würde ich den Grosszügigen spielen – tue ich es nicht, gibts auch eine Empörung. Ein kleines Dilemma.»

«Ut melius fiat – auf dass es besser werde», sagt Gerber gerne. Was das für die CS heisst, will Gerber aber noch nicht sagen. Die Bonipolitik der Grossbanken und die Problematik des «Too big to fail» hat er in den letzten Jahren öffentlich mit genau so viel Kritik versehen, wie auf dem Zünglein an der eidgenössischen Waage Platz hatte. Trotzdem hat es sich Jean-Daniel Gerber mit der CS nicht leichtgemacht. Eine erste Anfrage vor einem Jahr hatte er abgelehnt. Erst mal Distanz schaffen zwischen Bern und Zürich. Im März dieses Jahres sagte er zu.

In Bundesbern waren darüber einige enttäuscht. Sie halten christlich-gemeinnütziges Engagement mit VR-Mandaten für unvereinbar, oder sie wollen Politik und Wirtschaft generell auseinanderhalten: Die Basler SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger-Oberholzer etwa plant eine Motion für eine Karenzfrist bei Übertritten von ehemaligen höheren Bundesangestellten in die Privatwirtschaft. Auch wenn vielleicht gerade einer wie Jean-Daniel Gerber beweist, dass die Trennung von Politik und Wirtschaft praktisch unmöglich ist.

Nur einer, aber wirklich nur einer, glaubt, dass Gerber der CS mehr schade als nütze. Der Glarner SVP-Ständerat This Jenny: «Wir brauchen mehr Unternehmer in den Verwaltungsräten!» Und ein Bankenlobbyist werde Gerber ganz bestimmt nicht mehr: «Der ist mir noch nie als Drachselchlopfer aufgefallen.»

Jean-Daniel Gerber sagt, er sei kein grosser Karriereplaner gewesen: «Mein Weg hat sich immer aus dem Gehen selbst ergeben.» Meistens scheint er sich dabei an die aktuelle Höhenlinie des helvetischen Konsenses gehalten zu haben.