«Zellgeflüster»: Fische, die entwischen

Nr. 34 –

Was Quantenphysik, Molekularbiologie und Kunst gemeinsam haben.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Quantenphysik die gesamten Naturwissenschaften revolutioniert, indem sie deutlich gemacht hat, dass wissenschaftliche Erkenntnis grundsätzlich begrenzt ist. Bis dahin fasste man die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis nur als ein angenommenes Noch-nicht-Wissen auf, das sich mit der Zeit vermindern lässt, ein Glaube, der - trotz Quantenphysik - auch heute noch weit verbreitet ist.

Beginnen wir mit einer Parabel: Ein Ichthyologe - also ein Fischkundiger - fängt Fische mit einem Netz von fünf Zentimeter Maschenweite. Seine wissenschaftliche Arbeit besteht darin, jeden einzelnen gefangenen Fisch zu vermessen. Nach unzähligen Versuchen postuliert er als Gesetz: Alle Fische sind grösser als fünf Zentimeter. Sein Gesetz ist unanfechtbar, weil es jederzeit reproduziert werden kann. Trotzdem regt sich Widerspruch; ein Metaphysiker sagt zu ihm: «Das Gesetz stimmt nicht. Das Universum des Meeres umfasst bedeutend mehr Fische, weil all jene hinzukommen, die durch dein Netz geschlüpft sind.» Darauf entgegnet der Ichthyologe: «Doch, das Gesetz stimmt. Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch. Es ist kein Objekt von der Art, wie der Fisch in der Fischkunde definiert wird.» Natürlich besteht zwischen den beiden Behauptungen kein prinzipieller Widerspruch, die beiden urteilen nur von unterschiedlichen Standpunkten aus. Die Welt des Ichthyologen ist präzise und messbar, diejenige des Metaphysikers hingegen voller Unsicherheiten und vager Spekulationen.

Der deutsche Quantenphysiker Hans-Peter Dürr zitiert diese Parabel oft. Sie veranschaulicht seine Grundthese, die Naturwissenschaften entwickelten zwar immer raffiniertere Netze zur Erfassung der Wirklichkeit, doch würden sie diese nie vollständig erklären können, weil jede Beobachtung und jede wissenschaftliche Aussage prinzipiell begrenzt seien. Die klassische Naturwissenschaft postuliert, dass es eine vom Betrachter unabhängige und objektivierbare Welt von Gegenständen gibt, die immer gleich bleibt und die exakt erforscht und berechnet werden kann. Diese Forderung entspricht der Welt des Ichthyologen, in der alle Fische immer grösser als fünf Zentimeter sind.

Werner Heisenberg, einer der Pioniere der Quantenphysik, holte den jungen Hans-Peter Dürr 1958 als Assistenten an die Universität München. Es war der Beginn einer fast zwanzigjährigen Zusammenarbeit. Um 1970 übernahm Hans-Peter Dürr mit andern Kollegen die Leitung des Werner-Heisenberg-Instituts, eine Abteilung des Münchner Max-Planck-Instituts für Physik und Astrophysik. 1987 wurde er mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Im Frühjahr 2004 traf ich Hans-Peter Dürr vor einem Vortrag an der Universität Bern zu einem Interview.

Herr Dürr, welche Konsequenzen ergeben sich aus der Quantenphysik für die Biologie und das Verständnis der Lebensprozesse?

Die moderne Physik hat wieder Raum geschaffen für die für alle nachvollziehbare Vorstellung, dass unsere ursprüngliche, unmittelbar erlebte Erfahrung viel reicher ist als die Erfahrung, die sich wissenschaftlich fundieren lässt. Viele für uns wichtige Erlebnisse, zum Beispiel auf religiösem oder künstlerischem Gebiet, können weder mit der Naturwissenschaft konfrontiert werden noch zu dieser in Widerspruch geraten - sie beziehen sich auf Fische, die man nicht fangen kann. Sie beziehen sich nicht auf exaktes, objektivierbares Wissen nach den Normen der Naturwissenschaften. Die moderne Physik begann mit einer überraschenden Entdeckung: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut. Wenn wir sie immer weiter teilen, bleibt am Ende nichts übrig, was an sie erinnert. Zuerst gelangen wir zum Atom, das lange Zeit als kleinstes Teilchen, als reine Materie galt. Als man aber ins Atom hineinguckte, sah man wieder «Struktur», also ging man nochmals ein Niveau tiefer und stellte fest, dass Elektronen und Atomkerne keine Materie sind. Am Schluss ist keine Materie mehr da, sondern nur noch etwas, das wir als immaterielle «Beziehung» bezeichnen können. Materie ist ein Phänomen, das erst bei einer gewissen vergröberten Betrachtung erscheint. Ihr zugrunde liegt aber etwas Immaterielles, nämlich Beziehung, und als weiterer Aspekt Potenzialität.

Immaterielles? Beziehungen? Potenzialität?

Nehmen Sie die Parabel des Ichthyologen. Sie können sich Potenzialität vorstellen als das Flimmern im tiefen Ozean, weit jenseits der Fangnetze. Potenzialität kann ich nur annähernd beschreiben. Sie bleibt im Grund unverständlich. Und dieses prinzipielle Wissen um das Nichtwissen bezüglich all dessen, das hinter den Netzen liegt, das Wissen um die Relativität und Potenzialität der Wirklichkeit also, erfordert ein radikal neues Weltbild.

Sie sagen, alles sei relativ und potenziell. Das tönt, als wäre die Realität etwas Unbestimmtes.

Nein, das ist sie nicht. Es gibt keine Beliebigkeit in der Natur. Wir wissen einiges über die kleinen Fische, auch wenn wir sie nicht fangen können. Sie werden einmal gross und können dann gefangen werden. Grosse Fische entstehen aus kleinen Fischen. Übertragen heisst das: Die Realität entsteht aus Potenzialität und aus Beziehungen. Daraus folgt eine weitere bahnbrechende Erkenntnis, nämlich die, dass alles untrennbar mit allem zusammenhängt. Am Grunde der Wirklichkeit ist ein flimmernder, brodelnder Hintergrund, ein ständiges Entstehen und Vergehen, schiere Potenzialität. Daraus entsteht Realität, daraus entsteht die Welt, die Welt als eine einzige Einheit. Und wenn alles mit allem zusammenhängt, bedeutet dies: Auch ich hänge mit allem zusammen. Es gibt kein abgetrenntes, objektives «Draussen». Jeder Teil bezieht zu jeder Zeit Bedeutung aus dem Ganzen. Zudem heisst Potenzialität, dass alles offen ist. Die Zukunft ist prinzipiell offen. Wir können nur sagen: Das und das passiert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Diese Unbestimmtheit ist mathematisch präzise formulierbar.

Ist dies nicht ein Widerspruch in sich?

Der Quantenphysik ist der mathematische Nachweis gelungen, dass die Grundlage der Wirklichkeit Potenzialität ist. Materie entsteht aus dem brodelnden Untergrund, wie die Haut in der kochenden Milch. Die geronnene Haut ist nicht schon von Anfang an in der Milch vorhanden, sie bildet sich erst im Prozess des Kochens. So bildet sich auch Materie aus dem brodelnden Untergrund heraus; sie ist nicht schon von Anfang an vorhanden. Materie ist geronnene Beziehung. Der Untergrund beginnt sich zu differenzieren, es entsteht immer mehr Materie, es bilden sich halbdurchlässige Schranken und Strukturen. So entstehen auch Lebewesen, durch einen Prozess der Differenzierung und des sich wieder Zusammenschliessens. Da steht alles miteinander in Beziehung, da «weiss» jeder Teil vom anderen.

Manchmal erahne ich, was Sie meinen, dann entschwindet es wieder ...

Wir sind aber gewohnt, mit solchen abstrakten Begriffen umzugehen. Nehmen Sie eine Grammofonplatte mit der Matthäuspassion; die Musik sehen Sie nirgends auf der Platte, sie ist verschlüsselt in den Rillen drin. Die Verwacklungsart der Rille enthält alle Informationen der Matthäuspassion. Diese werden in Schallwellen verwandelt und treffen auf mein Trommelfell. Dort werden sie in elektrische Signale umgewandelt, und diese gelangen in mein Gehirn und «erreichen» mein Bewusstsein. Es entsteht wieder die Information, die ich als Matthäuspassion erkenne. Während des ganzen Prozesses bleibt die Information - also das Immaterielle - unverändert, doch der Träger - also das Materielle - ist immer wieder ein anderer.

Ich selbst empfinde aber die Realität anders, als sehr konkret.

Natürlich ist die Welt des Ichthyologen für unser Überleben wichtig. Die Fische werden gefangen, verkauft, und wir haben Nahrung. Niemand fragt nach nichtfangbaren Fischen; die Ökonomie legt prinzipiell keinen Wert auf Dinge, die man nicht fangen kann. Unser Denken ist gut angepasst, um Fische zu fangen und zu überleben, nicht aber, um - zum Beispiel - Atomphysik zu begreifen.

Und die Molekularbiologie?

Auch da geraten wir in die historische Falle eines Fundamentalismus, bei dem die prinzipiellen Grenzen der jeweiligen, scharf formulierten Erkenntnisse ignoriert werden. Mir scheint, dass die Gentechnologie genau in diese Falle tappt.

Kann denn Leben überhaupt erklärt werden, mit irgendeiner Wissenschaft?

Nein. Wir können von der Quantenphysik lernen, dass es Bereiche gibt, über die wir grundsätzlich nicht reden können. Die Frage, was das Lebendige ist, oder Fragen nach dem Selbst oder nach der Unsterblichkeit - auf diese Fragen gibt es keine Antworten in unserer Sprache. Das ist so weit jenseits der naturwissenschaftlichen Fangnetze, dass es nicht erfassbar ist. Werner Heisenberg hatte nach dem Auffinden der Unschärferelation gesagt: Jetzt endlich ist die Naturwissenschaft so, wie ich das Leben empfinde. Andere Wissenschafter haben gesagt: Jetzt ist uns der Weg, die Welt zu beherrschen, abgeschnitten worden.

Drei Wochen nach dem Gespräch mit Hans-Peter Dürr stosse ich beim Blättern im Ausstellungskatalog des deutschen Malers Anselm Kiefer auf eine Stelle, an der es heisst: «Der Künstler stellt einen Zusammenhang dar, den sonst niemand herstellen kann. Er stiftet Sinn, indem er etwas Sinnloses macht. Doch indem ich der kosmischen Sinnlosigkeit etwas gleich- oder entgegensetze, schaffe ich natürlich Sinn. Aber es ist ein sinnloser Sinn, ein Schein-Sinn.» Das erinnert mich an Hans-Peter Dürr.

Das Werk Anselm Kiefers hat etwas Monumentales. Da versucht einer, die gigantischen Räume jenseits der Erkenntnisnetze auszuloten, Gegensätzliches und weit Auseinanderliegendes künstlerisch zu verknüpfen. Archaische Pyramiden aus Lehm und Stroh; monumentale Hallen, gespenstisch; Holzfaserungen eines Dachstockes, minuziös bis ins Detail; Himmelsleitern. Im nächsten Saal hängen drei Meter hohe Sonnenblumenbilder: Hinausgeschleuderte Sonnenblumenkerne werden zu Sternenhaufen in weiten Himmelsräumen, und kleine Ansammlungen von Kernen deuten darin wiederum rudimentäre Sonnenblumen an. Ein Bild heisst «The Secret Life of Plants» - ein monumentales Firmament, mit Milliarden von Sternen übersät, in dem weisse Linien fiktive Sternbilder anzeigen. In der Mitte des Bildes steckt eine mit Gips übergossene Pflanze, ihre Äste wachsen spinnenartig in den Himmelsraum hinaus. An den Spitzen hängen kleine, bleierne Hemden. Die Seelen der Pflanzen? Viele Sterne sind mit Nummern kartografiert; es sind Zahlenkombinationen, die von der Nasa zur Bezeichnung noch nicht entdeckter Sterne entwickelt wurden.

Alles ist mit allem verbunden; jedes Teilchen «weiss» von allen andern; diese unendliche Vernetzung des ganzen Kosmos - ein bedrängendes Gefühl. Dies könnte Hans-Peter Dürr mit seinen Ausführungen gemeint haben. Anselm Kiefer selbst schreibt: «Die ganze Malerei, aber auch die Literatur und alles, was damit zusammenhängt, ist ja immer nur ein Herumgehen um etwas Unsagbares, um ein schwarzes Loch oder um einen Krater, dessen Zentrum man nicht betreten kann.» Wie zur Bestätigung finde ich bei Hans-Peter Dürr das folgende Zitat: «Wenn man Kunst und Wissenschaft beschreibt, sieht man: Das ist praktisch das Gleiche. Man beschreibt das nur in einer jeweils anderen Sprache.» ◊