Komplementärmedizin: Was können wir uns leisten?

Nr. 40 –

Das Bundesamt für Gesundheit hat einen einmaligen wissenschaftlichen Prozess initiiert – und dann abgewürgt, kritisiert ein Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Programms Evaluation Komplementärmedizin.

Dieser Tage ist mir ein Erlebnis aus meiner Jugend in den Sinn gekommen: Wir hatten mit Schlauchbooten eine Flussfahrt auf dem Lech organisiert, einem Fluss, der durch unzählige Wehre gestaut und gebremst wird. Manche Wehre mussten wir, die Boote tragend, umgehen. Bei einigen kleineren versuchten wir durchzufahren. Es gelang uns auch bis auf ein einziges Mal. Da war die Rückstromwalze am Fuss des Wehres so stark, dass sie das Boot gefangen hielt und wir nicht mehr freikamen. Langsam drehte sich das Boot parallel zur Wasserwalze, wurde dann vom fallenden Wasser erfasst und kenterte.

Einen Moment nur versuchte ich, gegen den mächtigen Strom anzukämpfen, gab aber rasch auf. Ich liess mich vom Wasser hinunterziehen bis auf den Grund und konnte unten mit dem strömenden Wasser abtauchen. Etwa zwanzig Meter von der Walze entfernt wurde ich wieder ausgespuckt. Diese Episode hat mir eine wichtige Lehre erteilt: Gegen mächtige Strömungen anzukämpfen, ist Irrsinn. Man kann nur ihre Kraft nutzen, ihnen so lange folgen, bis sich eine Möglichkeit bietet freizukommen.

Eine solche mächtige Strömung, gegen die sich zu stellen sinnlos wäre, ist die globale Ökonomisierung, die auch vor der Gesundheit nicht Halt macht. In Deutschland hat diese Tendenz ihre Maximen langsam, fast unmerklich auch ins Gesundheitswesen sickern lassen. In der Schweiz ist ein fulminanter Auftakt bereits durch die Presse gegangen: Bundesrat Pascal Couchepin, der freisinnige Innenminister, hat beschlossen, alle komplementärmedizinischen Verfahren aus der Grundversorgung zu streichen. Damit ist das mit viel Spannung erwartete Ergebnis des so genannten Programms Evaluation Komplementärmedizin, kurz PEK, eines siebenjährigen, einmaligen Feldversuchs zur Nützlichkeit der Komplementärmedizin in der niedergelassenen Versorgung, durch eine politische Entscheidung bagatellisiert worden.

Dem Stier ein Härchen gekappt

Couchepins Agenda ist an sich lobenswert und verständlich: Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen sind hoch und müssen gesenkt werden. Dies kann nur durch drei mögliche Prozesse geschehen:

• Die AnbieterInnen senken ihre Preise und arbeiten kostengünstiger; dies würde zu einer Einkommensreduktion im Gesundheitswesen führen und ist wohl kaum realistisch.

• Die KonsumentInnen senken ihre Ansprüche; angesichts der wachsenden Anspruchshaltung ist das allerdings kaum zu erwarten.

• Leistungen, die nicht absolut notwendig sind, müssen privat bezahlt werden. Damit wird die Zwei- oder Dreiklassenmedizin explizit zum Standard. Diese Lösung ist wahrscheinlich die in Zukunft zu erwartende.

Genau Letzteres ist nun in der Schweiz geschehen. Die Komplementärmedizin fällt der ökonomischen Vernunft zuerst zum Opfer. Einige Kommentatoren der Schweizer Presse haben zu Recht gesehen, dass das Schweizer Departement des Inneren damit den Stier nicht bei den Hörnern gepackt hat, sondern vorsichtigerweise erst einmal in einem unbemerkten Augenblick ein Schwanzhärchen abgeschnitten hat, um zu testen, wie er reagiert. Die Vermutung, so der Kommentar, könnte sein, dass über eine öffentliche Diskussion gerade des belanglosesten Steinchens im Kostenmosaik eine allgemeine Bereitschaft zum Einsparen auch anderswo erzeugt wird.

Eine kurze Retrospektive und Analyse der Prozesse ist lehrreich: Vor etwa acht Jahren hatte Couchepins Vorgängerin, Ruth Dreifuss, auf vielseitigen Wunsch angekündigt, die Komplementärmedizin in die Grundversorgung aufzunehmen und in einem einmaligen, nationalen Versuch sieben Jahre lang zu evaluieren, wie sich Kosten und Gesundheit entwickeln. Über einige Jahre geschah nach aussen sichtbar gar nichts. Eine Arbeitsgruppe hatte sich gebildet, die sich erst einmal Gedanken machen musste, wie man denn vorgehen solle. Erst drei Jahre, nachdem das PEK offiziell begonnen wurde, erfolgte die Ausschreibung, still und leise zwischen den Jahren. Für die eigentliche Durchführung der Evaluationsforschung standen nun gerade noch dreieinhalb Jahre zur Verfügung. Das muss wohl der Grund dafür gewesen sein, dass nur etwa zwei Wochen Zeit für die Einreichung von Vorschlägen war. Mit der Evaluation wurde dann eine Berner Gruppe betraut, die zwar viel Erfahrung mit Outcome-Forschung (diese untersucht die Resultat von Behandlungen im realen Praxisalltag, Anm. d. Red.), aber keine Erfahrung mit Komplementärmedizin hatte. Ein weiteres Jahr verstrich, bevor irgendwelche Daten erhoben werden konnten. Gut vorbereitete Projekte, etwa das der Homöopathen, einen randomisierten Praxisvergleich durchzuführen, wurden gekippt.

Abfallprodukt

Bislang sind die Daten der durchgeführten Studien bis auf Ausnahmen nicht in einem Organ publiziert, das seine Texte wissenschaftlich überprüfen lässt. Die Originaldokumente stehen mittlerweile auf der Website des Bundesamtes für Gesundheit. Die eigentliche Commedia dell’Arte kommt aber noch:

Die abschliessende Sitzung des wissenschaftlichen Beirats, der die Protokolle begutachtet und das PEK wissenschaftlich begleitet hatte, wurde kurzerhand abgesagt. Eine Diskussion der Ergebnisse vor der Entscheidung sollte anscheinend vermieden werden. Ich habe mich dann als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats mit dem stellvertretenden Direktor des Bundesamts für Gesundheit in Verbindung gesetzt und erhielt die Auskunft, die Entscheidung über den Verbleib der Komplementärmedizin in der Grundversorgung sei eine rein politische (das finde ich akzeptabel). Deshalb wäre eine Diskussion der wissenschaftlichen Ergebnisse für die Entscheidung irrelevant – und die wissenschaftlichen Daten «Abfallprodukt». Das finde ich inakzeptabel. Eine Intervention über die Presse hat dazu geführt, dass der Beirat des PEK doch noch über die Ergebnisse diskutieren darf, sozusagen post festum. Immerhin.

Das Vorgehen macht Folgendes sichtbar: Wissenschaftliche Daten sind in diesem Interessengeflecht nur von begrenzter Bedeutung. Damit sind die Analysen des Wissenschaftsprozesses des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour bestätigt: Der Wissenschaftler respektive das wissenschaftliche Kollektiv sind nur ein Mitspieler. Wichtige soziale und politische Interessengruppen sind mindestens ebenso wichtig. Nicht die Abbildung der Wirklichkeit, sondern die Durchsetzung von Interessen mit oder ohne die Mittel der Wissenschaft ist zentral. Das politische Programm auf der Agenda ist kurzfristiges Einsparen und Kostensenken. Ginge es um reale, langfristige Einsparungen, hätte man die Kostendaten des PEK öffentlich diskutiert und dann entsprechend entschieden. (Einige haben versucht, durch eine Vorabpublikation von Befunden zu kostendämpfenden Effekten der Komplementärmedizin eine solche öffentliche Diskussion in Gang zu bringen. Vergeblich.) Aber nein: Im Vordergrund steht die kurzfristige Einsparung. Tausend Ärzte weniger, die an der Grundversorgung beteiligt sind und sich stattdessen privat finanzieren, bedeutet mehr Geld für die anderen, weniger direkte und offensichtliche Kosten für die Kassen.

Diese Situation lehrt uns aber noch mehr: In Zukunft wird die Wirksamkeitsdebatte immer weniger wichtig werden. Der leicht vorauszusehende Entscheidungsfall wird nicht mehr lauten: Wirkt eine Intervention, und wie viel kostet sie? Sondern: Wie viel kostet eine Intervention, und können wir sie uns leisten? Die Dialektik des beginnenden Prozesses wird unweigerlich dazu führen, dass die allseits geführte Debatte um «datengestützte Entscheidung in der Medizin», wie ich «evidence-based medicine» gerne übersetzt sehen würde, in wenigen Jahren vollkommen von der «kostengesteuerten Entscheidung in der Medizin» («cost-chased medicine») überlagert werden wird. Die Reihenfolge der Fragen wird sich also, verglichen mit heute, vermutlich umkehren.

Alles Placebo?

Dies kann bei allem Lamento eine grosse Chance bedeuten. Wenn sich nämlich belegen lässt, dass Komplementärmedizin vergleichsweise kostengünstig arbeitet, vergleichsweise hohe Zufriedenheit bei akzeptablem oder sogar gutem Ergebnis produziert, dann wird kaum mehr einer fragen, ob nicht vielleicht doch alles Placebo ist. Bald wird sich nämlich zeigen: Das meiste, was wirkt, wirkt so, dass es die Selbstheilungskräfte auf die eine oder andere Art anregt, sodass der Organismus von selbst zur Gesundheit zurückfindet. Eine etwas höflichere und präzisere Beschreibung dessen, was sich hinter dem Begriff «Placebo» verbirgt. Dann wird die Frage allenfalls sein: Welches Placebo ist günstiger, nachhaltiger, nebenwirkungsfreier und beliebter?

Insofern ist es vermutlich nützlich, wenn wir das tun, was die Schweizer Politik bislang zu verhindern versucht hat: gute Daten vorzulegen für die allseits bekannte, aber bis auf erste Versuche sehr schlecht belegte Erfahrung, dass Komplementärmedizin günstig ist, langfristig jedenfalls, dass sie beliebt ist und dabei auch noch vergleichsweise gut hilft. Ein Verteilungskampf hat begonnen. Der Kampfbegriff war bislang «Wirksamkeit». Das Anathema hiess «Placebo». Mittlerweile heisst der Kampfbegriff «Kostensenkung», und das Anathema ist «Kostentreibend». Während die Wirksamkeitsdebatte von der Komplementärmedizin nicht leicht zu gewinnen ist, und zwar aus theoretischen Gründen, ist die Kostendebatte leichter zu gewinnen. Die Lektion aus den jüngsten Ereignissen muss sein: die Kraft der Strömung nutzen, statt gegen sie zu kämpfen – und am besten gleich die Energie der Strömung für die eigenen Ziele einsetzen.

Harald Walach lehrt und forscht an der School of Social Sciences & Samueli Institute of Information Biology an der Universität Northampton. Er war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats (Review Board) des Programms Evaluation Komplementärmedizin.

Der Artikel erschien zuerst in «Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde», 18. Juli 2005. Copyright S. Karger GmbH, Freiburg i. Br.