Komplementärmedizin: Krankheit und Gesundheit sind auch politisch
Was können alternative Heilmethoden, was nicht? Und wer sollte solche Behandlungen bezahlen? Zu solchen Fragen bietet ein neuer kritischer Ratgeber zur Komplementärmedizin Aufschlussreiches.
Vor mittlerweile eineinhalb Jahren haben sich die Schweizerinnen und Schweizer mit einer Zweidrittelmehrheit an der Urne dafür ausgesprochen, die Komplementärmedizin wieder in den Katalog der Grundversicherung aufzunehmen, nachdem sie 2005 hinausgekippt worden war. Ab Januar 2012 ist es endlich so weit: Homöopathie, Phytotherapie, anthroposophische Medizin, traditionelle chinesische Medizin (TCM) und Neuraltherapie gehören erneut zu den kassenpflichtigen Leistungen – allerdings nur bis zum Jahr 2017. In der Zwischenzeit soll abgeklärt werden, ob diese fünf alternativen Behandlungsmethoden die gesetzlichen Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit denn auch tatsächlich erfüllen.
Hatten wir das nicht schon mal?
Richtig: Bereits 1999 hatte die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss diese fünf Heilmethoden für eine Testphase von sechs Jahren in die Grundversicherung aufgenommen und gleichzeitig für sechs Millionen Franken ein Programm zur Evaluation der Komplementärmedizin (PEK) in Auftrag gegeben. Die PEK-Studie stiess international auf reges Interesse: Noch nie zuvor waren komplementärmedizinische Therapien wissenschaftlich so genau unter die Lupe genommen worden.
Unterschiedliche Denksysteme
Wer verstehen will, was mit der PEK-Studie passiert ist und weshalb sie jetzt sozusagen erneut aufgegleist wird, sollte das Buch «Komplementärmedizin» von Daniel Bouhafs lesen. Eigentlich dreht sich darin alles um die über 200 alternativen Heilmethoden, die im Erfahrungsmedizinischen Register in Basel aufgelistet sind.
Als Praxishandbuch stellt es die verschiedenen Ansätze vor, zeigt, woher die Behandlung kommt, wie sie funktioniert und angewendet wird und leitet so die NutzerInnen an, wie sie die für sie passende Heilmethode wählen und einen Therapeuten oder eine Naturheilärztin finden können, der oder die seriös arbeitet. Zu jeder Heilmethode sind weitergehende Informationsquellen wie Anlaufstellen und Adressen von Dach- und Berufsverbänden oder Kliniken angegeben.
Dabei nimmt der Autor durchaus eine Einschätzung und Gewichtung vor: Die Kapitel sind entsprechend gegliedert und reichen von «besten Therapien» wie etwa der Homöopathie über «unkonventionelle Verfahren» (Neuraltherapie oder Blutegeltherapie) und «umstrittene Therapien» (Bioresonanz) bis hin zu Heilern, Lichtarbeiterinnen und andern Scharlatanen.
Zur Enttarnung von Hokuspokuskuren hat Bouhafs eine hilfreiche Checkliste verfasst. Überhaupt ist der Autor um Klartext bemüht. Gleich zu Beginn räumt er mit einem verbreiteten Irrtum auf: Die Gleichung «alternativ = harmlos» sei nicht nur irreführend, sondern vielfach schlicht falsch. Auch die Grenzen der Komplementärmedizin zieht er scharf: Wer an Krebs, Autoimmun- oder Stoffwechselerkrankungen sowie an Erkrankungen des zentralen Nervensystems leidet, sollte alternative Heilmethoden nur ergänzend zur Schulmedizin anwenden.
Klinikstudien als Mass aller Dinge
Pointiert zeigt Bouhafs auch die Konzepte auf, die der Pharmaindustrie und der Schulmedizin zugrunde liegen. Noch immer sind doppelblinde, randomisierte Klinikstudien das Mass aller Dinge; sie allein gelten als fähig, die Wirksamkeit von Medikamenten nachzuweisen. Komplementärmedizin hingegen beruht auf einem ganz anderen Denksystem – sie beurteilt den Heilerfolg anhand von positiven Erfahrungen, die auf Beobachtungsstudien gründen. Viele SchulmedizinerInnen lehnen dieses Denksystem als unwissenschaftlich ab, ja, sie bekämpfen es aktiv, indem sie «Handgranaten gegen die Komplementärmedizin bereitstellen».
So zitiert Bouhafs einen schulmedizinischen Experten, der die PEK-Studie angegriffen hat. In einem Kapitel, das auf Hintergrundrecherchen, Studienberichten und Gesprächen mit den Autoren der PEK-Studie selbst beruht, rollt Bouhafs die Geschichte der Studie auf und zeigt: Hier ist ein ambitioniertes Forschungsvorhaben gezielt von verschiedenen Seiten torpediert und schwer havariert worden. Unterstützt von einer Reihe schulmedizinischer ExpertInnen, änderte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mehrmals die Prozeduren ab. «Längst festgelegte – international anerkannte – Kriterien wurden über den Haufen geworfen», schreibt Bouhafs. «Forscherinnen und Forscher, die in ihren Arbeiten zur Komplementärmedizin zu positiven Schlüssen kamen, wurden nun plötzlich mit Publikationsverboten belegt.»
Pascal Couchepins Eingriff
Im Frühling wurde der Gesundheitsökonom Hans-Peter Studer, verantwortlich dafür, die Wirtschaftlichkeit von Komplementärmedizin zu prüfen, vorzeitig entlassen. In der Folge konnte Datenmaterial nicht ausgewertet werden und floss so nicht in den PEK-Schlussbericht ein.
Überhaupt der Schlussbericht: In seiner ursprünglichen Fassung hat er ausdrücklich empfohlen, drei der fünf alternativen Heilmethoden in der Grundversicherung zu belassen – Homöopathie, anthroposophische Medizin und Phytotherapie. Daraufhin intervenierte der damalige Bundesrat Pascal Couchepin und verfügte in Eigenregie, diese Empfehlung zu streichen. Weder die ExpertInnen im PEK-Leitungsausschuss noch das hochkarätig besetzte internationale Beratungs- und Begleitgremium der PEK-Studie durften sich dazu äussern. «Bei seinem Entscheid, die Komplementärmedizin aus der Grundversicherung zu kippen, hatte der Bundesrat gegen sämtliche – wissenschaftliche und demokratische – Regeln verstossen», zieht Bouhafs Bilanz.
Auch er selbst bekam Schwierigkeiten, wie Daniel Bouhafs im Gespräch mit der WOZ erzählt. Sein Buch zur Komplementärmedizin hätte ursprünglich in der Ratgeberreihe der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) im Berner Hep-Verlag erscheinen sollen. Der Verlag selbst hatte ihn mit dem Verfassen des Textes beauftragt. Das Manuskript war verlagsintern bereits gutgeheissen worden, als Bouhafs eine E-Mail der SKS-Geschäftsführerin erhielt. «Sie war inhaltlich überhaupt nicht einverstanden», erinnert er sich. «Sie fand das Buch viel zu kritisch, nicht nur gegenüber der Schulmedizin, sondern auch gegenüber der Komplementärmedizin. Und das Kapitel über die Hintergründe der PEK wollte sie sowieso ganz draussen haben.»
Und so kam es, dass «Komplementärmedizin. Alternative Heilmethoden unter der Lupe» nun nicht als Ratgeber in der SKS-Reihe erschienen ist, sondern als unabhängiges Buch im Glarner Rüegger-Verlag. Zum informativen Wegweiser durch das Dickicht alternativer Heilmethoden taugt es unter diesen Umständen allerdings umso mehr. Und entgegen der Einschätzung der SKS-Geschäftsführerin ist das Buch wohltuend undogmatisch verfasst. Den Mitgliedern der PEK-2 kann es nur empfohlen werden.
Daniel Bouhafs: Komplementärmedizin. Alternative Heilmethoden unter der Lupe. Rüegger Verlag. Glarus/Chur 2011. 184 Seiten. 34 Franken