Ritalin: Kids ruhig stellen
Der Zürcher Kantonsrat hat eine Forderung der SVP abgelehnt, etwas gegen den zunehmenden Ritalin-Konsum an Schulen zu unternehmen. Eine merkwürdige Debatte.
«Schüler (8) flog aus Klasse, weil er Ritalin nicht vertrug», titelte «20 Minuten» am 6. Oktober. Schon der Artikel bestätigte seinen Titel nicht, und die Männedorfer Schulleitung bestreitet vehement, ihren Schüler unter Druck gesetzt zu haben, damit er Ritalin nehme.
Drei Tage zuvor hatte der Zürcher Kantonsrat über Ritalin an Schulen debattiert. Lausbuben wie Eugen und Wrigley aus «Mein Name ist Eugen», mutmasste SVP-Kantonsrat Rolf André Siegenthaler, würden heute mit dem Medikament gegen die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ruhig gestellt - worauf Bildungsdirektorin Regine Aeppli (SP) mit Anspielung auf den «Eugen»-Film meinte, wenn Siegenthaler 300 Liter Wasser durchs Wohnzimmer flössen, würde ihm das Lachen auch vergehen.
Was war das für eine eigenartige Debatte? Siegenthaler hatte im September 2004 ein Postulat und eine Interpellation eingereicht, in denen er Massnahmen zur Verringerung des Einsatzes von psychoaktiven Substanzen an öffentlichen Schulen und eine umfassende Datenerhebung über den Einsatz von Ritalin forderte.
Unkritische Linke
Felix Dinkelmann, der Leiter des Schulärztlichen Dienstes des Kantons Zürich, äusserte sich letzte Woche im «Tages-Anzeiger». Wegen des Arztgeheimnisses wisse er nicht, wie viele der 180 000 Kinder an Zürcher Schulen Ritalin schluckten. Eine Erhebung sei aus Datenschutzgründen heikel.
Während die einen die steigende Anzahl Ritalin konsumierender Kinder vor allem mit dem zunehmenden Leistungsdruck an den Schulen begründen, halten andere ADHS hauptsächlich für eine neurobiologische Stoffwechselstörung im Gehirn, die man zum Wohle des Kindes medikamentös behandeln müsse. Die Zürcher Kantonsratsmehrheit gehört offenbar zu Letzteren: Sie lehnte am 3. Oktober sowohl Postulat wie Interpellation Siegenthaler mit 92 zu 52 Stimmen ab. Auch die Linke, von der man doch eher eine kritische Haltung gegenüber der Medikalisierung auffälliger SchülerInnen erwartet hätte, stimmte «Ritalin-freundlich». Zur Debatte war es gekommen, weil Regine Aeppli Anfang 2004 an einer Veranstaltung der ETH gesagt hatte, die Verschreibung von Ritalin an Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren habe sich zwischen 1996 und 2000 versiebenfacht. Siegenthaler sass im Publikum und war alarmiert, worauf er die erwähnten Vorstösse einreichte. «Es kann nicht sein, dass Schülerinnen und Schüler unsere Schulen nur erfolgreich durchlaufen, wenn sie unter Medikamenten stehen», argumentierte der Kantonsrat.
«Genetisch bedingt»
Das sah der Regierungsrat anders. Er schrieb in einer Stellungnahme im November 2004 zu ADHS: «Diese Krankheit ist mit grosser Wahrscheinlichkeit genetisch bedingt. Ein Zusammenhang mit dem Schulsystem fällt daher ausser Betracht. Für den Regierungsrat besteht in Bezug auf den Einsatz von Ritalin keine Handlungsmöglichkeit.»
Der steigende Leistungsdruck auf Kinder und Jugendliche und die gesellschaftliche Dimension des Themas werden hier ausgeblendet. Dieses werde ja bereits in Fachkreisen diskutiert, es brauche deshalb keinen Bericht im Kantonsrat, sagte etwa SP-Mann Peter Schulthess. «Es gibt krankhaft aktive Kinder», sagte Bildungsdirektorin Aeppli; für diese sei Ritalin ein Segen. Siegenthaler will die Angelegenheit weiter verfolgen: «Ich werde eine neue Forderung nach einer Datenerhebung einreichen», sagte er gegenüber der WOZ.
Geheimniskrämerei um Zahlen
Wegen eines Auslandaufenthalts konnte Aeppli gegenüber der WOZ nicht Stellung nehmen. Doch ein Positionspapier von Nationalrätin Jacqueline Fehr gibt Aufschluss über die Haltung der Partei gegenüber Ritalin: «Der Fokus der bisherigen politischen Interventionen lag auf der Frage, ob die Behörden die Verwendung von Ritalin einschränken könnten. Im Moment scheint mir, dass die Behörden die nötige Sensibilität in dieser Frage haben. Einen Trend zum sorglosen Umgang mit Ritalin gibt es meines Erachtens nicht.»
Durch Zahlen lässt sich dieses Vertrauen in einen vernünftigen Umgang mit dem Medikament nicht belegen. Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic will keine Auskunft über die Verbrauchszahlen geben. Vor einem Jahr war dies noch anders (siehe WOZ Nr. 38/04). Offenbar wurden die Richtlinien für die externe Kommunikation massiv verschärft. «Aus Gründen des Datenschutzes können die Zahlen nicht publiziert werden», sagt Laurent Médioni von Swissmedic und verweist auf die Kantonsapotheke des Kantons Zürich. Doch diese will über keine Zahlen zu Ritalin verfügen. Und Herstellerin Novartis gibt laut Pressesprecher Chris Lewis aus prinzipiellen Gründen weder den weltweiten Ritalin-Umsatz noch den in der Schweiz bekannt.
«Dabei wäre es wirklich sinnvoll, Daten und Informationen zum Thema zu erheben», sagt Daniel Marti, Psychiater am Kinderspital Zürich. Man wisse zwar, wie viele Kinder und Jugendliche im Kanton Zürich an ADHS litten - rund fünf Prozent -, aber nicht, wie und ob diese behandelt würden. Laut Marti erheben der Bund und auch der Kanton Zürich derzeit entsprechende Daten. Den Kinderpsychiater stört, dass die Debatten über Ritalin so polemisch sind. «Man muss ganz klar sehen, dass Ritalin ‹Schülerkarrieren› retten kann und Kinder bei einer begleitenden Therapie unterstützt», sagt Marti. Die Kinder seien heute in der Schule intellektuell viel mehr gefordert als früher. Es werde viel mehr Konzentration und Denken verlangt.
«Gleichzeitig wird Ritalin häufig relativ schnell und kritiklos abgegeben», sagt der Psychiater. Wenn Familien sich mit ihrem Sprössling beim Allgemeinpraktiker oder bei der Allgemeinärztin anmeldeten, käme relativ schnell der Vorschlag, man könne es mal mit Ritalin probieren. «Das Medikament ist ja spottbillig. Es ist sozusagen eine Instantlösung. Es wirkt schnell und ist extrem wirksam.» Familientherapien oder der Einbezug der Schule oder Klasse wären viel aufwendiger.