Gefangene haben Anspruch auf die gleiche Gesundheitsversorgung wie der Rest der Bevölkerung. In der Praxis sieht es anders aus.

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Verbindungsgang zur Staatsanwaltschaft im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel-Stadt
Verriegelt: ­Verbindungsgang zur Staatsanwaltschaft im Untersuchungsgefängnis Waaghof in Basel-Stadt. Foto: Ursula Häne

Kurz nach 21 Uhr öffnet sich mit einem Scheppern die Essensklappe. Auf dieses Geräusch hat Pascal Marti* schon gewartet. Durch die Lücke in seiner Zellentür reicht ihm ein Aufseher Tabletten und ein Glas Wasser. Pascal Marti leidet an Diabetes. Nach dem Essen muss er Medikamente nehmen, die seinen Blutzuckerspiegel regulieren. Solange er das diszipliniert macht, hat er die Zuckerkrankheit im Griff.

Weil er zu dieser Zeit in Untersuchungshaft sitzt, nimmt er die Tabletten abends vier bis sechs Stunden zu spät ein. Abendessen gibt es schon um 16.30 Uhr. Die Medikamente werden aber erst etwa vier Stunden später verteilt. Marti misst regelmässig seinen Blutzuckerspiegel. Nach dem Essen schnellt dieser jeweils in die Höhe, nach der verspäteten Medikamenteneinnahme fällt er über Nacht stark ab. Marti beschwert sich bei der Gefängnisleitung – doch es dauert noch mehrere Monate, bis er die Tabletten zusammen mit dem Essen erhält.

Anna Gombert ist Martis Rechtsvertreterin, sie konstatiert: «Im Gefängnis gilt das Äquivalenzprinzip, das bedeutet, dass Inhaftierte denselben Zugang zu medizinischer Versorgung haben müssen wie der Rest der Bevölkerung.» Das Äquivalenzprinzip ist Teil der sogenannten Nelson-Mandela-Regeln der Vereinten Nationen, die die Mindestgrundsätze festlegen, wie Gefangene zu behandeln sind. Gombert sagt, bei ihrem Klienten sei dieses Prinzip verletzt worden. «Es ist ein typisches Problem, das wir bei vielen Klienten in Haft sehen, in Untersuchungshaft wie auch im Strafvollzug», sagt sie. «Gefängnisse haben häufig feste Zeiten – zwischen der Essensausgabe und der Medikamentenabgabe können Stunden liegen. Das erschwert es etwa Diabetikern, ihre Medikamente zusammen mit dem Essen einzunehmen.»

Diesem «wobei» liegen Gespräche mit mehr als drei Dutzend Personen zugrunde – mit ehemals Inhaftierten, Anwältinnen und Strafvollzugsexperten. Das Thema, das in diesen Gesprächen am häufigsten zur Sprache kam, ist die Gesundheit. Ein Teil der Probleme ist offenkundig. Häftlinge können sich nicht bei der Apotheke um die Ecke einen Hustensaft holen oder ein Aspirin kaufen. Sie sind abhängig davon, dass der Arzt innert nützlicher Frist vorbeischaut – oder sie ihre Medikamente zum richtigen Zeitpunkt erhalten.

Zwanzig-Kilo-Waschmaschine in der JVA Pöschwies
Zwanzig-Kilo-Waschmaschine in der JVA Pöschwies. Foto: Ursula Häne

«Nach zwei Wochen wird es eng im Kopf»

Seit einigen Monaten ist Marti wieder frei. Es war nicht sein erster Aufenthalt im Gefängnis. Vor einigen Jahren verbrachte der heute 45-Jährige bereits einmal neun Monate in U-Haft. «Die erste Zeit sass ich 23 Stunden am Tag allein in meiner Zelle, eine Stunde lang konnte ich mich im Hof bewegen», erzählt er bei einem Treffen. Nach vier Monaten durfte er bei der Essensausgabe helfen, das brachte etwas Abwechslung.

«Nach zwei Wochen wird alles eng im Kopf», sagt Marti. «Ich bekam Angstzustände, wurde depressiv.» Noch heute höre er das metallene Klimpern der Schlüssel, mit denen die Aufseher die Zellen auf- und zuschlossen. «Du bist immer allein, und trotzdem kannst du nicht schlafen, weil ständig etwas los ist.» Das städtische Untersuchungsgefängnis, in dem er untergebracht war, wird auch für kurze Polizeihaft genutzt, weshalb ein ständiges Kommen und Gehen herrscht.

Die Schweiz ist bekannt dafür, dass gerade Personen in U-Haft oft über lange Zeit isoliert werden. Dabei verbieten die Nelson-Mandela-Regeln Einzelhaft von mehr als fünfzehn Tagen ausdrücklich.

Nach der Entlassung aus der ersten U-Haft suchte Marti einen Arzt auf. Dieser diagnostizierte bei ihm eine Depression, Panikattacken und Schlafstörungen. Marti begann bei einer Fachärztin eine Gesprächstherapie. «Die Therapie war ein wichtiger Halt für mich», sagt er. «Alles hat sich langsam stabilisiert, und ich begann, wieder zu arbeiten.»

Pascal Marti wurde ein Wirtschaftsdelikt angelastet. Ende 2023 tauchten neue Vorwürfe auf, und er kam erneut in U-Haft. «Das war ein Schock. In dieser Situation war es für mich umso wichtiger, meine Therapie ohne Unterbruch fortsetzen zu können.» Er teilte das der Gefängnis leitung am ersten Tag mit und stellte seine Krankenakten zur Verfügung.

Die Rückmeldung war auf den ersten Blick positiv: «Wenn Ihr Klient dies wünscht, kann er […] eine Besuchsbewilligung beantragen», schrieb der zuständige Amtsarzt an Martis Rechtsvertreterin. Doch im zweiten Satz folgte die Überraschung: «Der Besuch wäre selbstverständlich mit Trennscheibe und würde von der Staatsanwaltschaft überwacht.» Zudem wäre die Therapie Martis Besuchskontingent von einer Stunde pro Woche angerechnet worden: Neben der Therapie hätte er also keinen Besuch mehr empfangen können.

Eine überwachte Therapie kam für Marti nicht infrage. «Eine Therapie ist etwas sehr Persönliches, das geht nur mich und meine Ärztin etwas an.» Er bat die zuständige Staatsanwaltschaft nochmals darum, dass ihn seine Psychiaterin ohne Aufsicht besuchen könne: als Ärztin, nicht als Besucherin hinter der Trennscheibe.

Das Arztgeheimnis, aber auch die freie Ärzt:innenwahl ist in Haft oft nicht gewährleistet. Mehrere Gefangene äusserten gegenüber der WOZ die Angst, dass Aussagen, die sie im Rahmen einer Therapie machen, im Verfahren nachteilig ausgelegt werden könnten. Und: «Wegen der fehlenden freien Arztwahl werden bestehende Therapien im Gefängnis oft nicht weitergeführt», sagt Jörg Künzli, Rechtsprofessor an der Universität Bern und ehemals Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR). Vor allem während der U-Haft sei das problematisch, weil dabei eigentlich die Unschuldsvermutung gelte: «Der Staat muss in dieser Phase des juristischen Verfahrens alles verhindern, was für die inhaftierte Person nachteilig und für den Zweck der Haft nicht unbedingt notwendig ist.»

Grosse Unterschiede bei Gesundheitsdiensten

In der Praxis können Personen in U-Haft ihre Ärztinnen und Psychiater kaum je selbst wählen. Und so findet auch die Staatsanwaltschaft, die für Marti zuständig ist: Da keine notfallmässige Notwendigkeit bestehe, müsse er sich mit den gefängnisinternen Angeboten zufriedengeben und auf seine Therapeutin verzichten.

Die meisten Gefängnisse in der Schweiz haben einen eigenen Gesundheitsdienst. Dieser ist für die pflegerische und die medizinische Grundversorgung der Insass:innen verantwortlich. Dabei gibt es je nach Region und Gefängnis grosse Unterschiede. Nicht in allen Anstalten ist regelmässig ein Arzt oder eine Ärztin vor Ort. In der Justizvollzugsanstalt Lenzburg etwa finden alle ärztlichen Konsultationen zunächst einmal per Video statt. Der Arzt oder die Ärztin entscheidet dann über das weitere Vorgehen, etwa ob ein Spitaleintritt nötig ist. Das grösste Gefängnis der Schweiz, die JVA Pöschwies, verfügt über ein eigenes Gesundheitszentrum mit vier Ärzt:innen, drei Psychiatern, zwei Zahnärzt:innen, acht Pflegefachpersonen und 22 Psycholog:innen. In anderen Gefängnissen ist unter der Woche neben dem Pflegepersonal jeweils stundenweise ein Arzt anwesend, solange es keinen Notfall gibt.

In den meisten deutschsprachigen Kantonen stellen die Gefängnisse das Pflegepersonal direkt an und schliessen Verträge mit externen Ärzt:innen ab. In der Zürcher Pöschwies ist der komplette Gesundheitsdienst Teil der Gefängnisorganisation und direkt der Anstaltsdirektion unterstellt. Das SKMR hat das schon kritisiert: Ist der Gesundheitsdienst Teil der Gefängnishierarchie, könne das seine Unabhängigkeit gefährden, schreibt das Kompetenzzentrum in einem Bericht, der sich mit der Umsetzung der Nelson-Mandela-Regeln beschäftigt. Besser sind die Kantone Genf, Neuenburg, Tessin, Waadt, Wallis und Basel-Stadt unterwegs. Hier sind die Gesundheitsdienste jeweils dem Gesundheitsdepartement angegliedert und unabhängig von Justiz und Vollzug.

In der Hoffnung, seine Gesprächstherapie doch fortsetzen zu können, wandte sich Pascal Marti an den Gesundheitsdienst. Doch es folgte die zweite Ernüchterung: Ein solches Angebot gebe es nicht, hiess es.

Also liess er sich von einer Psychiaterin, die einmal in der Woche auf Visite kam, Psychopharmaka verschreiben: Quetiapin, ein Neuroleptikum, das bei der Behandlung von Schizophrenie und manisch-depressiven Episoden zum Einsatz kommt, aber auch als «Stimmungsstabilisator» und als Schlafmittel verwendet wird. «Viele haben das genommen», erzählt Marti. «Die meisten Häftlinge können nicht schlafen oder sind depressiv. Die wöchentlichen Termine mit der Psychiaterin sind begehrt, sie hat nur sehr wenig Zeit pro Patient.» Etwa zehn Minuten seien es jeweils gewesen. Das Untersuchungsgefängnis, in dem er untergebracht war, verfügt über 142 Zellenplätze.

Martis Geschichte zeigt somit einen weiteren Aspekt, bei dem das Gleichbehandlungsprinzip an seine Grenzen stösst: Die psychiatrische Grundversorgung stellt im Freiheitsentzug eine besondere Herausforderung dar. Das sagt auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Sie besuchte für ihren letzten Bericht zur Gesundheitsversorgung im Freiheitsentzug dreizehn Gefängnisse in der ganzen Schweiz und stellte fest: In einem Grossteil der Einrichtungen zeigten mindestens die Hälfte der Gefangenen psychiatrische Krankheitsbilder, am häufigsten seien Substanzabhängigkeiten, Schlafstörungen, Angsterkrankungen, Depressionen oder Psychosen (vgl.  «‹Einzelhaft kann töten›»). Die Kommission schätzte die psychiatrische Versorgung dieser Menschen vielerorts als ungenügend ein und fordert einen besseren Zugang zu therapeutischen Angeboten.

Bewegung bei der Krankenversicherung

Bei den Nelson-Mandela-Regeln handelt es sich um «Soft Law», um Vorgaben, die rechtlich nicht bindend sind. Dennoch sei das darin festgeschriebene Äquivalenzprinzip als Grundsatz unbestritten, sagt Rechtsprofessor Künzli.

Dass es nicht umgesetzt wird, hängt wohl damit zusammen, dass Gefängnisse in erster Linie als Kontroll- und Überwachungsinstitutionen gedacht sind. Manchmal scheint es aber auch einfach zu teuer, Menschen in Haft ein annähernd normales Leben zu ermöglichen. Dem widerspricht die Konferenz der Kantonalen Leitenden Justizvollzug (KKLJV): Eingewiesene Personen hätten Anspruch auf psychiatrische oder psychologische Betreuung, wenn diese indiziert sei. Die freie Arztwahl sei aus betrieblichen Gründen zwar eingeschränkt, doch davon profitierten auch die Insass:innen: «Die Abstimmung zwischen medikamentöser und psychiatrischer wie auch psychotherapeutischer Behandlung ist wichtig. Das ist aber nicht möglich, wenn einer dieser ‹Versorger› von extern beigezogen wird.» KKLJV-Geschäftsführerin Katja Schnyder-Walser weist zudem darauf hin, dass Psychopharmaka oft erst die Basis für eine therapeutische Behandlung schaffen würden. Sie räumt aber auch ein: «Es ist bekannt, dass in diesem Bereich ein grosser Mangel an Fachkräften besteht.»

Einiges bewegt sich aber doch in der Gesundheitsversorgung. Ein aktuelles Beispiel ist die Versicherungspflicht für inhaftierte Personen. Gegenwärtig sind rund ein Drittel aller Gefangenen in der Schweiz nicht krankenversichert, weil sie hier keinen Wohnsitz haben. Werden sie krank, haben sie oft nur Anspruch auf eine Notfallversorgung – ein Verstoss gegen das Prinzip der gleichwertigen Gesundheitsversorgung (siehe WOZ Nr. 12/24). Der Bundesrat plant nun, das Krankenkassenobligatorium auf alle Inhaftierten auszudehnen. Die Vernehmlassung dazu ist abgeschlossen, das entsprechende Gesetz aber noch nicht verabschiedet.

Pascal Marti ist bis heute teilweise krankgeschrieben. Wieder in Freiheit, hat er die Therapie bei seiner Psychiaterin intensiviert. Eine Beschwerde dagegen, dass sie ihn im Gefängnis nicht behandeln konnte, hat das Gericht inzwischen abgelehnt: Aufgrund seiner Entlassung bestehe kein geschütztes Interesse mehr, den Fall inhaltlich zu beurteilen.

* Name geändert

Unsichtbare Frauen

395 Frauen befanden sich Anfang 2024 in Schweizer Gefängnissen. Damit machen sie laut dem Bundesamt für Statistik nicht einmal sechs Prozent aller 6881 Insass:innen aus (genderqueere Personen wurden nicht erfasst). Das führt dazu, dass die Bedürfnisse von Frauen nicht nur im Gefängnisalltag weniger sichtbar sind, sondern auch in der Debatte ausserhalb der Mauern.

Eine Ausnahme gab es vor einigen Jahren in der Westschweiz: Die Waadtländer SP-Grossrätin Valérie Schwaar reichte 2019 ein Postulat zur Situation von Frauen in Waadtländer Gefängnissen ein. Sie beanstandete diverse Mängel im Gesundheitsbereich: So sei das Angebot an Hygieneartikeln unzureichend, die gynäkologische Beratung mangelhaft, und es fehlten Vorsorgeuntersuchungen.

Auch die Antifolterkommission schreibt in ihren zwei letzten Berichten, dass den Bedürfnissen von inhaftierten Frauen oft zu wenig Rechnung getragen werde. Sie vermisst eine niederschwellige gynäkologische Versorgung sowie ein geschlechtsspezifisches psychiatrisches Angebot. Ausserdem seien Frauen in gemischten Anstalten oft über längere Zeit isoliert und hätten nur beschränkten Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten, was sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirke. Weiter stellt die Kommission fest, dass die Bedürfnisse von «älteren Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund [und] LGBTIQ+-Personen kaum beachtet werden», da sie wiederum eine Minderheit innerhalb einer bereits kleinen Gruppe seien.

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