Bildung: Wettrüsten vor der Gymiprüfung

Nr. 28 –

Wohlhabende Eltern pushen ihre Kinder mit Förderkursen ins Gymnasium. Auf der Strecke bleibt die Chancengerechtigkeit. Im Kanton Zürich soll die Abschaffung der Prüfung diesen Trend brechen.

Die Methode der Armen: Spicken allein bringt niemanden ans Gymnasium.

«Vor den Aufnahmeprüfungen findet ein enormes Wettrüsten statt», sagt der grüne Kantonsrat Res Marti. Eltern schicken ihre Kinder in professionelle Förderkurse – ein Luxus, den sich nicht alle Familien leisten können. Reichtum und Bildungserfolg gehen Hand in Hand. Im Kanton Zürich etwa korrespondieren tiefe Steuerfüsse und hohe Gymnasialquoten: In steuergünstigen, von Reichen bevölkerten Bezirken sind die Quoten deutlich höher. So besuchen in Bezirken wie Meilen und Horgen beinahe doppelt so viele Kinder das Langzeitgymnasium wie in den Bezirken Andelfingen und Pfäffikon (das Langzeitgymnasium schliesst an die Primarschule an und dauert sechs Jahre, das Kurzzeitgymnasium folgt auf die Sekundarschule und dauert vier Jahre). Für die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli (SP) nichts Neues. Sie schreibt der WOZ: «Bezirke mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern im Langgymnasium sind bevorzugte Wohnorte von bildungsnahen Familien.» Die Eltern dieser Schülerinnen und Schüler seien oft selbst akademisch gebildet und in entsprechenden Berufen tätig. Häufig strebten sie für ihre Kinder den Besuch einer Mittelschule an. «Das war schon immer so. Mit der Schaffung von attraktiven Alternativen wie der Berufsmaturität ist diese Ungerechtigkeit relativiert worden.»

Gegen eine weiter aufgehende Kluft stellen sich die Kantonsräte Res Marti (Grüne), Moritz Spillmann (SP) und Johannes Zollinger (EVP). Sie reichten Anfang Juni eine parlamentarische Initiative zur Abschaffung der Aufnahmeprüfung ein – und sind damit im Parlament knapp durchgekommen. Sie möchten so die Chancengerechtigkeit an den Schulen des Kantons verbessern. Equity, wie Chancengerechtigkeit auch genannt wird, kann anhand von Faktoren wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder soziale Herkunft gemessen werden. Als «speziell kritische Stellen» erweisen sich die Übergänge zwischen den verschiedenen Bildungsstufen. Hier will die Initiative ansetzen.

Antrainierte Floskeln

Lilo Lätzsch vom Zürcher Lehrer- und Lehrerinnenverband ist sicher, dass sich Förderkurse für die Geförderten auszahlen: «Für einen Sportanlass ist Training unerlässlich. So ist es auch mit den Prüfungen.» In den Kursen lernen SchülerInnen den Ablauf der Prüfungen kennen und büffeln vorformulierte Antworten. Dass dies deutliche Spuren hinterlässt, kann auch die Gymnasiallehrerin Gabriela Merz bestätigen. Sogar in den Aufsätzen finden sich vorbereitete Passagen.

Die privaten Förderkurse sind den LehrerInnen im Kanton ein Dorn im Auge. Trotzdem kann Gabriela Merz, die selbst ein Kind im Primarschulalter hat, den Druck auf die Eltern nachempfinden. «Heute sage ich, dass ich mein Kind auf keinen Fall in einen solchen Förderkurs schicken werde. Ich möchte ihm ja nicht vermitteln, dass alles in der Welt käuflich ist», sagt sie. «Doch wer weiss, wie ich reagiere, wenn ich es mit der Angst zu tun bekomme?» Genau das führt dazu, dass vermögende Eltern keinen finanziellen Aufwand scheuen, um ihre Sprösslinge ins Gymnasium zu hieven. Ralf Margreiter (Grüne) leitet die Kommission für Bildung und Kultur, die die parlamentarische Initiative bearbeiten wird. Er sagt: «So werden nicht die besten Schüler, sondern die Kinder der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elite Zürichs ans Langzeitgymnasium geholt.» Gleichzeitig kurble dieses System eine lukrative paraschulische Bildungsindustrie an. Für ihn ein Systemversagen. «Es gehört zum Auftrag der Volksschule, dass geeignete starke Schüler auch ohne Förderkurse ins Gymnasium gelangen», sagt Margreiter. Wäre dies der Fall, sagt er, bräuchte es das «künstliche Zusatzgefüge» der Förderkurse nicht mehr.

Alternativen zu den Gymiaufnahmeprüfungen gibt es genug. Doch bei der Frage, welche es für den Kanton Zürich sein sollen, bleiben die Antworten vage. Neben kognitiven Eignungstests ist wie in anderen Kantonen die Bewertung durch Lehrkräfte ein Thema. KritikerInnen stellen freilich die Unbefangenheit der Lehrpersonen infrage. Führt eine Lehrerbewertung nicht bloss zu einer Verschiebung der mangelnden Chancengerechtigkeit? Neben einer möglichen Diskriminierung würde der Druck auf die Primarlehrpersonen noch einmal verstärkt. Mit einer Aufnahmeprüfung lässt sich den Eltern die Leistung ihrer Schützlinge deutlicher vor Augen führen.

Für den Prüfungsgegner Ralf Margreiter sticht diese Argumentation nicht: «Die Angst der Primarlehrer nehme ich zwar ernst, aber sollen wir deswegen auf Verfahren verzichten, die faire Zugangschancen schaffen?» Logistische Probleme sieht Margreiter nicht. «In anderen Kantonen wie Luzern oder Bern funktioniert das bestens», sagt der Grüne, «es geht uns ja nicht um einen voraussetzungslosen Zugang, sondern um eine andere Selektion.»

Heilige Kuh Langzeitgymnasium

Mit einer Forderung nach höheren Gymnasialquoten und allgemein zugänglichen Förderkursen haben linke und grüne Politiker bereits schon einmal erfolglos versucht, den Trend zu einer wachsenden Chancenungerechtigkeit zu brechen. «Leider trat das Kantonsparlament nicht einmal auf die Vorlage ein. In Kraft bleiben unsere Empfehlungen an die Schulgemeinden, kostenlose Vorbereitungskurse im Umfang von zwei Wochenlektionen anzubieten», schreibt Bildungsdirektorin Regine Aeppli, dies sei in vielen Gemeinden auch bereits der Fall. Der Kantonsrat lehnte obligatorische Förderkurse mit der Begründung ab, das sei bloss Symptombekämpfung. Nun stellt sich die Frage, ob der parlamentarischen Initiative zur Abschaffung der Gymiprüfung der gleiche Vorwurf gemacht werden kann. Die Abschaffung des Langzeitgymnasiums sehen manche als einzige Möglichkeit, um wirkliche Chancengerechtigkeit herzustellen. Aufseiten der Bildungsdirektion findet man hingegen klare Worte: «Eine Abschaffung des Langgymnasiums steht nicht zur Diskussion.»

Für Ralf Margreiter ist klar, weshalb das Thema von der offiziellen Bildungspolitik unter den Tisch gekehrt wird. «Das Langzeitgymnasium ist für viele Zürcher eine heilige Kuh. Es herrscht die Überzeugung, dass leistungshomogene Gruppen die Kinder am besten fördern. Doch diese Homogenität gibt es so gar nicht. Die heutige Selektion führt ganz offensichtlich zu zweifelhaften Ergebnissen». Wie sein Parteikollege Res Marti verweist Margreiter auf die Ergebnisse der Pisa-Studie im Kanton Zürich. Diese stützen den Verdacht, dass nicht zwingend die talentiertesten Kinder den Sprung ins Langzeitgymnasium schaffen.

Auch wenn Gabriela Merz einräumt, dass der Zeitpunkt des Übertritts ins Langzeitgymnasium wahrscheinlich zu früh sei, betont sie, dass diese Möglichkeit für einige ihrer SchülerInnen ein Geschenk sei. «Was den Langzeitgymnasiasten vom Sekundarschüler unterscheidet, ist nicht nur der Intelligenzfaktor, sondern es sind auch die Selbstständigkeit der Schüler und ihre Erziehung.» Hier komme wieder die Unterstützung aus dem Elternhaus ins Spiel. «Wenn man ausserdem sieht, wie an der Bildung gespart wird, ist der Gedanke einer wirklichen Chancengerechtigkeit utopisch, so traurig das auch ist.»

Am Ende hängt eine Verbesserung der Chancengerechtigkeit von entsprechenden öffentlichen Mitteln ab. Und jene Eltern, die ihre Kinder zu akademischen Höchstleistungen treiben wollen, werden wohl immer nach einer unsportlichen Methode suchen, um ihr Kind zu «dopen».

Kantone ohne Prüfung

Kaum ein Kanton hat dasselbe Aufnahmeverfahren für das Gymnasium wie der andere. Dass es auch ohne Prüfungen geht, zeigen unter anderem Luzern und Bern.
SchülerInnen in Luzern können wie im Kanton Zürich das Langzeitgymnasium oder das Kurzzeitgymnasium besuchen. Anstelle einer Prüfung entscheiden dort allerdings die Klassenlehrpersonen gemeinsam mit den Erziehungsberechtigten über einen möglichen Übertritt. Dabei gelten vorgeschriebene Mindestnoten.
Schon lange kein Langzeitgymnasium mehr gibt es im Kanton Bern. Der Übertritt findet entweder nach dem achten oder dem neunten Schuljahr statt. Grundsätzlich gilt seit 1997 ein prüfungsfreier Übertritt, wobei die Lehrpersonen die Eignung der SchülerInnen abklären. Fällt der Bescheid negativ aus, können die SchülerInnen zusammen mit Kindern aus Privatschulen oder dem berufsvorbereitenden Schuljahr an einer Aufnahmeprüfung teilnehmen. Rund 400 SchülerInnen nehmen dieses Angebot jeweils in Anspruch. Das entspricht etwa zehn Prozent der neuen GymnasiastInnen.