Eine Familiengeschichte: Im Traum schwebt Baba als Engel zu ihr herab

Nr. 40 –

Vom Ausbruch aus Klassengrenzen und der andauernden Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Heimkehr: ein Auszug aus Çiğdem Akyols Roman «Geliebte Mutter. Canım Annem».

Illustration von Alice Bucher: eine Person steht von einem Grabstein mit einer Tulpe


Canım Annem – geliebte Mutter. Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich Deine Stimme im Ohr: «Dein Vater war kein schlechter Mensch, er war nur naiv.»

Für Dich war Vaters Beerdigung ein unglücklicher Tag. Die Liebe Deines Lebens war fort. Für mich war es ein glücklicher Moment. Eine Hitzewelle schoss durch meine Wirbelsäule hinauf zu meinem Gehirn. Dezember 2017, endlich war der Kampf zu Ende. Ihr beide, Vater und Du, ja, auch Du, konntet mir nicht mehr den Hals mit einem Strick zuschnüren. Wir zwei Geschwister übernahmen sein letztes Geleit. Du warst zu müde für den langen Weg nach Burmageçit. Bevor unsere Reise losging, hattest du Vaters Klamotten in mehrere Koffer gepackt. Wir sollten sie als Spende bei einer Moschee abgeben. Auch wenn ich froh war über seinen Tod, war dieser Anblick doch schwierig für mich. Das greifbare Leben eines Menschen lässt sich so einfach entsorgen. Du hattest Vater in seinen letzten Monaten ständig neue Schlafanzüge gekauft. Es war Deine Art, ihm etwas Gutes zu tun. An den meisten Pyjamas hingen noch die Etiketten.

Lass mich Dir erzählen, Mutter, dass ich in jenem Moment während seiner Beisetzung auch beschämt war. Es wurde von mir erwartet, dass ich mich dramatisch auf den Boden werfe, um Vaters Tod zu betrauern. Aber es kamen keine Tränen. Stattdessen breiteten sich die vergangenen Jahre wie eine Wüste vor mir aus. Vaters wenige Erzählungen zogen in meinen Gedanken vorbei. Ich sah ihn mit zehn: dünne Hosen und den Schulweg auch im Winter zu Fuss. Türkisch hatte er erst in der Grundschule gelernt. Und ein Klassenzimmer zuletzt mit zwölf Jahren betreten.

Ich sah Vater, wie er morgens um fünf Uhr aufstand, um Feuerholz zu sammeln, damit das Steinhäuschen nicht auskühlte. In einem Moment sah ich den jungen Mann, der allein nach Istanbul abgehauen war. Ich sah den Arbeiter, der, so beeindruckt von der Deutschen Mark, nicht wusste, wohin mit seinem neuen Reichtum. Ich sah meinen Baba, der uns Kinder liebte und überfordert war. Erinnerte mich an seine Stimme, die so gnadenlos sein konnte. An seine Barthaare, die mich im Gesicht piksten, wenn er mich küsste. Ich spürte fast schon körperlich den Sohn, der sich von seiner konservativen Familie abnabelte und uns Kindern Freiheiten ermöglichte. Den Spieler, der uns verkauft hätte. Den Mann, der mit einer Gebetskette in der Hand durch Herne tigerte, um Geld aufzutreiben. Nun, wo er tot ist, kann ich mich wieder daran erinnern, dass er mich auf seine Art auch geliebt hat. In zärtlichen Momenten nannte er mich «Benim kara kızım – meine dunkle Tochter», weil ich so dickes, schwarzes Haar habe.

Ich sah Alvin, wie er sich vor wenigen Wochen zitternd an mir festhielt, während ich ihn duschte. Er fasste sich ungeniert in den Schritt, um sich zu waschen, und drehte sich um, wenn ich es ihm sagte. Mit einem Waschlappen massierte ich seinen Rücken. Dein Mann war kaputt, das hattest Du Dir doch immer gewünscht. «So ein Ende hat er nicht verdient», befandst Du aber, als es so weit war. «Warum sagst Du das jetzt?», habe ich Dich gefragt, und Du hast Dich hingesetzt und aus dem Küchenfenster geschaut. «Ich wusste nicht, dass ich Mitleid für ihn empfinden kann.»

Erst an Alvins Grab konnte ich damit beginnen, Eure Verbrechen nicht mehr zu verurteilen. Hier wurde mir klar, in welch seelischer Not Ihr beiden gelebt habt und in welcher Verbitterung Baba gestorben ist.

Den Toten kann man nur noch verzeihen, sonst würde die Bitterkeit für immer wie Sand zwischen den Zähnen knirschen. Ich wollte diese Bitterkeit nicht mehr schmecken. Mutter, ich atmete den kalten Wind von den Flüssen ein. Ich war glücklich: das Glück einer Frau, die es geschafft hat, einen fast vierzig Jahre andauernden Hindernislauf zu überstehen. Ich bin Mensch, ich bin Frau, ich bin Tochter, ich bin Aus- und Aufsteigerin, Migrantin. Ich bin Meryem, mit Alvins Tod endlich angekommen.


Am Morgen kurz vor der Abfahrt zu Alvins Beerdigung raucht Meryem hinter einem Werbeschild für Kopftücher eine Zigarette. Ein frostiger Dezemberwind jagt durch die Strassen, am Himmel hängen trübe Wolken. Die Schneespitzen auf den Bergen leuchten, als sie die glühende Zigarette wegwirft und zu ihrem Bruder Ada in das wartende Taxi steigt.

Auf dem Friedhof angekommen, schlängelt Meryem sich durch die Gruppe der Männer zu den Frauen, über die sich ihre Mutter immer lustig gemacht hatte, weil sie so fromm waren. Sie stolpert über einen Stein, knickt ein wenig um, humpelt weiter. Etwa fünfzig Menschen sind gekommen, um ihren Vater Alvin zu verabschieden. Als der Wind durch ihre Jacke dringt und durch das Kopftuch nach ihrem Nacken greift, fröstelt sie. Bei jeder Böe verrutscht das Tuch. Niemand stört sich daran, für Vaters Familie ist sie das verlorene Kind, das sich nie um ihn gekümmert hat und das sie nun liebevoll wieder in den Schoss der Gemeinde aufnehmen konnten. «Stell dich neben mich», fordert eine von Alvins Schwestern Meryem freundlich auf, doch sie humpelt weiter und starrt in das leere Grab.

Als Meryem wenige Tage zuvor in der Kantine des Hospizes einen Kaffee trinkt, geht Alvin voraus. Sein Gesicht, als schlafe er. Meryem berührt seine Hände, sie sind kalt, sie küsst seine kalte Stirn, sie küsst seine kalten Wangen, die Haut seltsam ledrig. In der Kapelle betet sie für ihre Mutter.

Der Abschiedsraum ist winzig. Es gibt nur einen Stuhl und einen kleinen Tisch, darauf eine Kerze, eine Christbaumkugel und ein Tannenzweig. Ein Weihnachtsstern welkt auf der Fensterbank vor sich hin. Über ihm ein Kreuz. Sein Unterkiefer ist hochgebunden, ein anderes Tuch liegt um seine Fesseln. Aynur hat ihm Minuten zuvor die Nägel geschnitten. Meryem versteht nicht, wieso.

Am nächsten Morgen holen zwei Männer vom Islamverband Ditib Alvins Leichnam ab und bringen ihn in eine Moschee, die in einem Herner Hinterhof liegt. Gewaschen und gesalbt, wird er in drei weisse Leinentücher gewickelt. Während die Männer seinen Körper für den Weg zu Allah vorbereiten, sitzen Meryem und Ada mit Alvins Bruder Barış und dessen Frau Hêlan im Flieger nach Istanbul, um von dort aus weiter nach Burmageçit zu reisen.

Sie fahren in die Ferienwohnung von Barış und Hêlan, die noch ganz beseelt sind von ihrem kürzlichen Hadsch nach Mekka. Aynur rollte mit den Augen, als die Schwägerin ihr auf Whatsapp Bilder von dort schickte: «Niemand mit gesundem Verstand läuft tagelang um einen schwarzen Stein herum», sagte sie zu Meryem.

Trotz der späten Stunde ist die Wohnung voller Gäste. «Wer sind diese Menschen?», flüstert Ada. Meryem weiss es nicht, aber alles hier fühlt sich natürlich an, obwohl ihre Welt eine ganz andere ist als diese. Überall brennt Licht, dicke Teppiche auf den Böden, im Wohnzimmer Sessel mit dick-weicher Füllung und bestickten Überdecken, an den Wänden gerahmte Koransuren, der Fernseher viel zu laut, im Badezimmer platt gelatschte Gummisandalen für diejenigen, die vor einem Gebet ihre Füsse waschen müssen. Ein Hin und Her von verschleierten Frauen, Männern mit Gebetsketten, die stirnrunzelnd Suren murmeln. Die Geschwister hocken verunsichert nebeneinander, dampfende Teegläser in der Hand. Ständig spricht ihnen irgendwer ihr Beileid aus. «Danke», nicken sie, und wenn das Gegenüber fragt: «Beni tanımadınız mı? – Erkennt ihr mich nicht?», schütteln sie verlegen die Köpfe. Ein Cousin aus Istanbul, eine Cousine aus Bordeaux. Die Kinder haben nicht viel Zeit mit ihrer Familie verbracht, entschuldigt Hêlan.

Weit nach Mitternacht können sie sich endlich ins Schlafzimmer zurückziehen. Die Heizkörper sind gerade erst angeworfen worden, und Meryem kuschelt sich schlotternd in die Decke auf einer Matratze am Boden. Von irgendwoher hört sie Schüsse. Das kraftvolle Zischen der Kampfjets, auf ihrem Weg in den Nordirak, lässt sie zusammenzucken. Im Traum erscheint ihr Baba. Er schwebt als Engel im schwarzen Gewand und mit grossen weissen Flügeln zu ihr herab. Seine braunen Augen sind liebevoll, Meryem schmiegt sich an seinen Körper, er hält sie fest.

Burmageçit ist über fünfzig Jahre nach Alvins Wegzug noch immer der Ort, der keine falschen Versprechungen macht. Hier in Ostanatolien fällt noch regelmässig der Strom aus. Im Sommer ist es so heiss, dass die Menschen nicht alle Früchte ernten können, die an den Zweigen hängen. Das Obst kullert über den Asphalt, die Autos rollen darüber und hinterlassen Matsch. Im Winter schiebt der Wind den Schnee zu Hügeln zusammen, sodass die Bewohner nur mühsam vorankommen. Der Wind ist hier so heftig, dass er Steine wegfegt. Zum Frühstück isst man Mehlsuppe, die ist billig und wärmt. Am Stadtrand die Gebäude der Geisterviertel, leer stehende Häuserblocks, in die sich die aufständischen Kurden zurückgezogen haben. Im Zentrum ein Brunnen, zwei Kaffeehäuser, Bäckereien mit Süssspeisen, Krämerläden mit buntem Küchenzeugs aus Plastik, Schmuckhändler, in deren Schaufenstern das Gold blinkt. Die Menschen hier verlassen selten ihr Dörfchen. Sie träumen von einem Leben in Europa. Sie träumen von dem Leben, das die Geschwister führen. In den Internetcafés drucken sich die Jugendlichen die Unterlagen für einen Visumantrag in Deutschland aus, der ohnehin abgelehnt wird.

Romandebüt

Çiğdem Akyol ist WOZ-Redaktorin und hat drei Sachbücher zur Türkei geschrieben. In ihrem Gesellschaftsroman «Geliebte Mutter – Canım Annem», der im Oktober erscheint, erzählt sie die Geschichte der Familie Güney. Aynur lebt in Istanbul und hat für Frauen mit Kopftuch nur Spott übrig, als sie gegen ihren Willen mit dem frommen Alvin verheiratet wird, der in Deutschland unter Tage arbeitet. Meryem ist erwachsen, als ihr Vater Alvin stirbt. Für sie ist es ein glücklicher Tag; zu tief sind die Wunden, die ihr beide Eltern zugefügt haben. Die Tochter versucht, die vielen zerrissenen Leben ihrer Mutter zu verstehen – und ihr zu vergeben.

Çiğdem Akyol: «Geliebte Mutter. Canım Annem». Roman. Steidl Verlag. Göttingen 2024. 240 Seiten. 37 Franken.

Erhältlich ab Mitte Oktober im WOZ-Shop. Bestellungen unter woz.ch/shop oder shop@woz.ch

Buchcover von «Geliebte Mutter. Canım Annem»