Ethnologie: Jägerinnen und autonome Kindergruppen

Nr. 51 –

Was machen Familien auf der anderen Seite der Erde anders? Die Ethnologin Florence Weiss berichtet über die Iatmul in Papua-Neuguinea.

WOZ: Wer sind die Iatmul?

Florence Weiss: Die Iatmul sind ein Volk in Papua-Neuguinea mit einer interessanten Lebensweise. Sie leben in einer Gegend, in der mehrere Monate im Jahr die Landschaft unter Wasser steht, und ernähren sich primär von dem, was die natürliche Umwelt ihnen gibt: Fisch und was sonst noch im Wasser gedeiht. Die andere Grundnahrung, ein kohlenhydratreiches Palmmehl, bekommen sie im Tausch von einem Volk aus einer höher gelegenen Gegend. Die Iatmul leben in kompakten Dörfern von 200 bis 400 Leuten, in grossen, prächtigen Häusern.

Wer fischt?

Für die tägliche Ernährung sind die Frauen zuständig. Sie sind eigentliche Jägerinnen: Sie jagen die Fische mit dem Speer - manchmal auch mit Netzen und Haken.

Was machen denn die Männer in dieser Zeit?

Die Männer sind Handwerker, sie sind zuständig dafür, dass die Wohnhäuser instand sind. Wegen der Überschwemmungen müssen diese wirklich solide gebaut sein. Die Männer schnitzen auch die Kanus für die Frauen und die Kinder - ohne Kanu kann man nicht leben. Während des Hochwassers kann man nicht einmal die Nachbarn besuchen ohne Kanu.

Gibt es bei den Iatmul einen Begriff für Familie?

Sehr viele sogar. Es ist nur die Frage, was mit Familie gemeint ist: die Kernfamilie, die erweiterte Familie mit der ganzen Verwandtschaft oder die Familie als Lebenszusammenhang. Einen Begriff für Kernfamilie gibt es nicht. Auch wenn wir in der Schweiz «Familie» sagen, meinen wir in der Regel mehr als nur die Kernfamilie. Bei den Iatmul ist die wichtigste Zuordnungsgruppe der Clan. Und der geht quer durch die Familie hindurch. Die Kinder gehören immer in den Clan des Vaters. Die Mutter kommt aus einem anderen Clan.

Die Mutter fühlt sich nach der Heirat weiterhin ihrem Clan zugehörig?

Genau. Jeder Clan besitzt Boden, und den dürfen die Clanmitglieder nutzen; er hat Namen, die verteilt werden an die Kinder; er hat mythische Geschichten. Das hat einen grossen Einfluss auf die Identität der Menschen. Der Vater und die Kinder gehen an ein bestimmtes Fest und die Mutter nicht. Sie hat ihre eigenen Feste.

Was passiert, wenn zwei Leute aus dem gleichen Clan heiraten wollen?

Das geht nicht.

Versuchen sie es gar nicht? Oder haben sie dann eine geheime Liebschaft?

Sie meinen so wie Romeo und Julia? Nein. Dieses Verbot ist so stark verinnerlicht; eine Übertretung wäre, wie wenn man sexuelle Kontakte mit Geschwistern hätte.

Ist die Kernfamilie bei den Iatmul also überhaupt nicht wichtig?

Doch, ökonomisch sogar sehr. Mutter und Vater wohnen zusammen und arbeiten füreinander. Sie verrichten die Arbeiten geschlechtergetrennt, die für sie und ihre Kinder nötig sind, um leben zu können. Aber die Kernfamilie tritt nie als Gruppe auf. Solche Szenen wie bei uns der Sonntagsspaziergang finden nicht statt.

Kann ein Mann mehrere Frauen haben?

Wenn mehrere Frauen den gleichen Mann lieben, dann heiraten sie den gleichen Mann. Es sind die Frauen, welche die Initiative in den Liebschaften übernehmen.

Ob diese Frauen sich dann verstehen - das ist eine andere Frage, oder?

Ja. Die Iatmul sind eine Gesellschaft, in der die Autonomie sehr stark betont wird. Gleichzeitig sind Zweierbeziehungen etwas ganz Wichtiges. Die Iatmul können sich sehr stark auf eine andere Person beziehen. Wenn nun diese Abhängigkeit, die ja ein Gegensatz zur Autonomie ist, stark gespürt wird, beginnt es zu brodeln. Dann haben wir das, was zu den engen Familienbeziehungen immer gehört, nämlich Hass und Liebe. Sie werden eifersüchtig, und es finden heftige Auseinandersetzungen statt. Die Frauen nehmen nicht einfach hin, dass eine andere Frau ihren Mann toll findet. Es kommt zu Streit, sogar zu Schlägereien. Der Konflikt klingt meist nach einiger Zeit ab. Ein wichtiges Mittel zur Beruhigung ist, dass man sich aus dem Weg geht.

Was haben die Kinder für einen Status in der Gesellschaft?

Die Kinder sind das Wichtigste, was man sich wünscht. Das kann man sich in unserer Gesellschaft mit diesem Gewicht gar nicht mehr vorstellen. Ein Leben ohne Kinder erscheint sinnlos. Nicht dass der Status der Frauen von der Anzahl der Kinder abhängen würde. Aber sie gehören einfach zum Leben. Also sind sie sehr willkommen.

Und merkt man das auch daran, wie mit ihnen umgegangen wird?

Ja. Man merkt es vor allem daran, dass das tägliche Leben so eingerichtet ist, dass ein Kind gut überleben kann. Ein Kleinkind wird nie allein gelassen. Immer ist jemand da, der schaut, dass ihm nichts passiert, dass es nicht die Treppe hinunterfällt, sich nicht verletzt, bei Hochwasser nicht ins Wasser fällt. Die Kinder bekommen viel Aufmerksamkeit, und das ganze Dorf ist daran beteiligt.

Die Iatmul organisieren eine Art Kinderhütedienst, so ähnlich wie bei uns?

Ja. Und das führt direkt zur Frage, die für viele Ethnologinnen Ende der sechziger und in den siebziger Jahren wichtig war: Was gibt es für gesellschaftliche Modelle, die den Frauen andere Möglichkeiten bieten als die, die damals in Europa Geltung hatten? Wie in vielen anderen Gesellschaften in der Dritten Welt arbeiten auch bei den Iatmul die Frauen ausser Haus, da sie ja für die Nahrung sorgen. In der Zeit, in der sie fischen, übergeben sie die Kleinen älteren Kindern. So entstehen autonome Kindergruppen. Ein achtjähriges Kind ist in der Lage, für einen Säugling Sorge zu tragen. Es bleibt mit ihm nicht zu Hause, sondern nimmt ihn mit in seine Gruppe. Das ist eine Kindergruppe von Knaben und Mädchen zwischen acht und dreizehn Jahren. Die machen Spiele oder kleine Arbeiten, die Jüngeren lernen von den Älteren. Das Tolle an diesen Gruppen ist: Da mischen sich die Erwachsenen überhaupt nicht ein, da sind keine Erwachsenen.

Wenn die Kinder Streiche spielen oder etwas kaputtmachen, wie reagieren dann die Erwachsenen?

Einerseits sind die Erwachsenen ziemlich streng. Wenn rauskommt, dass ein Kind nicht auf ein jüngeres aufgepasst hat, geben sie ihm auch mal eine Ohrfeige. Aber die Kinder haben viel Spielraum. Sie streunen herum, machen Lärm und verfolgen ihre eigenen Ziele. Wenn sie es zu bunt treiben, werden die Erwachsenen sauer - weil sie eigentlich wenig Strafmöglichkeiten haben. Es ist keine Strafgesellschaft. Wenn bei den Iatmul der Vater böse ist auf den Sohn, weil der zu spät nach Hause kommt, dann haut der Junge einfach ab und ist zwei Tage nicht aufzufinden.

Wenn aber viele Eltern die Nase voll haben, tun sie sich zusammen, und die Männer beschliessen, eine Ahnenmaske auftreten zu lassen. Die Kinder werden zusammengetrieben, und von einem Mann, der sich als Ahne verkleidet hat, bekommt jedes Einzelne mit einem Besen eins runtergewischt. Alle!

Egal, wer es war?

Genau. Sie verstehen die Kinder als Gruppe. Da wird nicht herausgepickt, sondern alle zusammen werden bestraft. Und auch nicht Herr Meier bestraft sie, sondern ein Ahne. Obwohl die Kinder natürlich wissen, wer es ist: Sie schauen die Füsse an, und an den Zehen erkennen sie, wer unter der Maske steckt. Aber es ist nicht der Herr Meier, sondern es ist der Herr Meier als Ahne, der die Bestrafung ausführt.

Wie sind die Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern? Gibt es ähnliche Konflikte wie bei uns?

Auch bei den Iatmul revoltieren die Jugendlichen, und die Eltern versuchen sie zu beeinflussen, fühlen sich verantwortlich. Aber die psychische Abhängigkeit der Mütter von ihren Kindern ist wahrscheinlich etwas, was sich in unserer Gesellschaft speziell stark entwickelt hat. Wenn für eine Frau die Mutterrolle das Wichtigste überhaupt ist, dann ist nur logisch, dass sie die Kinder nicht gut weggehen lassen kann. Besonders stark ist das in der Schweiz, wo eine Frau, die ausser Haus arbeitet, zum Teil heute noch als Rabenmutter gilt. Das ist geradezu eine Mutterideologie.

Geht es denn um konkrete Sorgen, wenn die Tochter zum Beispiel nicht zum Tanz gehen soll? Fürchten die Eltern, dass sie schwanger werden könnte?

Eher, dass sie das Dorf verlässt und nicht mehr zurückkommt. «Ich gehe in ein anderes Dorf» ist die schlimmste Drohung, die eine junge Frau zur Verfügung hat, und damit kann sie ziemlich viel durchsetzen. Schwanger werden ist hingegen kein Drama. Die Tochter hat schon das Recht, ihren Zukünftigen auszuwählen.

Werden die jungen Frauen einfach irgendwann schwanger, und dann wird geheiratet, oder wie läuft das ab?

Ja. Wie gesagt, Kinder sind erwünscht. Besser ist es, wenn die Eltern schon verheiratet sind, wenn das Kind auf die Welt kommt, aber das spielt keine grosse Rolle. Natürlich kommt dann die Frage, wer ist der Mann. Wenn es ein verheirateter Mann im Dorf ist, ist es nicht so gut, aber wenn es ein junger Mann ist, werden die heiraten.

Und wenn es ein verheirateter ist?

Dann wird sie es sehr wahrscheinlich nicht sagen und einfach allein erziehende Mutter sein. Das gibt es aber erstaunlich selten.

Sie könnte ja auch sagen, es sei von einem jungen Mann, und diesen heiraten, obwohl es nicht stimmt.

Könnte sie, wenn sie den mag. Das ist lustig, dass Sie das fragen, denn das ist seit einiger Zeit ein Problem auch in der Schweiz: Alle wollen diese DNA-Tests machen, weil anscheinend ganz vielen Männern irgendwelche Kinder untergejubelt werden. Bei den Iatmul ist ein Kind an sich schon eine gute Sache.

Ich habe den Eindruck, dass bei den Iatmul die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern relativ ausgeglichen ist. Stimmt das?

Ja. Aber es gibt Machtbereiche der Frauen und solche der Männer. In der Ernährung, im Alltag sind die Frauen stark, weil sie jeden Tag das Essen bringen, kochen und verteilen. Das ist eine starke Karte in der Hand der Frauen. Und kein Mann und kein Kind hat das Recht, von diesem Essen einfach zu nehmen. Sie müssen warten, bis die Frau es ihnen gibt.

Die Männer sind stark im Bereich des Haus- und Kanubaus, und sie haben auch im ganzen rituellen Bereich eine stärkere Position als die Frauen. Sehr wichtige Rituale finden im Männerhaus statt, und die Männer haben den imposanteren Part in den Ritualen. Aber wenn wir alle gesellschaftlichen Bereiche zusammennehmen, dann haben Frauen und Männer gleich gute Positionen.