Durch den Monat mit Agatha Wirth (Teil 1): Haben Sie eine Chance?

Nr. 2 –

WOZ: Jörg Schild, FDP-Regierungsrat von Basel-Stadt, ist neuer Präsident von Swiss Olympic, dem nationalen Olympiakomitee. Am 12. Februar [2006] kommt es deshalb in Basel zu Ersatzwahlen. Frau Wirth, Sie kandidieren als Regierungsrätin – und zwar für die Armutsliste. Sind Sie arm?
Agatha Wirth: It depends, wie die Ökonomen sagen ... Armut ist relativ. An Geld gemessen, war ich immer eher arm. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte vier Geschwister. Meine Eltern hatten wenig Geld. Wenn es zu Hause mal eine Orange oder eine Banane gab, war das schon etwas. Neue Kleider gab es selten, auch kein Fernsehgerät, kein warmes Wasser. Im Winter wuchsen an den Schlafzimmerfenstern Eisblumen ... Das können Sie sich vermutlich kaum mehr vorstellen.

Sie klingen nicht baslerisch.
Ich komme aus der Ostschweiz, aufgewachsen bin ich in Niederstetten, seit 1997 lebe ich in Basel.

Niederstetten? Tönt abgelegen.
Das ist ein kleines Dorf im Untertoggenburg, zwischen Wil und Uzwil. In den sechziger, siebziger Jahren lebten dort vor allem Bauern und Arbeiter, die nach Uzwil in die Fabrik arbeiten gingen. Die hatten alle nicht viel Geld, assen vor allem, was sie selber anpflanzten. Vermutlich waren das Working Poor, aber damals war das noch kein Thema.

Ihr Vater hat sein Geld mit Bienen verdient. Was genau hat er gemacht?
Ursprünglich war er Sticker. Wir lebten in einem dieser typischen Ostschweizer Häuser mit Sticklokal. In den sechziger Jahren lief es dann aber nicht mehr so gut im Stickereigeschäft. Mein Vater hatte im Auftragsverhältnis gearbeitet, doch erhielt er dann immer weniger Aufträge. Die Globalisierung gab es eben damals schon – auch wenn die Leute heute tun, als ob das eine neue Entwicklung wäre.

Wie war das nun mit den Bienen?
Mein Vater hatte schon immer Bienen. Als die Stickerei nicht mehr lief, begann er mit Imkereizubehör zu handeln. Wir Kinder mussten mithelfen: Zeugs einpacken, Waben giessen, Abel-Briketts herstellen ...

Waben giessen, Abel-Briketts – können Sie das erklären?
Mein Vater hat Waben verkauft, die man in die Bienenstöcke hängen konnte. Die Bienen füllen diese Waben mit Honig. Wir hatten eine spezielle Maschine, die diese Waben in Wachs prägte. Das Wachs durfte nicht zu heiss sein. Stundenlang bedienten wir Kinder diese Maschine, kontrollierten die Temperatur des Wachses und wechselten die Beigen der fertigen Waben aus – eine Arbeit, die einiges an Wissen verlangte. Und es war schrecklich heiss in dem Raum, um die dreissig Grad. Im Winter war das noch angenehm, aber im Sommer, wenn die anderen Kinder schon an der Thur beim Schwimmen waren, fanden wir es gar nicht toll.

Und die Abel-Briketts?
Ich weiss nicht, ob man die Dinger heute noch verkauft. Es war ein Geheimrezept. Mein Vater stellte eine spezielle Sauce mit ausschliesslich natürlichen Zutaten her. Wir mussten saugfähige Briketts in diese heisse Masse tauchen, danach draussen trocknen und bündelweise einpacken. Die Imker zündeten die Briketts an, wenn sie zu den Bienen gingen. Der Rauch beduselte die Bienen, sie wurden träge und gingen nicht mehr auf die Imker los. Der Rauch der Briketts war aber unschädlich. Es war ein harter Job, diese Waben und die Briketts zu machen. Erst im Nachhinein realisierte ich, wie reich unsere Kindheit war, reich an Erfahrungen. Und wir wussten auch, dass wir gebraucht wurden – unsere Arbeit war wichtig. Das gab ein gutes Gefühl.

Sie sind Ökonomin und kandidieren jetzt auf der Armutsliste. 
Warum?
Sehen Sie, ich bin alleinerziehende Mutter. Ich habe erfahren, wie erniedrigend die Ämter manchmal mit einem umgehen. Derzeit bin ich selber wieder auf Arbeitssuche und weiss, was es heisst, arbeitslos zu sein. Die Leute brauchen keine 1000-Franken-Jobs, wie sie die Zürcher Stadträtin Monika Stocker propagiert. Sie mögen auch nichts mehr hören von Einsatzprogrammen. Sie brauchen anständige Jobs, und es muss endlich ein garantiertes Grundeinkommen geben.

Die FDP schickt die Grossrätin 
Saskia Frei ins Rennen. Haben Sie auch nur die geringste Chance, gegen Frei zu gewinnen?
Stopp! Es gibt für dieses Amt zwei Kandidatinnen: Unsere Chancen stehen eins zu eins. Ende vergangener Woche hat Saskia Frei in den Medien gesagt, sie würde einen weiteren, radikalen 
Abbau bei der Sozialhilfe prüfen. Selbst Zweifler glauben seither, dass wir gewinnen können.

Agatha Wirth (43) ist Betriebsökonomin, Naturheilärztin, Pharmaassistentin und alleinerziehende Mutter. Sie kandidiert für die Armutsliste für den Regierungsrat von Basel-Stadt.