Berge im Kopf: Das Erhabene und die Angst

Nr. 12 –

Wie haben die Menschen früher die Berge wahrgenommen? Und warum steigen sie noch heute an ihnen hoch?

Es gibt Momente, in denen sich wohl schon alle BergsteigerInnen gefragt haben, was ihr Tun da oben soll, weshalb sie sich den Gefahren von Lawinen, Steinschlag, Erschöpfung, Kältetod, Fehltritten und Spaltenstürzen aussetzen. Und ob nicht die TalbewohnerInnen vor Jahrhunderten Recht mit ihrer Skepsis hatten, als sie die Berge mieden. Mir kam diese Frage zum ersten Mal in den Sinn, als ich mit fünfzehn Jahren an den Kreuzbergen im Alpstein herumkletterte: Ein Griff brach aus, der Sturz beförderte den Jungspund ohne Seil und ohne Helm Richtung Rheintal, nur eine Rinne verhinderte den Flug in den über tausend Höhenmeter tiefen Abgrund. Und während ich mit blutendem Grind stundenlang Richtung Appenzell ins Spital marschierte (Helirettung gab es damals nicht, ich hätte auch kein Geld dafür gehabt), verfluchte ich die Berge. Und mich.

Seither kommt mir diese Frage immer wieder hoch - nicht nur aufgrund späterer unangenehmer Erlebnisse wie stundenlangem Herumirren auf vernebelten Gletschern, Steinschlag, dem man nur knapp entging, oder einem Beinaheabsturz am Piz Roseg. Sondern auch weil gute FreundInnen fast wie besessen jede freie Minute in den Bergen verbringen. Woher kommt es, dass eine so unwirtliche Landschaft über so viel Anziehungskraft verfügt? Was erwarten die Menschen von den Bergen, welche Vorstellung haben sie davon, und warum wollen so viele auch nach schlechten Erfahrungen immer wieder hinauf?

Der schottische Bergsteiger Robert Macfarlane hat sich mit der Geschichte dieser Faszination ausgiebig beschäftigt. In seinem Buch «Berge im Kopf» beschreibt er die Bedeutung, die die Berge und ihre Wahrnehmung für Forscher, Philosophen und Wissenschaftler vom späten Mittelalter bis in die Neuzeit hatten. Er schildert, wie Reisende im 17. Jahrhundert angesichts der Berge erstmals die Frage nach dem Ursprung der Welt aufwarfen und die damals gängige Interpretation einer von Gott geschaffenen perfekten Erde in Zweifel zogen. Wie die Beschäftigung mit den Erhebungen («Berge sind der Anfang und das Ende aller Naturlandschaften», schrieb der englische Schriftsteller und Sozialreformer John Ruskin 1856) die Geologie im 19. Jahrhundert zu einer immens populären Wissenschaft werden liess, weil sie erstmals den Blick in eine bis dahin ungeahnte Vergangenheit der Erdgeschichte ermöglichte. Wie die Suche nach dem «Erhabenen» stets «Erzücken bereitet» (Edmund Burke 1757) und die Auseinandersetzung mit der Gefahr «den Charakter» stärkt. So sahen es zumindest die Briten im viktorianischen Zeitalter (und später auch die Nazis). Diese Haltung - so Macfarlane - hat mit dazu beigetragen, dass vor allem die gehobene britische Mittelschicht die Alpen als «Spielplatz Europas» entdeckte.

Diese Faszination fand und findet in allen Bereichen ihren Niederschlag - in der Malerei der Romantik zum Beispiel, die das Individuum glorifizierte und die Höhe so anziehend fand («ein Gipfel war ein Ort, wo man über alles hinausragte - hervorragend sein konnte», Macfarlane S. 180), ebenso wie in der Philosophie und in der Suche nach unbezwungenen Gipfeln im kirgisischen Tienshan-Gebirge heute. Und im Wunsch nach neuen Erfahrungen und dem Risiko, der Auseinandersetzung mit der Gefahr. «Ein herrliches Entsetzen, eine furchtbare Freude» hatte schon 1688 den Reiseschriftsteller John Dennis erfasst, als er die Alpen überquerte. Es seien gerade die Gefahren, «dieser Wechsel von Hoffnung und Furcht, die ständige Erregung, die von diesen Gefühlen im Herzen aufrechterhalten wird», welche die Gämsjäger und mit ihnen die BergsteigerInnen antrieben, hatte 1779 Horace Bénédict de Saussure in seiner Schrift «Voyages dans les Alpes» formuliert.

Dieser Schrift des Genfer Wissenschaftlers Saussure, der 1787 die zweite Besteigung des Montblanc leitete, hat Claude Reichler sogar ein ganzes Kapitel gewidmet - zu Recht. Auch Reichler geht in seinem Buch «Entdeckung einer Landschaft» der Frage nach, wie der Mythos der Alpen entstand, weshalb die Berge und ihre Vorstellung davon ab dem 18. Jahrhundert so schnell populär wurden und welche Rolle Schriftsteller und Maler dabei spielten. Während Macfarlane seine gut geschriebene Schilderung der Kulturgeschichte der Berge mit eigenen (durchaus selbstkritischen) Erfahrungsberichten würzt, begibt sich der Kulturwissenschaftler Reichler zwischendurch auch in die politischen Niederungen. Wie wurde früher das Hirtenleben dargestellt? Welche Rolle spielten die Alpen für den «Geist der Schweiz»? Und warum hat sich Max Frisch so vehement dem nationalistischen Gehalt des Alpenmythos widersetzt?

Selten zuvor sind zwei so exzellente und doch so unterschiedliche Bücher zur gleichen Zeit zum selben Thema erschienen. Und da beide erschwinglich sind, rate ich allen, die sich für Berge interessieren, zum Doppelpack: Sie werden mehr über sich in diesen Büchern entdecken, als die Titel vermuten lassen.

Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Die Geschichte einer Faszination. AS Verlag. Zürich 2005. 320 Seiten. Fr. 29.80

Claude Reichler: Entdeckung einer Landschaft. Reisende, Schriftsteller, Künstler und ihre Alpen. Rotpunktverlag. Zürich 2005. 340 Seiten. 42 Franken