Durch den Monat mit Patricia Purtschert (Teil 4): Was bedeutet Bergsteigen für die Schweiz?

Nr. 38 –

Patricia Purtschert hat sich in ihrer Forschung mit den Bergen als Symbol der patriarchalen und kolonialen Schweiz auseinandergesetzt. Die Freude am Wandern hat ihr das nicht genommen.

«Zum Beispiel hat auch die Schweizer Entwicklungshilfe einen Fokus auf Bergländer: Nepal, Ruanda, Peru, Kirgistan …»: Patricia Purtschert.

WOZ: Frau Purtschert, Sie haben in einem Buch Bergsteigerinnen über siebzig porträtiert, später haben Sie sich den Bergführer als kolonial-männliche Figur vorgenommen. Was interessiert Sie an den Bergen?
Patricia Purtschert: Ich bin in den Voralpen aufgewachsen, am Fuss der Rigi. Der Tourismus war dort sehr präsent, die Berge aber auch einfach unsere Umwelt. Später ging ich eine Zeit lang mit dem SAC bergsteigen und hörte hie und da Geschichten von älteren Frauen. Bergsteigerinnen, die von früher erzählten, als der SAC noch keine Frauen aufnahm, Frauen im Rock klettern mussten oder ihnen am Berg von männlichen Kollegen das Seil durchgeschnitten wurde. Das hat mein Interesse geweckt, ich habe dann systematisch nach diesen Frauen und ihren Geschichten gesucht. In den Gesprächen ist mir aufgefallen, wie viele vom Himalaja sprachen oder von den Anden – wie also das Bergsteigen mit dem Reisen und eben auch mit einem kolonialen Blick verschränkt ist.

Welche Bedeutung haben die Berge für die Schweiz?
Sie sind zuerst einmal einfach Teil der Landschaft. Im späten 19. Jahrhundert wurden sie verstärkt als Bestandteil des nationalen Mythos stilisiert, im Zweiten Weltkrieg insbesondere über den Réduitgedanken – das sind Themen, die von der Geschichtswissenschaft bearbeitet wurden und bekannt sind. Ich wollte mit meiner Forschung darüber hinausgehen.

Wohin?
Ich habe mich gefragt: Berge und Schweiz – ist das nur der Gotthard, oder gibt es da noch eine andere Dimension? In den 1950er Jahren war die Schweiz ganz vorn mit dabei bei den Erstbesteigungen der höchsten Berge der Welt im Himalaja, die Schweizer Expeditionen wurden in den Medien frenetisch abgefeiert. Es gab Bücher, Filme, die Zeitschriften waren voll davon, die Leute liebten das Thema. Mir fiel auf, wie stark der imperiale Gestus dieser Erzählungen war. Obwohl das Ganze zu einer Zeit stattfand, als die Kolonialzeit an vielen Orten zu Ende ging. Das gilt übrigens auch für Grossbritannien, dessen Empire damals zerfiel. Diese Expeditionen und Erstbesteigungen waren für das nationale Selbstverständnis wichtig – und sie sind es bis heute.

Was war die Rolle der Schweiz?
Anfangs waren die Schweizer vor allem als Bergführer, als Gehilfen mit dabei. Sie fingen aber bald an, selber Expeditionen durchzuführen. Fast hätte eine Schweizer Expedition noch vor den Briten den Mount Everest bestiegen – 1952, durch Raymond Lambert und Tenzing Norgay, der ein Jahr später mit Edmund Hillary als Erster auf dem Gipfel stand. Natürlich transportieren diese Expeditionen auch ein Bild von Männlichkeit, das viel mit Kolonialismus zu tun hat: der Entdecker, der Abenteurer, der als Erster in unbekannte Gebiete vorstösst. Das Selbstbild der Schweizer war aber sehr beweglich.

Was heisst das?
Man verstand sich im Zeitalter der Dekolonisierung als Helfer, als Verständige, die besser mit den Einheimischen umgehen konnten als die Kolonialherren. Es wurde quasi eine Verbrüderung unter Bergvölkern inszeniert. Wenn man genauer hinschaut, wird es komplizierter: Natürlich gab es auch bei den Schweizern rassistische Handlungen und koloniales Denken; man hat sich selbst als entwickelt gesehen, die lokalen Einheimischen als rückständig und bedürftig. Die Schweizer Entwicklungshilfe hat übrigens einen Fokus auf Bergländer: Nepal, Ruanda, Peru, Kirgistan … Mit der Argumentation, dass man die gleiche landschaftliche Grundlage habe, den «Anderen» aber den Weg in die Moderne zeigen könne.

Welche Beziehung bestand denn zum Beispiel zwischen Lambert und Norgay?
Sie wurde als grosse Freundschaft, manchmal quasi als Liebesbeziehung inszeniert, auch in den Berichten über die Everest-Expedition. Das Bild dieser Männerfreundschaft war wie ein Modell für die Beziehungen zwischen Nord und Süd, nach Ende der Kolonialzeit – ein Vorbild für die neokoloniale Welt. Die Partnerschaft wurde in den Vordergrund gestellt, aber das Machtgefälle blieb bestehen.

Die Schweiz als Vorbild für die neokoloniale Welt? Können Sie das ausführen?
Die Schweiz betreibt seit Jahrhunderten einen Kolonialismus ohne Kolonien. Schweizer Handelshäuser und Firmen haben auf diese Weise viel Geld gemacht. Damit war und ist die Schweiz ein Modell für andere westliche Staaten nach der Dekolonisierung: kein aufwendiges Kolonialsystem mehr aufbauen, aber eine asymmetrische Weltordnung sicherstellen und davon profitieren. Es ist ein sehr flexibles Modell, das deshalb im heutigen Neoliberalismus gut funktioniert.

Hat Ihnen all das nicht irgendwann die Freude an den Bergen verdorben?
Nein. Aber meine Beschäftigung mit der kolonialen und patriarchalen Geschichte des Bergsteigens macht es schwierig, darüber zu reden, dass ich die Berge schön finde. Diese abgegriffenen Diskurse kommen einer so schnell in die Quere. Wie über Bergtouren reden, ohne die Sprache des Eroberns und Bezwingens zu bedienen? Eigentlich müsste dafür eine ganz andere Sprache erfunden werden.

Patricia Purtschert ist Kulturwissenschaftlerin. Sie plant, mit ihrer Tochter durch die Greinaebene zu wandern.