Durch den Monat mit Jacqueline Revaz Frey (Teil 3): Was wollen Sie zurückerobern?

Nr. 21 –

Nach dem Abstimmungserfolg: Hausärztin Jacqueline Revaz Frey über den Kampf um höhere Labortarife, mehr Zeit für PatientInnengespräche und die Aufwertung der Praxisassistenz.

Jacqueline Revaz: «Jeder Medizinstudent sollte Praktika bei einem Hausarzt machen.»

WOZ: Jacqueline Revaz, was sagen Sie zum positiven Abstimmungsergebnis zur Stärkung der medizinischen Grundversorgung?
Jacqueline Revaz: 88 Prozent Ja-Stimmen, das ist weit mehr, als ich erwartet habe. Ich sehe das als einen Beweis des Vertrauens in die Hausarztmedizin. Entscheidend aber wird sein, wie der Masterplan «Hausarztmedizin und medizinische Grundversorgung» umgesetzt wird, den Bundesrat Alain Berset 2012 lanciert hat.

Hat dieser Plan schon etwas bewirkt?
Bereits eingeführt ist die Erhöhung der Labortarife in den Hausarztpraxen. Die Tarifsenkungen, die Bersets Vorgänger Pascal Couchepin durchgesetzt hatte, waren ja der eigentliche Auslöser, dass wir Hausärztinnen und Hausärzte im April 2006 auf die Barrikaden gingen. Couchepin wollte unsere Tarife jenen in Grosslabors anpassen, um vordergründig die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Für uns Hausärzte aber ist das Labor elementar: Viele für die Patienten existenzielle medizinische Fragen kann ich dort innert kürzester Zeit beurteilen. Umso erfreulicher, dass mit dem Masterplan nun 33 Laboranalysen als Bestandteil der Grundversorgung anerkannt werden. Hinzu kommen 200 Millionen Franken, die uns pro Jahr versprochen werden. Die medizinische Grundversorgung wird also gegenüber dem Spezialistentum aufgewertet – unter Bewahrung der Kostenneutralität.

Was heisst das konkret?
Geplant ist die Schaffung einer neuen Tarifposition für die Haus- und Kinderärzte innerhalb des medizinischen Tarifwesens Tarmed. Unsere Arbeit und vor allem auch das persönliche Gespräch mit dem Patienten werden dadurch aufgewertet. Es ist ja nicht so, dass es in der Hausarztpraxis um rein somatische Fälle geht. Heute morgen zum Beispiel suchte mich eine Patientin wegen eines Drucks auf der Brust auf. Da braucht es Zeit, um herauszufinden, ob das eher die Seele ist, die drückt, oder ob es sich um etwas rein Organisches handelt. Dieser Teil der Arbeit, das psychosoziale Gespräch, wird oft unterschätzt – auch in der Ausbildung.

Die Aufwertung der Aus- und Weiterbildung ist ein weiterer Punkt im Masterplan.
Im Medizinalberufsgesetz wurden inzwischen die Aus- und Weiterbildungsziele für die medizinische Grundversorgung und die Hausarztmedizin aufgenommen. Ein besonders wichtiger Punkt ist in meinen Augen, dass das medizinische Grundstudium weiterhin sechs Jahre umfasst und die Weichen nicht etwa schon nach dem Bachelor in Richtung Spezialisierung gestellt werden. Relevant ist auch, dass jeder Medizinstudent Praktika bei einem Hausarzt machen muss, auch wenn er sich später anderweitig spezialisiert. Nur so sieht er, was an der Basis läuft. Dieser Austausch mit den Studenten ist auch für uns Hausärzte eine grosse Bereicherung.

Und wie steht es mit Assistenzstellen in den Hausarztpraxen?
Seit einigen Jahren ist ein Teil der Weiterbildung auch in der Hausarztpraxis möglich. Der Kanton Bern hat im Jahr 2007 das Programm Praxisassistenz lanciert. Aktuell verfügen wir über 21 Praxisassistenzstellen pro Jahr, die vom Kanton unterstützt werden. Die Studenten sollen sich in der fünfjährigen Assistenzzeit aber auch in verschiedenen Disziplinen einarbeiten können, die ihnen besonders am Herzen liegen. Eine derartige Vielfalt in der Weiterbildung ist auch für angehende Hausärzte elementar.

Haben Sie dazu ein aktuelles Beispiel?
In der Schweiz mangelt es derzeit an Dermatologen. Da ist es doch sinnvoll, wenn sich eine angehende Hausärztin in der Dermatologie weiterbilden kann, damit sie auch als Hausärztin ein Melanom richtig einzuschätzen weiss. Ich jedenfalls würde nicht mehr Hausärztin sein wollen, wenn ich nur noch am Pult sässe und die Patienten immer gleich zum Spezialisten schicken müsste. Je mehr ein Hausarzt selber diagnostizieren kann, desto schneller kann gehandelt werden. Das ist ganz im Sinn der Prävention. Es geht darum, dass wir die einstige Breite der Hausarztmedizin zurückerobern.

Zurückerobern?
Mit der Einführung von einheitlichen Tarifen, dem sogenannten Tarmed, vor zehn Jahren wurde diese Breite in Frage gestellt. Es wurde mit dem Begriff der «Dignität» argumentiert. Ein blödes Wort, das besagen soll, was ein Hausarzt aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung machen kann und was nicht. So wurde immer mehr den Spezialisten überlassen. Bei uns älteren Hausärzten wirkte sich das weniger dramatisch aus, da wir in vielen Bereichen eine langjährige Erfahrung vorweisen konnten. Jüngere Hausärztinnen hingegen durften bestimmte Untersuchungen nicht mehr verrechnen.

Was bringt da der neue Verfassungsartikel?
Er verankert die Wichtigkeit und Vielseitigkeit der Hausarztmedizin in der Verfassung und hat auch eine Debatte in der Gesellschaft darüber ausgelöst. Und schliesslich sichert der Verfassungsartikel auch die Umsetzung des Masterplans.

Jacqueline Revaz Frey (57) führt mit ihrem 
Mann Bruno Frey-Revaz seit 25 Jahren 
eine Hausarztpraxis in Dotzigen, einem kleinen 
Dorf im Seeland bei Biel. Als Vorstandsmitglied der Berner Hausärzte freut sie sich darüber, 
dass die Stärkung der medizinischen Grundversorgung in der Abstimmung vom 
18. Mai angenommen wurde.