Narrative Medizin: Erzählen macht gesund

Nr. 48 –

An Schweizer Universitäten schult man angehende ÄrztInnen verstärkt in kommunikativer Kompetenz. Gleichzeitig gerät das Arzt-Patient-Gespräch im medizinischen Alltag zunehmend unter Druck.

Kennen Sie Dr. House? Seine Art, mit PatientInnen umzugehen, gereicht dem ärztlichen Berufsstand nicht zur Ehre. Interessiert den TV-Serienarzt doch einzig die Diagnose und Behandlung medizinisch vertrackter Probleme. Der Mensch ist für ihn kaum mehr als lästiges Beigemüse.

Gegen dieses ÄrztInnenbild, das offensichtlich gewisse Ähnlichkeiten mit der Realität hat, formiert sich in den USA seit einigen Jahren Widerstand. Sein Zentrum liegt in New York, genauer: an der Columbia Universität. Verkörpert ist er in der Person von Rita Charon. Die Internistin und Literaturwissenschaftlerin kämpft darum, den Menschen zurück ins Zentrum der Medizin zu rücken. Das tut sie mit einer unorthodoxen Methode: der narrativen Medizin. Studierende und ÄrztInnen lesen klassische Literatur, eignen sich das analytische Werkzeug von SprachwissenschaftlerInnen an und verfassen eigene literarische Texte über Begegnungen in ihrem medizinischen Alltag. Denn Rita Charon ist überzeugt: «Die Diagnose verbirgt sich in den Geschichten, die PatientInnen über ihre Symptome erzählen. Erst wenn man diesen Krankheitsgeschichten zuhört, gelangt man zu einem vertieften und therapeutisch folgerichtigen Verständnis von PatientInnen und ihren Symptomen.»*

HausärztInnen in der Pionierrolle

Eine Erkenntnis, die offenbar mit den Möglichkeiten der High-Tech-Medizin zunehmend aus dem Blickfeld geraten ist. Neu ist sie nämlich nicht. In der Schweiz zumindest besitzt das Arzt-Patient-Gespräch traditionellerweise einen hohen Stellenwert - insbesondere in der Hausarztmedizin. Das betont auch Bruno Kissling, Chefredaktor der HausärztInnen-Zeitschrift «Primary Care» und seit 25 Jahren Hausarzt in Bern: «Das Gespräch ist absolut zentral. Es entscheidet, ob eine Krankheit chronisch verläuft oder ob sie eine Heilung findet.» Dieser Bedeutung wird in der Ausbildung heute vermehrt Rechnung getragen. Davon zeugt auch die aktuelle Studienreform in der Medizin. Mit ihr erfährt die Hausarztmedizin eine deutliche Aufwertung: Denn eine Gesellschaft mit immer mehr älteren Menschen benötigt dringend gesprächskompetente AllgemeinpraktikerInnen, welche chronisch Kranke umfassend unterstützen und begleiten können.

Dass dies ein menschlich wertvoller Prozess für beide Seiten ist, wird im Gespräch mit Kissling rasch deutlich. Er schildert, wie er wenige Stunden zuvor einen langjährigen Patienten in den Tod begleitet hat: «Ich habe eine gemeinsame Geschichte mit diesem Patienten, die über zwanzig Jahre geht. Bereits als er noch gesund war, haben wir über Krankheit und Tod philosophiert. Dann wurde er krank, wir besprachen mögliche Lösungswege, er wurde zunehmend schwach, hat immer weniger gesprochen. Wir waren einfach miteinander da, und am Schluss waren gar keine Worte mehr nötig. Das Vertrauen zwischen uns, der Familie und den Pflegenden hat einen völlig unaufgeregten Übergang zum Sterben ermöglicht.»

Schwierige Gesprächssituationen prägen den medizinischen Alltag nur allzu oft - nicht nur in der Allgemeinpraxis, sondern auch in hochspezialisierten klinischen Bereichen. Wie überbringt ein Neurochirurg die Nachricht, dass der Tumor nur teilweise hat entfernt werden können? Wie vermittelt eine Kardiologin komplexe Informationen zu einem Herzfehler? Jede fünfte Anfrage bei der Schweizerischen Patienten-Organisation (SPO) betrifft Komplikationen nach einem operativen Eingriff. In den allermeisten Fällen stellt sich dann heraus, dass das Gespräch über Risiken nicht klar genug gewesen ist. Auch die Resultate einer breit angelegten Befragung am Universitätsspital Basel belegen: PatientInnen bemängeln nicht die technisch-apparative Kompetenz von ÄrztInnen, sondern deren kommunikative Kompetenz.

Bald verständnisvollere ÄrztInnen?

Im Zug der aktuellen Studienreform in der Schweiz werden die Fähigkeiten zur Gesprächsführung bereits in der medizinischen Grundausbildung verstärkt gefördert - sowohl quantitativ als auch qualitativ. Am weitesten fortgeschritten ist das Basler Ausbildungsmodell, für dessen Entwicklung sich der Internist Wolf Langewitz in den vergangenen zehn Jahren eingesetzt hat. Er schult die angehenden Ärztinnen und Ärzte über den gesamten Studiengang hinweg im Auf- und Ausbau ihrer kommunikativen Kompetenzen - ganz konkret und praxisnah. Das Staatsexamen besteht nur, wer sich fähig zeigt, im Rahmen eines zehnminütigen Gesprächs die subjektive Welt eines Patienten zu erschliessen und adäquat damit umzugehen.

Eine solch intensive Förderung ärztlicher Gesprächskompetenz ist im gesamten deutschsprachigen Raum einzigartig, wie Langewitz stolz betont. Auch unterscheidet sie sich grundsätzlich von der medizinischen Ausbildung in den USA, wo die Gesprächsführung mit PatientInnen nur im vorklinischen Teil des Studiengangs thematisiert wird. Wollen Fachärzte ihre kommunikativen Kompetenzen verbessern, steht ihnen - gemeinsam mit Pflegenden und GeisteswissenschaftlerInnen - an der Columbia-Universität neu ein eigenständiger Master-Studiengang in narrativer Medizin offen.

So sehr Langewitz die wachsende Anerkennung der narrativen Medizin begrüsst - er bezweifelt, dass diese Trennung von der soliden Ausbildung in professionellem Helfen klug ist. Gleichzeitig betont er, dass auch das Basler Modell erst eine Vorreiterfunktion entwickeln kann, wenn es gelingt, die Schulung kommunikativer Kompetenzen als integrativen Bestandteil der Ausbildung in den Strukturen der medizinischen Fakultäten zu verankern. Und um die konkrete, praktische Bedeutung des Arzt-Patient-Gesprächs zu belegen, fehlen ihm schlicht die notwendigen Daten. Forschung, welche diese liefern könnte, bekommt er aber kaum finanziert. «Da beisst sich die Katze in den Schwanz.»

Auf die Minute genau

Der zunehmende Spardruck in der Medizin bedrängt das Arzt-Patient-Gespräch zusätzlich. Eine konkrete Gefahr besteht in der Ökonomisierung der Medizin: Alle medizinischen Leistungen werden nur noch unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet. In Privatkliniken in der Schweiz existieren bereits erste Anzeichen dafür, dass man ÄrztInnen und Pflegepersonen vorschreiben will, wie viele Minuten sie überhaupt noch mit PatientInnen sprechen dürfen. Auch das Tarmed-System, welches sämtliche ärztlichen Leistungen bewertet, funktioniert nach einer ähnlichen Logik - sehr zum Ärger von AllgemeinpraktikerInnen, wie Bruno Kissling deutlich macht: «Unsere Leistungen, die wir als Hausärzte erbringen, sind immer auf dem niedersten Niveau angesiedelt. Und da das Gespräch so zentral ist - analog eigentlich zu einer Operation - sollte es auch tarifarisch besser bewertet werden.» Ursprünglich ist dies den HausärztInnen versprochen, später dann aber nicht eingehalten worden. «Heute sind praktisch alle Möglichkeiten blockiert, dies noch zu ändern.»

Dabei kann ein kompetent geführtes Gespräch mit PatientInnen durchaus zu einer effizienteren Behandlung und längerfristig sogar zu einer Kosteneinsparung beitragen. Und das nicht zuletzt, weil sich die PatientInnen ernst genommen fühlen, Behandlungsformen entsprechend akzeptieren und besser in ihren Lebensalltag integrieren können: Sie schlucken ihre Medizin regelmässig zu den vereinbarten Zeiten - ja sie sind sogar bereit, ihr ungesundes Verhalten zu ändern. Denn die Arzt-Patient-Beziehung, die sich im Gespräch entwickelt, ist eine partnerschaftliche; ein «Expertentreffen», wie Bruno Kissling sie bezeichnet: «Der Patient ist Experte seines Leidens, seiner Befürchtungen; der Arzt ist Experte des medizinischen Wissens, der Statistiken, aber auch seiner eigenen Betroffenheit. Und daraus formen sie im Gespräch eine gemeinsame Geschichte.»

Eigentlich ist der in TV-Serien nach wie vor gefeierte «Halbgott in Weiss» längst ein Auslaufmodell. Dr. House mag ein fachlich brillanter Arzt sein - ein menschlich versierter Hausarzt ist er nicht, auch wenn sein Name dies nahelegt.




* Rita Charon: «Narrative and Medicine» in: «New England Journal of Medicine» 350:9, Februar 2004, Seite 862.

Was macht ein gutes Gespräch aus?

Das Gespräch beginnt damit, dass die Ärztin einen Patienten zum Erzählen ermuntert: Er soll seine Beschwerden und Ängste in eine Geschichte fassen. Sie gibt der Ärztin Gelegenheit, darauf zu achten, wie der Patient erzählt. Wo beginnt er seine Geschichte, wie verknüpft er seine Beschwerden mit andern Begebenheiten aus seinem Leben, welche Bilder und Metaphern verwendet er? Gleichzeitig muss die Ärztin auch fähig sein, die Art, wie der Patient spricht, und die Gestik und Mimik, die er dabei verwendet, richtig zu deuten. Mit Zwischenfragen hält sie den Erzählfluss so lange aufrecht, bis es ihr gelungen ist, sich die Erlebens- und Vorstellungswelt des Patienten zu erschliessen.

Parallel dazu entwickelt die Ärztin, basierend auf ihrem medizinischen Wissen, ihre eigenen Vorstellungen zu den geäusserten Symptomen und möglichen Krankheiten, die sich dahinter verbergen. Ziel des Gesprächs ist, diese beiden Vorstellungswelten zusammenzubringen - und zwar sowohl für die Ärztin wie den Patienten. Für die Ärztin gilt es, die Diagnose aus den Lebensumständen des Patienten zu erkennen und die Therapie entsprechend darin zu verorten. Und dem Patienten gelingt es so, die Diagnose nicht nur zu verstehen, sondern die daran anknüpfende Therapie auch zu einem Teil seines Lebens zu machen.

Denn: Aus der Geschichte des Patienten lassen sich für die Ärztin auch die Ressourcen erschliessen, welche der Patient zur Bewältigung seiner Krankheit besitzt. Im gemeinsamen Gespräch kann sie ihm so Handlungsspielräume und Zukunftsperspektiven eröffnen. Das Gespräch erhält damit bereits eine an sich therapeutische Qualität: Es wird zum Teil des Bewältigungsprozesses der Krankheit.