Palästina: Moment der Wahrheit

Nr. 15 –

Kein westliches Geld mehr für die Hamas-Regierung, alle Kontakte abgebrochen - gibt es eine Zukunft mit Hamas? Und gibt es eine ohne?

Gestern war es das erste Mal: Ich ging von Ramallah nach Jerusalem - und überquerte beim Checkpoint Kalandia die von Israel soeben offiziell deklarierte «internationale Grenze». Ramallah ist nur zehn Kilometer von Jerusalem entfernt, und auf beiden Seiten von Kalandia gibt es palästinensische Städte und Dörfer. Der Checkpoint liegt ganz am Anfang der Mauer. Die Mauer, soweit sie heute steht, trennt Israel von Nicht-Israel («Palästina» gibt es ja sowieso nicht). Wer nun von einem palästinensischen Dorf in ein anderes gehen will, das auf der gleichen Seite der Mauer liegt - auf der Seite, die einmal «Palästina» sein soll -, muss den Checkpoint nicht mehr passieren. Darüber freuen sich alle. Jetzt kann man von Ramallah wieder ins fünf Minuten entfernte ar-Ram gelangen, ohne bei Kalandia stundenlang warten zu müssen.

Aber wer nach Jerusalem oder in eine andere palästinensische Gemeinde auf der anderen Seite der Mauer will, wo künftig alles Israel sein soll, muss - mit dem richtigen Ausweis - durch den Checkpoint. Meine Ehefrau und meine Tochter sind Jerusalemerinnen, und sie besitzen israelische Ausweise. Ich selber habe eine besondere Bewilligung; ich darf mich von fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends in Jerusalem aufhalten. Wir sind also eine glückliche Familie. Zumindest dachten wir das, bis wir merkten, dass wir nicht zusammen nach Jerusalem gehen können. Ein Soldat am Checkpoint sagte mir am Durchgang, dass dieser nur für Israelis sei und ich mich an einem anderen Ort anstellen müsse - in die lange Schlange für PalästinenserInnen mit besonderen Bewilligungen. «Aber wir sind doch eine Familie und haben alle nötigen Ausweise?», sagte ich. «Tut mir Leid», antwortete der Soldat, «aber ich habe die Mauer nicht gebaut.» So entledigte er sich im Nu seiner Schuld, eine Familie zu trennen. Es war hart, das Gesicht meiner fünfjährigen Tochter zu sehen. Wie sollte ich ihr das erklären? Doch sie schockierte mich noch mehr, denn sie sagte: «Das ist so, Papa, wir können nicht zusammen gehen, weil wir keine Juden sind.»

Dies also eine Momentaufnahme aus dem Leben eines gewöhnlichen Palästinensers. Beziehungsweise gar nicht so gewöhnlich, denn ich kann von zu Hause aus arbeiten und muss nicht an einen Arbeitsplatz gelangen. Ich bin kein Bauer in Kalkilia oder Tulkarem, der an einem elektrischen Tor vier, fünf Stunden warten muss, um in seine Olivenhaine auf der anderen Seite der Mauer zu kommen. Begleitet werden darf er nur von Verwandten ersten Grades, also nur von Ehefrau, Tochter und Sohn. Arbeiter darf er keine mitnehmen.

Aus dieser Perspektive sehen die meisten PalästinenserInnen die koordinierten US-amerikanisch-europäischen Bemühungen, die neue palästinensische Hamas-Regierung zu isolieren und zu entmachten. «Schau, was sie die Israelis machen lassen», sagen die Leute. «Wenn die Europäer und die Amerikaner nur ein bisschen von diesem Druck auch gegen Israel anwenden würden, wäre alles anders. Die Mauer wurde unter ihrer Nase gebaut, ohne dass sie etwas dagegen sagten.» Die ganze Welt verlange von Hamas, dass sie Israels Recht anerkenne, in Palästina zu existieren. Doch was ist mit dem Recht der PalästinenserInnen, in Palästina zu existieren? Was ist mit den palästinensischen Menschenrechten? So denken die meisten Menschen hier.

Die westliche Hilfe an Palästina, die nun gestrichen wird, entstand nach den palästinensisch-israelischen Autonomieabkommen von Oslo 1993/95. Diese Hilfsgelder sollten einen Status quo erhalten, eine Struktur, die den palästinensischen Kampf und das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit ersetzen sollte. Die westliche Hilfe gilt nicht einfach den PalästinenserInnen. Der Westen hilft, solange diese sich den westlichen Erwartungen entsprechend verhalten.

Nun ist der Moment der Wahrheit gekommen. Wird Palästina den Stopp der US-amerikanischen-europäischen Hilfe überleben? Das hängt davon ab, was mit Palästina gemeint ist: die Gesellschaft oder die politische Struktur. Sollte die westliche Hilfe wirklich dazu dienen, dass sich die Gesellschaft zu einer Demokratie entwickelt? Das scheint nicht der Fall, denn Hamas wurde demokratisch von einer Mehrheit gewählt - und nun werden die Gelder gestrichen. Konnte die westliche Hilfe die politische Struktur erhalten, die sie geschaffen hat? Auch das scheint nicht der Fall. Auch für Hamas ist der Moment der Wahrheit gekommen. Nun ist sie mit den wirklichen Mächten in der Region konfrontiert. Jetzt wird Hamas merken, dass all die verbale patriotische Unterstützung, die sie vom saudischen König und dem ägyptischen Präsidenten vernimmt, sich nicht in einen einzigen Dollar verwandeln wird. Kein arabischer Führer kann Hamas ohne westliches Einverständnis unterstützen. Hamas kann die 110 Millionen US-Dollar für die März-Löhne der rund 140 000 Angestellten der Autonomiebehörden nicht bezahlen. Von den 80 Millionen Dollar, die von kuweitischen, saudischen, ägyptischen, jordanischen Offiziellen und aus den Emiraten versprochen wurden, ist noch kein einziger Cent angekommen. Und keinesfalls wird zugelassen, dass die geringste Hilfe aus dem Iran den Gasastreifen erreicht. Denn iranische Hilfe ist ein regionales Tabu, das zuallererst von den arabischen Regimen selbst errichtet wurde, die den Iran als Bedrohung sehen. Wie also kann Hamas überleben?

Hamas hat viel riskiert, indem sie die Regierung einer Behörde stellt, die sie vorher ablehnte. Nun muss sie nicht mehr für die Familien von «MärtyrerInnen» und Gefangenen sorgen, sondern darauf reagieren, dass es wegen der israelischen Blockaden kein Gas und Brot mehr hat. Und dass etwa die Hälfte der PalästinenserInnen in Armut leben. Dass die Arbeitslosigkeit bei dreissig Prozent liegt. Hamas muss nun für Sicherheit sorgen und mit israelischen Angriffen klarkommen.

Alle wissen, dass diese Regierung nicht überleben wird. Es ist eine Frage von Wochen, im schlimmsten Fall von Monaten. Was vor uns liegt, lässt sich noch nicht absehen - doch auf jeden Fall nichts Gutes. Hamas kann uns nichts bieten, weder als Regierung noch als Opposition. Israel bietet uns auch nichts Gutes, unabhängig davon, wer dort schliesslich regieren wird. Die USA könnten uns eine Zukunft bieten, doch sie weigern sich, das zu tun. Europa könnte es auch - aber nur, wenn die europäische Hilfe nicht dazu dienen soll, die israelische Besetzung zu vertuschen. Sondern wenn es darum geht, die PalästinenserInnen auf dem Weg zu einer freien und unabhängigen Nation zu unterstützen.


Der palästinensische Filmemacher Subhi al-Zobaidi lebt in Ramallah und berichtet regelmässig für die WOZ.